BGE 130 V 396 |
59. Auszug aus dem Urteil i.S. B. gegen IV-Stelle Bern und Verwaltungsgericht des Kantons Bern |
I 457/02 vom 18. Mai 2004 |
Regeste |
Art. 4 Abs. 1 IVG (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung); Art. 7 f. ATSG: Diagnose der somatoformen Schmerzstörung (ICD-10 Ziff. F45.4). |
Aus den Erwägungen: |
Erwägung 5 |
5.1 Aus der Beurteilung der Klinik für Rheumatologie am Spital X. vom 20. März 2001 ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin im Wesentlichen an einem lumbospondylogenen Syndrom "mit/bei leichter Fehlhaltung und ausgeprägter muskulärer Dysbalance nach Dekonditionierung, leichten degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule, Morbus Scheuermann im thorakolumbalen Übergang, diskreten Residuen eines Diskusprolaps L4/5 rechts in der MRI-Untersuchung von 1999" leidet. Eine dem Leiden angepasste Tätigkeit könne ihr zu 50 % (halbtags) zugemutet werden. Allerdings seien die therapeutischen Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft. Die Patientin habe die Erfahrung machen müssen, dass die über Jahre hinweg rezidivierend auftretenden Lumbalgien in direktem Zusammenhang mit ihren Aktivitäten stünden. Das demzufolge verlorene Vertrauen in den Rücken gehe mit wachsender Angst vor einer Schmerzzunahme einher. Neben einer intensiven medizinischen Trainingstherapie zum Aufbau des muskulären Korsetts sowie einer schrittweisen Reintegration in den Arbeitsprozess erscheine "stützend eine psychologische Betreuung mit kognitiver Verhaltenstherapie unbedingt notwendig", ebenso eine ergänzende psychiatrische Betreuung.
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Die sich an den Vorgaben einer anerkannten medizinischen Klassifikation orientierende Verweigerung einer Diagnose ist an sich nachvollziehbar begründet. Auch ist das beschwerdeführerische Vorbringen, der psychiatrische Sachverständige habe "hintergründige" Beschwerden ausser Acht gelassen, weil die Versicherte zur (unbewussten) Verleugnung psychischer Probleme neige, unbegründet. Es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass der Gutachter, dem die anamnestisch relevanten medizinischen Unterlagen zur Verfügung standen, sich durch ein dissimulatives Verhalten der Beschwerdeführerin hätte täuschen lassen. Es darf vielmehr angenommen werden, dass Dr. H. als Facharzt entsprechende Verhaltensmuster richtig zu deuten weiss. Im Gutachten kommt denn auch zum Ausdruck, dass der Untersucher die Neigung der Versicherten zur Dissimulation tatsächlich erkannt hat. Hingegen stellt sich die Frage, ob das Gutachten eine verlässliche Entscheidungsgrundlage abgibt, soweit der Sachverständige allein gestützt auf die nicht gegebene Diagnostizierbarkeit einer psychischen Erkrankung auf vollständige Arbeitsfähigkeit (aus der Sicht seines Fachbereichs) schloss.
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Erwägung 5.3 |
5.3.2 Die Rechtsfolgevoraussetzung einer Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit ist überhaupt erst zu prüfen, wenn ein Gesundheitsschaden im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG gegeben ist (vgl. Art. 4 Abs. 1 IVG [in der Fassung vom 6. Oktober 2000] in Verbindung mit Art. 7 f. ATSG; zum Begriff des Gesundheitsschadens MEYER-BLASER, Der Rechtsbegriff der Arbeitsunfähigkeit und seine Bedeutung in der Sozialversicherung, namentlich für den Einkommensvergleich in der Invaliditätsbemessung, in: SCHAFFHAUSER/SCHLAURI [Hrsg.], Schmerz und Arbeitsunfähigkeit, St. Gallen 2003, S. 35 f.). In Anbetracht der sich mit Bezug auf Schmerzen naturgemäss ergebenden Beweisschwierigkeiten geht die Praxis davon aus, dass die subjektiven Schmerzangaben der versicherten Person für die Begründung einer (teilweisen) Arbeitsunfähigkeit allein nicht genügen; vielmehr muss im Rahmen der sozialversicherungsrechtlichen Leistungsprüfung verlangt werden, dass die Schmerzangaben durch damit korrelierende, fachärztlich schlüssig feststellbare Befunde hinreichend erklärbar sind (vgl. Urteil R. vom 2. Dezember 2002, I 53/02, Erw. 2.2 mit Hinweis). Die Schmerzangaben müssen also zuverlässiger medizinischer Feststellung und Überprüfung zugänglich sein (vgl. Urteil W. vom 9. Oktober 2001, I 382/00, Erw. 2b). Das Ausmass der durch eine somatoforme Schmerzstörung bewirkten Arbeitsunfähigkeit wird grundsätzlich gestützt auf ein psychiatrisches Gutachten festgelegt (BGE 130 V 353 Erw. 2.2.2).
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Erwägung 6 |
6.1 Im psychiatrischen Gutachten wurde die Diagnose einer "anhaltenden somatoformen Schmerzstörung" diskutiert. Dieses Leiden ist dadurch gekennzeichnet, dass sich für geklagte körperliche Symptome trotz adäquater medizinischer (Differential-)Diagnostik keine eindeutigen körperlichen Ursachen finden lassen (vgl. etwa KOPP/WILLI/KLIPSTEIN, Im Graubereich zwischen Körper, Psyche und sozialen Schwierigkeiten, in: Schweizerische Medizinische Wochenschrift 1997, S. 1382). Seine Diagnose setzt laut ICD-10 (Weltgesundheitsorganisation [WHO], International Classification of Diseases, 10. Auflage 1992), Kapitel V (F) Ziff. 45.4, im Einzelnen Folgendes voraus:
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"Die vorherrschende Beschwerde ist ein andauernder, schwerer und quälender Schmerz, der durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden kann. Der Schmerz tritt in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Problemen auf. Diese sollten schwerwiegend genug sein, um als entscheidende ursächliche Einflüsse zu gelten. Die Folge ist gewöhnlich eine beträchtliche persönliche oder medizinische Betreuung oder Zuwendung. (...)."
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Nach dieser Definition sind psychosoziale Probleme oder emotionale Konflikte als entscheidende Krankheitsursache zu betrachten, damit die Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung gestellt werden kann. Vorliegend vermag der Gutachter "weder eine affektive Störung noch schwerere psychosoziale Probleme" zu finden; deshalb verwirft er die in Frage kommende Diagnose (Erw. 5.2 hievor). Immerhin vermittelt das Gutachten insgesamt das Bild einer Versicherten, die ernstlich darunter leidet, aus gesundheitlichen Gründen die Aufgaben nicht mehr erfüllen zu können, die sie aus Pflichtgefühl und Berufung eigentlich weiterhin wahrnehmen möchte.
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Erwägung 6.2 |
6.2.2 Mit Blick auf den medizinwissenschaftlichen Zweck der gebräuchlichen Klassifikationssysteme fragt sich, ob diese als abschliessende Kataloge invalidisierender Gesundheitsschädigungen im Sinne des Gesetzes verstanden werden dürfen. Die Klassifikationssysteme sind dazu bestimmt, eine terminologische und inhaltliche Vereinheitlichung der Diagnosen herbeizuführen, um auf dieser Grundlage eine dem Stand der Wissenschaft entsprechende Untersuchung und Behandlung der Gesundheitsstörung zu ermöglichen (vgl. dazu etwa RENATO MARELLI, Psychiatrie, in: HERMANN FREDENHAGEN [Hrsg.], Das ärztliche Gutachten, Leitfaden für die Begutachtung im Rahmen der sozialen und privaten Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung, 4. Aufl., Bern 2003, S. 267, und MARIO GMÜR, Die Anforderungen an psychiatrische Gutachten, in: Plädoyer 1999/4, S. 35). Die Diagnose ist ein Instrument für die - standardisierte - Zuordnung von Beeinträchtigungen (Symptomen) zu Krankheiten und anderen medizinischen Befunden und für das Verständlichmachen der dazwischen bestehenden Zusammenhänge (vgl. FRANÇOIS PAYCHÈRE, Le juge et l'expert, plaidoyer pour une meilleure compréhension, in: PETER ROSATTI [Hrsg.], L'expertise médicale, de la décision à propos de quelques diagnostics difficiles, Chêne-Bourg/Genève 2002, S. 144). Es liegt auf der Hand, dass das mit dieser Zielsetzung verbundene Streben nach definitorischer Präzision nicht notwendigerweise deckungsgleich ist mit dem Anliegen nach umfassender Bestandesaufnahme. Weitere Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Frage, ob ein Gesundheitsschaden im Sinne des Gesetzes einzig über eine systemgebundene Diagnose erschlossen werden kann, ergeben sich aus dem Umstand, dass medizinisch-diagnostische Klassifikationssysteme - vor allem bezüglich psychiatrischer Erkrankungen - immer nur den jeweils aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion widerspiegeln, also ständigem Wandel unterworfen und allenfalls in absehbarer Zeit bereits wieder überholt sind. Umgekehrt gebieten die Unsicherheiten, die mit diesen fortwährenden definitorischen Verschiebungen verbunden sind, aber auch Zurückhaltung in der Anerkennung von leistungsrelevanten Arbeitsunfähigkeiten ausserhalb etablierter, bestandesmässig gefestigter psychiatrischer Diagnosen. Diese sind schliesslich nicht zuletzt auch ärztlichem Ermessen anheimgestellt: Die medizinische Literatur misst der klinischen Erfahrung des Arztes eine hohe Bedeutung zu; anhand dieser sei zu unterscheiden, "welche pathologischen Befunde statistisch bedingte Zufallsbefunde sind, und welche tatsächlich die Diagnose einer Krankheit begründen". Verlasse man sich zu sehr auf die Objektivität von Untersuchungsverfahren und Diagnosesystemen, so führe dies zu einer "Scheinordnung", welche den Ansatz einer inadäquaten Leistungszusprache in sich berge (CHRISTFRIED-ULRICH MAYER, Schmerz und Arbeitsunfähigkeit, in: SCHAFFHAUSER/SCHLAURI [Hrsg.], Sozialversicherungsrechtstagung 2002, St. Gallen 2002, S. 93). Das bedeutet, dass auch einer lege artis hergeleiteten Diagnose nicht in jedem Fall ein krankheitswertiger Befund zugrunde liegt.
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6.2.3 Was im Speziellen Psychalgien - also psychogene Schmerzzustände - angeht, so ist die in den klinisch-diagnostischen Leitlinien des Kapitels V (F) der ICD-10 vorgenommene Einteilung der Unterkategorien somatoformer Störungen hinsichtlich ihrer empirischen Validität und praktischen Relevanz umstritten (vgl. [deutsche] Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften [AWMF], Leitlinie Somatoforme Störungen 1: Somatoforme Störungen im Überblick, verabschiedet am 18. Mai 1999, Ziff. 3.2). Die medizinische Literatur gesteht der Diagnose bei somatoformen Schmerzstörungen denn auch einen eher bescheidenen Stellenwert zu: "Tout en étant convaincu de la place prépondérante du fonctionnement psychique dans l'explication de la douleur chronique sans explication organique ou physiopathologique claire, nous estimons que l'inconnu dans ce domaine est encore énorme et les variations du fonctionnement psychique telles qu'il serait hâtif de transformer ce symptôme en une affection psychiatrique à diagnostic unique" (SCHNEIDER/SAURER et al., La sinistrose: un diagnostic médical? Réflexions sur l'atteinte à la santé dans l'assurance invalidité fédérale, in: SZS 1998 S. 36). Nach Auffassung der soeben zitierten Autoren hat der Einbezug des "psychischen Funktionierens" bei chronischen Schmerzen ohne klare somatische Erklärung aufgrund des Symptoms und nicht mit dem Anspruch einer präzisen Diagnose zu erfolgen (vgl. HANS-JAKOB MOSIMANN, Somatoforme Störungen: Gerichte und [psychiatrische] Gutachten, in: SZS 1999 S. 108 mit Hinweis). Nach einer weiteren Meinung muss bei der Begutachtung zwar eine "kriterienorientierte Diagnose" nach ICD-10 oder DSM-IV gestellt werden, ohne die sich "weitere Überlegungen" erübrigten; zugleich wird aber betont, entscheidende Variable sei nicht die Diagnose, sondern die Beurteilung des Schweregrades (KLAUS FOERSTER, in: VENZLAFF/FOERSTER, Psychiatrische Begutachtung, 3. Aufl., München 2000, S. 509 f.). Diese Feststellung ist Ausdruck des fachmedizinischen Konsenses, dass sich, da eine Schädigung regelmässig nicht nachweisbar ist, die Diskussion bei einer ärztlichen Stellungnahme zur Arbeitsfähigkeit auf die Frage verlagert, inwiefern die psychische Störung - bei zumutbarer Willensanstrengung - als überwindbar betrachtet wird (KOPP/WILLI/ KLIPSTEIN, a.a.O., S. 1430, 1434 f.). Wichtiger als die Diagnose sei daher die sozial-praktische Auswirkung einer Erkrankung (MARELLI, a.a.O., S. 260), also die gutachtliche Stellungnahme zur Zumutbarkeit der Arbeitsleistung (vgl. MOSIMANN, a.a.O., S. 108).
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6.3 Das in Erw. 6.1 und 6.2 hievor Gesagte schliesst indes nicht aus, dass praktisch jedes krankheitswertige Geschehen einer Diagnose im Rahmen der anerkannten Klassifikationssysteme zuführbar ist. Denn diese enthalten neben spezifisch definierten Gesundheitsschädigungen (wie ICD-10 Ziff. F45.4) auch offen gefasste "Auffangdiagnosen" (vgl. etwa ICD-10 Ziff. F45.0 [Somatisierungsstörung]). Auch besteht kein Definitionsmonopol der ICD-10 (insofern unzutreffend der Wortlaut von Ziff. 1010 des vom Bundesamt für Sozialversicherung herausgegebenen Kreisschreibens über die Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung [KSIH; in der ab 1. Januar 2004 geltenden Fassung]): Ein anderes weit verbreitetes Klassifikationssystem, das DSM-IV (American Psychiatric Association, Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 4. Aufl. 1994; deutsche Übersetzung 1996 [Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen]), differenziert in der Kategorie "Schmerzstörung in Verbindung mit sowohl Psychischen Faktoren wie einem Medizinischen Krankheitsfaktor" (Ziff. 307.89) nicht nach Entstehungsgründen. Hinzu kommt, dass chronifizierte Schmerzen, die losgelöst von einer ursprünglich zugrunde liegenden Gewebe- oder Organschädigung weiterbestehen, ebenfalls als eigenständiges Krankheitssyndrom betrachtet werden, für welches das Fehlen hinreichender organischer Ursachen und Auslöser charakteristisch ist (SCHUMACHER/BRÄHLER, Psychologische Aspekte akuter und chronischer Schmerzen, in: Handlungsfelder der psychosozialen Medizin, Göttingen 2002, S. 189). Für die Einordnung chronischer Schmerzen stehen neben den international gebräuchlichen Diagnosesystemen ICD-10 und DSM-IV spezielle Verfahren zur Verfügung, so die Klassifikation der International Association for the Study of Pain (SCHUMACHER/BRÄHLER, a.a.O., S. 198 f.).
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Mit Blick auf die bei der Feststellung von Schmerzen vorhandenen Beweisschwierigkeiten besteht kein Anlass, noch weitere, klassifikatorisch nicht erfassbare Zustandsbilder der rechtlichen Leistungsüberprüfung zugänglich zu machen. Die Gerichtspraxis hält die medizinischen Sachverständigen denn auch dazu an, sich bei der Diagnosestellung an eine anerkannte Klassifikation zu halten (AHI 2000 S. 152 f. Erw. 2c; vgl. auch BGE 124 V 42 f. Erw. 5b/bb). In Sonderfällen - wenn eine manifeste Beeinträchtigung vorliegt, für die nach dem aktuellen pathogenetischen Wissensstand keine Diagnosestellung möglich ist - sind allerdings Ausnahmen denkbar (vgl. MEYER-BLASER, a.a.O., S. 64 f. FN 93).
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