BGE 130 V 369
 
53. Urteil i.S. K. gegen Pensionskasse X. und Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
 
B 106/02 vom 24. Juni 2004
 
Regeste
Art. 26 Abs. 3 Satz 1 und Art. 49 Abs. 1 BVG: Ablösung von Invaliden- durch Altersleistungen.
 
Sachverhalt
A. Die 1939 geborene K. bezog von der Pensionskasse X. eine Invalidenrente, welche sich vor Erreichen der Altersgrenze im Jahre 2001 auf jährlich Fr. 17'209.- (gemäss Vertrag 10035, wobei Fr. 7968.- auf die obligatorische und Fr. 9241.- auf die weitergehende berufliche Vorsorge entfielen) bzw. Fr. 17'280.- (weitergehende berufliche Vorsorge gemäss Vertrag 20035) belief. Im Hinblick auf die Pensionierung teilte ihr die Vorsorgeeinrichtung mit Schreiben vom 19. November 2001 mit, dass ihr gestützt auf den Vertrag 20035 eine Kapitalauszahlung in der Höhe von Fr. 68'522.- und gestützt auf den Vertrag 10035 eine jährliche Altersrente von Fr. 9943.- ausgerichtet würden. Daran hielt sie auch fest, als die Versicherte mit Schreiben vom 10. Januar 2002 erklärte, hiermit nicht einverstanden zu sein (Schreiben der Pensionskasse vom 16. Januar 2002).
B. K. erhob Klage mit dem Rechtsbegehren, die Pensionskasse sei zu verpflichten, die gestützt auf die Verträge 10035 bzw. 20035 bisher geleisteten Invalidenrenten betraglich unverändert auch über die Altersgrenze hinaus auszurichten. Im Weitern seien die nachzuzahlenden Rentenbeträge ab Klageeinreichung mit 5 % zu verzinsen. Mit Entscheid vom 28. August 2002 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau die Klage ab.
C. In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt K. das im kantonalen Verfahren gestellte Rechtsbegehren erneuern.
Während die Pensionskasse auf Abweisung des Rechtsmittels schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
Erwägung 2
2.1 Für den obligatorischen Bereich der beruflichen Vorsorge sieht Art. 26 Abs. 3 Satz 1 BVG vor, dass der Anspruch auf Invalidenleistungen mit dem Tode des Anspruchsberechtigten oder mit dem Wegfall der Invalidität erlischt. Im Gegensatz zur Rente der Invalidenversicherung ist demnach die BVG-Invalidenrente eine Leistung auf Lebenszeit; sie wird nicht durch die BVG-Altersrente abgelöst, wenn der Bezüger das gesetzliche Rücktrittsalter (Art. 13 Abs. 1 BVG) erreicht (BGE 118 V 100; vgl. auch BGE 123 V 123 Erw. 3a; Urteile B. vom 23. März 2001, B 2/00, und M. vom 14. März 2001, B 69/99; JÜRG BRÜHWILER, Obligatorische berufliche Vorsorge, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Rz 91; ERICH PETER, Die Koordination von Invalidenrenten: unter besonderer Berücksichtigung der intersystemischen Problematik, Zürich 1997, S. 147). Hingegen kann reglementarisch vorgesehen werden, dass die Invalidenrente bei Erreichen des Rücktrittsalters in eine Altersrente überführt wird. In diesem Falle muss die sie ablösende Altersrente mindestens der bisherigen Invalidenleistung entsprechen, d.h. gleichwertig sein (Urteil B. vom 23. März 2001, B 2/00, Erw. 2b).
2.2 Den Grundsatz, dass die Invalidenrente lebenslänglich ausgerichtet wird beziehungsweise die Altersrente mindestens gleich hoch wie die bis zur Pensionierung gewährte Invalidenrente sein muss, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in BGE 127 V 259 auf den weitergehenden Bereich der beruflichen Vorsorge ausgedehnt. Dabei führte es zur Begründung an, dass die Ablösung der Invalidenrente durch eine niedrigere Altersrente dem Verständnis, das der Gesetzgeber vom System der beruflichen Vorsorge habe, widerspräche. Zum einen liesse sie sich nicht vereinbaren mit dem im Bereich der beruflichen Vorsorge allgemein geltenden Grundsatz, dass die versicherte Person bei Erreichen des Rentenalters ihre gewohnte Lebenshaltung solle fortsetzen können. Zum andern sei die Verminderung der Altersvorsorge auf die Invalidität selbst zurückzuführen, welche die weitere Finanzierung der Altersvorsorge verhindert habe, so dass es sich um eine Altersrente handelte, für welche die versicherte Person wegen ihrer Invalidität nicht in demselben Masse habe Beiträge entrichten können wie die anderen Versicherten, die bis zum Erreichen des Rentenalters gearbeitet hätten.
Gemäss den reglementarischen Bestimmungen zum Vertrag 10035 wird die Altersrente im Rücktrittsalter fällig und dem Versicherten lebenslänglich ausbezahlt (Art. 18.1). Hat der Versicherte im Rücktrittsalter Anspruch auf eine Voll- oder Teilinvalidenrente, die höher ist als die entsprechende Altersrente, wird letztere um die Differenz zwischen den beiden Renten oder Rententeilen angehoben (Besitzstandswahrung), wobei der das gesetzliche Minimum übersteigende Teil der Invalidenrente dabei unberücksichtigt bleibt; vorbehalten bleibt Art. 17 (allfällige Kürzung der Leistungen) (Art. 18.4).
Im Reglement zum Vertrag 20035 ist vorgesehen, dass die Pensionskasse bei Erreichen des Rücktrittsalters (unter anderem beim Plan B, welcher für die vorliegend am Recht stehende Versicherte gilt) das Alterskapital erbringt (Art. 14). Dieses wird fällig im Rücktrittsalter (Art. 9.2), sofern der Versicherte dieses erlebt (Art. 16.1). Seine Höhe ist abhängig vom Alter des Versicherten bei Beginn bzw. Änderung der Versicherung, vom gewählten Plan sowie von der Höhe des jeweils versicherten Jahreslohnes, allfälligen Einmaleinlagen und/oder Freizügigkeitsleistungen und der jeweiligen Verzinsung (Art. 16.2 Satz 1).
 
Erwägung 4
 
Erwägung 5
5.1 Sprechen keine entscheidenden Gründe zu Gunsten einer Praxisänderung, ist die bisherige Praxis beizubehalten. Gegenüber dem Postulat der Rechtssicherheit lässt sich eine Praxisänderung grundsätzlich nur begründen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen entspricht. Nach der Rechtsprechung ist eine bisherige Praxis zu ändern, wenn sie als unrichtig erkannt oder wenn deren Verschärfung wegen veränderter Verhältnisse oder zufolge zunehmender Missbräuche für zweckmässig gehalten wird (BGE 127 V 273 Erw. 4a, BGE 124 V 355 Erw. 3a, BGE 126 V 40 Erw. 5a; zu Art. 4 Abs. 1 aBV ergangene, weiterhin geltende Rechtsprechung: BGE 125 I 471 Erw. 4a, BGE 124 V 124 Erw. 6a, BGE 124 V 387 Erw. 4c, je mit Hinweisen).
5.2 Da sich im vorliegenden Zusammenhang seit Fällung des in BGE 127 V 259 veröffentlichten Urteils vom 24. Juli 2001 weder die äusseren Verhältnisse verändert noch die allgemeinen Rechtsanschauungen gewandelt haben, ist fraglich und zu prüfen, ob es besserer Erkenntnis der ratio legis entspricht, es den Vorsorgeeinrichtungen zu überlassen, in ihren Reglementen zu bestimmen, ob (und gegebenenfalls in welchem Umfang) sie im weitergehenden Bereich eine Invalidenrente über die Altersgrenze hinaus ausrichten bzw. Altersleistungen erbringen, die geringer als die vor Erreichen des Pensionierungsalters ausgerichtete Invalidenrente sind.
 
Erwägung 6
Gemäss Art. 113 Abs. 1 BV erlässt der Bund Vorschriften über die berufliche Vorsorge. Er beachtet dabei gemäss Abs. 2 folgende Grundsätze: Die berufliche Vorsorge ermöglicht zusammen mit der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise (lit. a); die berufliche Vorsorge ist für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer obligatorisch (lit. b erster Halbsatz).
Die Bestimmung des Art. 113 BV - welche Art. 34quater Abs. 3 der bis 31. Dezember 1999 geltenden Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 entspricht - verleiht dem Bund in Abs. 1 eine konkurrierende, nicht auf den Erlass von Grundsätzen beschränkte, umfassende Gesetzgebungskompetenz für den Bereich der beruflichen Vorsorge. Welche Grundsätze der Bundesgesetzgeber bei der Ausgestaltung der beruflichen Vorsorge zu beachten hat, wird in Abs. 2 festgelegt, indem die Tragweite der Gesetzgebungskompetenz nach Abs. 1 verdeutlicht wird und dem Gesetzgeber gewisse Vorgaben - unter anderem betreffend das Leistungsziel - gemacht werden (vgl. dazu LUZIUS MADER, in: EHRENZELLER/MASTRONARDI/SCHWEIZER/ VALLENDER [Hrsg.], Die Schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, St. Gallen 2002, Rz 2 ff. zu Art. 113; MEYER-BLASER, Einwirkungen der neuen Bundesverfassung auf das schweizerische Sozialrecht, in: Neue Bundesverfassung, Zürich 2002, S. 123; RENÉ RHINOW, Die Bundesverfassung 2000, eine Einführung, Basel 2000, S. 348 ff.; ERWIN MURER, Wohnen, Arbeit, Soziale Sicherheit und Gesundheit, in: THÜRER/AUBERT/MÜLLER [Hrsg.], Verfassungsrecht der Schweiz, Zürich 2001, S. 975; HANS PETER TSCHUDI, Die neue Bundesverfassung als Grundlage des Sozialversicherungsrechts, in: SZS 2001 S. 67 f.; PIERRE-YVES GREBER, in: JEAN-FRANÇOIS AUBERT et al. [Hrsg.], Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874, Basel 1987-1996, N 84 ff. zu Art. 34quater aBV). Dabei geht das in Art. 113 Abs. 2 lit. a BV festgeschriebene Leistungsziel der beruflichen Vorsorge - die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise - von einer vollständigen Beitrags- bzw. Versicherungsdauer in der ersten und der zweiten Säule aus (vgl. auch HERMANN WALSER, Ein Urteil mit Folgen für die Vorsorgepläne der beruflichen Vorsorge: Kommentar zum Urteil des EVG vom 24. Juli 2001, veröffentlicht in BGE 127 V 259 ff., in: SZS 2002 S. 165 unten f.).
In BGE 127 V 259 wurde die in Art. 113 Abs. 2 lit. a BV verankerte Zielsetzung der beruflichen Vorsorge nicht etwa im Rahmen der Auslegung berücksichtigt (so beispielsweise BGE 126 V 475 Erw. 6c, ATF 108 V 239 Erw. 4), sondern als Grundlage für die Bejahung eines Leistungsanspruchs im Bereich der weitergehenden Vorsorge herangezogen. Dies geht schon deshalb nicht an, weil diese Verfassungsbestimmung einen blossen Auftrag an den Gesetzgeber beinhaltet, so dass daraus kein konkreter, klagbarer Leistungsanspruch auf eine Vorsorgeleistung abgeleitet werden kann (MOSER/STAUFFER/ VETTER, Das Urteil des EVG Nr. B 48/98 vom 24. Juli 2001 - Desaster oder einmalige "Entgleisung"?, in: AJP 2001 S. 1377 f.; JACQUES-ANDRÉ SCHNEIDER, ATF 127 V 259 : La fin du système de la biprimauté des prestations dans la prévoyance professionnelle?, in: SZS 2002 S. 208 ff.; HANS-ULRICH STAUFFER, Lebenslängliche Invalidenrente, Altersrentenkoordination und Zuständigkeitsbestimmung - schöpferische Rechtsprechung oder systemwidrige Eingriffe des EVG?, in: SCHAFFHAUSER/SCHLAURI [Hrsg.], Sozialversicherungsrechtstagung 2002, St. Gallen 2002, S. 54; WALSER, a.a.O., S. 164).
Dieses Argument ist - wie in der Literatur zutreffend eingewendet wird (UELI KIESER, Die Ausrichtung von Invalidenrenten der beruflichen Vorsorge im Alter als Problem der innersystemischen und der intersystemischen Leistungskoordination, in: SCHAFFHAUSER/ STAUFFER [Hrsg.], Berufliche Vorsorge 2002, Probleme, Lösungen, Perspektiven, St. Gallen 2002, S. 151; MOSER/STAUFFER/VETTER, a.a.O., S. 1379; WALSER, a.a.O., S. 166) - nicht stichhaltig. Denn die meisten Vorsorgepläne, die temporäre Invalidenrenten vorsehen, die bei Erreichen des reglementarischen Rücktrittsalters durch Altersleistungen abgelöst werden, kennen das Institut der so genannten Beitragsbefreiung, indem während der Dauer der Invalidität bis zum Erreichen des Rücktrittsalters auf dem im Zeitpunkt des Eintritts der Invalidität versicherten Lohn die Beiträge für die Altersversicherung weiter geäufnet werden, so dass im selben Ausmass Beiträge für die Altersversicherung gutgeschrieben werden wie bei einem aktiven Vorsorgenehmer mit dem gleichen versicherten Lohn (vgl. auch Art. 34 Abs. 1 lit. b BVG in Verbindung mit Art. 14 BVV 2 für das Obligatorium). So verhält es sich denn auch bei der Beschwerdegegnerin, deren Reglemente eine Befreiung von der Beitragszahlung bei Erwerbsunfähigkeit vorsehen (Art. 10.3 in Verbindung mit Art. 20 des Reglementes zu Vertrag 10035; Art. 10.2 in Verbindung mit Art. 18 des Reglementes zu Vertrag 20035).
6.3 Mit Recht wird in der Literatur (vgl. insbesondere SCHNEIDER, a.a.O., S. 214 ff.) sodann darauf hingewiesen, dass die Rechtsprechung gemäss BGE 127 V 259, indem sie die Vorsorgeeinrichtungen ohne entsprechende reglementarische Grundlage zur Ausrichtung von Leistungen verpflichtet, für welche in der Vergangenheit keine Beiträge bezahlt worden sind (laut Schätzungen des Pensionskassenverbandes handelt es sich um Mehrkosten von mehreren 100 Millionen Franken; vgl. Amtl. Bull. 2002 N 550, Votum Widrig), das Äquivalenzprinzip verletzt, welches das versicherungstechnische Gleichgewicht von Einnahmen und Ausgaben zum Zweck hat (CARL HELBLING, Personalvorsorge und BVG, 7. Aufl., Bern 2000, S. 205 f.; THOMAS LOCHER, Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 3. Aufl., Bern 2003, S. 60). Die Berechnungsgrundlagen für die temporären Invalidenrenten (für welche je nach Vorsorgeeinrichtung das Beitrags- oder das Leistungsprimat gilt) beruhen stets auf der Annahme, dass mit Erreichen des Rücktrittsalters eine Ablösung durch in der Regel tiefere Altersleistungen (für welche oft das Beitragsprimat gilt) stattfindet.
6.4 Entscheidend für die Beurteilung der Frage, ob eine Vorsorgeeinrichtung in der weitergehenden Vorsorge eine Invalidenrente bei Erreichen des Pensionierungsalters durch niedrigere Altersleistungen ersetzen kann, bleibt der Grundsatz, dass die Vorsorgeeinrichtungen in diesem die Festsetzung der Leistungen beschlagenden Bereich im Rahmen von Art. 49 Abs. 2 BVG und der verfassungsmässigen Schranken (wie Rechtsgleichheit, Willkürverbot und Verhältnismässigkeit) hinsichtlich der Vertragsgestaltung grundsätzlich frei sind (BGE 115 V 109 Erw. 4b; SZS 2000 S. 142 Erw. 6 in fine, BGE 115 V 1991 S. 203 Erw. 5b). Dieses Prinzip verbietet es, die Vorsorgeeinrichtungen auch im weitergehenden Bereich der beruflichen Vorsorge zu verpflichten, die Invalidenrente über das Erreichen des Rentenalters hinaus auszurichten bzw. Altersleistungen zu erbringen, die mindestens der vor Erreichen des Pensionierungsalters ausgerichteten Invalidenrente entsprechen (vgl. auch KIESER, a.a.O., S. 150; HANS MICHAEL RIEMER, Die überobligatorische berufliche Vorsorge im Schnittpunkt von BVG-Obligatorium und Vertragsrecht [zusätzliche Bemerkungen zu BGE 127 V 259 ff.], in: SZS 2002 S. 168; SCHNEIDER, a.a.O., S. 212 ff.; STAUFFER, a.a.O., S. 53 f.). In diesem Sinne ist die mit BGE 127 V 259 eingeleitete Rechtsprechung zu ändern.