BGE 133 V 549 |
69. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Winterthur Schweizerische Versicherungs-Gesellschaft gegen IV-Stelle Basel-Stadt, betreffend J., sowie Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) |
U 148/06 vom 28. August 2007 |
Regeste |
Art. 49 Abs. 4 ATSG; aArt. 129 UVV; Art. 16 ATSG. |
Sachverhalt |
A. Die 1950 geborene J. zog sich bei einem Verkehrsunfall am 18. August 1996 Kompressionsfrakturen im Brust- und Lendenwirbelbereich zu. Die Winterthur Schweizerische Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Winterthur), bei welcher sie obligatorisch versichert war, erbrachte die gesetzlichen Leistungen (Heilbehandlung, Taggeld).
|
Im Mai 1997 meldete sich J. bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügungen vom 4. September 2001 sprach ihr die IV-Stelle Basel-Stadt (nachfolgend: IV-Stelle) für die Zeit vom 1. August 1997 bis 31. August 1998 eine ganze Rente und ab 1. September 1998 eine halbe Rente samt Zusatzrente für den Ehemann zu, was das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt mit Entscheid vom 16. Oktober 2002 bestätigte. Mit Verfügung vom 6. Juli 2004 hob die IV-Stelle die halbe Rente auf Ende des der Zustellung des Entscheids folgenden Monats auf. Hiegegen liess J. Einsprache erheben. Am 25. Oktober 2004 verfügte die IV-Stelle die Sistierung des Verfahrens bis zum rechtskräftigen Abschluss des Unfallversicherungsfalles.
|
Mit Verfügung vom 15. Februar 2005 sprach die Winterthur J. ab 1. Januar 2005 eine Invalidenrente von monatlich Fr. 2'677.- (Invaliditätsgrad: 50 %) sowie eine Integritätsentschädigung von Fr. 9'720.- (Integritätsschaden: 10 %) zu. Dagegen erhob die IV-Stelle Einsprache. Sie beantragte, die Verfügung vom 15. Februar 2005 sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass kein Anspruch auf eine Invalidenrente nach UVG bestehe. Mit Entscheid vom 25. April 2005 trat die Winterthur auf die Einsprache nicht ein.
|
C. Die Winterthur führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben.
|
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. J. und das Bundesamt für Gesundheit verzichten auf eine Vernehmlassung.
|
Aus den Erwägungen: |
Der Begriff des "Berührtseins" im Sinne von Art. 49 Abs. 4 ATSG ist gleich zu verstehen wie das schutzwürdige Interesse (an der Aufhebung oder Änderung der angefochtenen Verfügung) nach Art. 103 lit. a OG. Berührt ist somit derjenige andere Versicherungsträger, der in einer besonderen, beachtenswerten, nahen Beziehung zur Streitsache steht, mithin in rechtlichen oder tatsächlichen Interessen spürbar betroffen ist (BGE 132 V 74 E. 3.1 S. 77; BGE 131 V 362 E. 2.1 S. 365 mit Hinweisen; vgl. zur Entstehungsgeschichte von Art. 49 Abs. 4 ATSG: BBl 1991 II 207 und 268; 1994 V 947; 1999 V 4606).
|
4. Das kantonale Gericht hat die Einsprache- und Beschwerdelegitimation der IV-Stelle im Wesentlichen unter Hinweis auf die Rechtsprechung zur Bindungswirkung rechtskräftiger Invaliditätsschätzungen anderer Versicherungsträger nach BGE 126 V 288 (bestätigt im Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 319/04 vom 14. Juni 2005 für die Zeit nach Inkrafttreten des Allgemeinen Teils des Sozialversicherungsrechts am 1. Januar 2003) bejaht. Danach ist die Invaliditätsschätzung der Unfallversicherung für die IV-Stellen und im Beschwerdefall für das kantonale Versicherungsgericht sowie letztinstanzlich für das Eidg. Versicherungsgericht (seit 1. Januar 2007: I. und II. sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichts) in dem Sinne verbindlich, als davon nur bei Vorliegen triftiger Gründe abgewichen werden darf. Aus dieser Bindungswirkung ergebe sich das Einsprache- und Beschwerderecht der IV-Stelle.
|
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde führende Winterthur begründet ihren gegenteiligen Standpunkt u.a. damit, dass laut BGE 131 V 362 der Unfallversicherer mangels "Berührtseins" im Sinne von Art. 49 Abs. 4 ATSG nicht zur Einsprache gegen die Verfügung oder zur Beschwerde gegen den Einspracheentscheid der IV-Stelle über den Rentenanspruch als solchen oder den Invaliditätsgrad berechtigt ist. Dies gelte auch im umgekehrten Fall, wenn es also um die Frage gehe, ob die IV-Stelle zur Einsprache gegen die Verfügung oder zur Beschwerde gegen den Einspracheentscheid betreffend eine Rente der Unfallversicherung berechtigt sei. Demzufolge sei sie zu Recht nicht auf die Einsprache der IV-Stelle gegen die Verfügung vom 15. Februar 2005 eingetreten.
|
Im Schrifttum wird die Legitimation der IV-Stelle zur Einsprache gegen die Verfügung oder zur Beschwerde gegen den Einspracheentscheid betreffend eine Rente der Unfallversicherung mangels "Berührtseins" aufgrund einer fehlenden eigentlichen resp. absoluten Bindungswirkung der Invaliditätsschätzung des Unfallversicherers mehrheitlich verneint oder zumindest angezweifelt (UELI KIESER, ATSG-Kommentar, N. 29 ff. zu Art. 49 ATSG und in: AJP 1/2007 S. 109; ULRICH MEYER, Die Teilnahme am vorinstanzlichen Verfahren als Voraussetzung der Rechtsmittellegitimation, in: Sozialversicherungsrechtstagung 2004, Bd. 30 der Schriftenreihe des IRP-HSG, St. Gallen 2004, Schaffhauser/Schlauri [Hrsg.], S. 28 f.; GRAZIELLA SALAMONE, Die Bindungswirkung der Invaliditätsschätzung der Invalidenversicherung und die Beschwerdelegitimation des Unfallversicherers im invalidenversicherungsrechtlichen Verfahren, in: HAVE 2005 S. 342 Ziff. III.3; PETER ARNOLD, Die neuere Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts zur [Leistungs-]Koordination im Überblick, in: Sozialversicherungsrechtliche Leistungskoordination. Grundlagen, aktuelle Entwicklungen, Perspektiven, Bd. 36 der Schriftenreihe des IRP-HSG, St. Gallen 2006, Schaffhauser/Kieser [Hrsg.]; a.M. wohl JÜRG SCHEIDEGGER, Der einheitliche Invaliditätsgrad, ebd., S. 95 f.).
|
Erwägung 6 |
6.2 Der BGE 126 V 288 tragende koordinationsrechtliche Gesichtspunkt hat sodann dadurch an Bedeutung verloren, dass nach AHI 2004 S. 186, E. 4.3, I 564/02 und BGE 131 V 362 die Invaliditätsschätzung der Invalidenversicherung gegenüber dem Unfallversicherer keine Bindungswirkung entfaltet. Dasselbe im umgekehrten Verhältnis nicht gelten zu lassen, käme aber damit in Konflikt, dass das Gesetz weder der Invaliditätsbemessung der Invalidenversicherung noch derjenigen der Unfallversicherung Priorität einräumt (BGE 126 V 288 E. 2d S. 293; JÜRG SCHEIDEGGER, Die Koordination der Invaliditätsschätzungen, in: Aktuelle Rechtsfragen der Sozialversicherungspraxis, Bd. 6 der Schriftenreihe des IRP-HSG, St. Gallen 2001, Schaffhauser/Schlauri [Hrsg.], S. 86 f.; SALAMONE, a.a.O.).
|
Die in AHI 2004 S. 186, E. 4.3, I 564/02 genannten Gründe gegen eine auch im Sinne von BGE 126 V 288 relativierte Bindungswirkung der Invaliditätsschätzung der Invalidenversicherung für die Unfallversicherung gelten auch im umgekehrten Verhältnis. Die Voraussetzungen für eine Rente in diesen Sozialversicherungszweigen sind trotz des grundsätzlich gleichen Invaliditätsbegriffes verschieden. Insbesondere berücksichtigt die Invaliditätsschätzung der Unfallversicherung lediglich die natürlich und adäquat kausalen gesundheitlichen und erwerblichen Unfallfolgen. Daraus folgt insbesondere, dass der rechtskräftige Abschluss des Unfallversicherungsverfahrens auch bei Beteiligung der IV-Stelle einen Streit um eine Rente der Invalidenversicherung nicht ein für alle Mal ausschliesst. Häufig bestehen denn auch nicht bloss unfallbedingte gesundheitliche Beeinträchtigungen. Zu denken ist an krankhafte Vorzustände oder an psychische Fehlentwicklungen, für welche der Unfall keine adäquate kausale Ursache darstellt. Sodann stellen schon der unterschiedliche Rentenbeginn in der Invalidenversicherung und Unfallversicherung, die Änderbarkeit des Invaliditätsgrades im Lauf der Zeit sowie das regelmässig zeitliche Auseinanderfallen der jeweiligen Rentenverfügungen und -entscheide eine Bindung an die Invaliditätsschätzung des anderen Sozialversicherungsträgers in Frage (vgl. auch SCHEIDEGGER, Der einheitliche Invaliditätsgrad, a.a.O., S. 90 f.).
|
6.3 Schliesslich ist Folgendes zu beachten: In BGE 126 V 288 E. 2d S. 294 wird ausgeführt, dass zumindest rechtskräftig abgeschlossene Invaliditätsschätzungen nicht unbeachtet bleiben dürfen. Vielmehr müssen sie als Indizien für eine zuverlässige Beurteilung gewertet und als solches in den Entscheidungsprozess erst später verfügender Versicherungsträger miteinbezogen werden. "Dies verlangt auch nach gewissen Mitwirkungsrechten des durch eine verfügungsmässige Festlegung der Invalidität in einem Sozialversicherungsbereich tangierten andern Versicherers. Im Unfallversicherungsrecht wird diesem Schutzbedürfnis ausdrücklich entsprochen, indem Art. 129 Abs. 1 UVV vorsieht, dass die Verfügung eines Versicherers oder einer andern Sozialversicherung, welche die Leistungspflicht des andern Versicherers berührt, auch diesem andern Versicherer zu eröffnen ist (Satz 1), und dieser die gleichen Rechtsmittel ergreifen kann wie die versicherte Person (Satz 2). Macht er von der Möglichkeit, den Entscheid der andern Versicherung anzufechten, obschon ihm dieser ordnungsgemäss eröffnet worden ist, nicht Gebrauch, hat er diesen grundsätzlich gegen sich gelten zu lassen (RKUV 1998 Nr. U 305 S. 432)."
|
Aus diesen Erwägungen lässt sich entgegen dem kantonalen Gericht nichts zu Gunsten einer Bindungswirkung der rechtskräftigen Invaliditätsschätzung der Unfallversicherung für die IV-Stelle resp. deren Einsprache- und Beschwerdelegitimation gewinnen. Gemäss AHI 2004 S. 181, I 564/02 räumt Art. 129 Abs. 1 UVV, in Kraft gestanden bis 31. Dezember 2002, dem Unfallversicherer eben nicht das Recht zur Beschwerde gegen die Rentenverfügung der IV-Stelle ein. Dasselbe gilt laut BGE 131 V 362 für den inhaltlich gleichen Art. 49 Abs. 4 ATSG (BGE 129 V 73 E. 4.2.2 S. 75). Umso weniger besteht eine Rechtsgrundlage für die Anfechtungsmöglichkeit der Einsprache und Beschwerde der IV-Stelle im Verfahren der Unfallversicherung als Korrelat der Richtigkeitsvermutung (BGE 131 V 362 E. 2.2.1 S. 367 oben) einer rechtskräftigen Invaliditätsschätzung des Unfallversicherers. Darin kommt auch zum Ausdruck, dass in verfahrensrechtlicher Hinsicht weder der Invalidenversicherung noch der Unfallversicherung Vorrang gegenüber dem anderen Sozialversicherungszweig zukommt. Im Übrigen kann es nicht der mit der Einheitlichkeit des Invaliditätsbegriffs verfolgte Koordinationszweck sein, dass der später verfügende Sozialversicherungsträger den Rentenentscheid des andern, Unfallversicherer oder IV-Stelle, anfechten muss, nur um diesen sich nicht allenfalls entgegenhalten lassen zu müssen.
|
6.4 Aus den vorstehenden Gründen ist in gleicher Weise wie in AHI 2004 S. 181, I 564/02 und BGE 131 V 362 eine absolute Bindungswirkung der Invaliditätsschätzung der Unfallversicherung für die Invalidenversicherung im Sinne von BGE 126 V 288 und daher die Berechtigung der IV-Stelle zur Einsprache gegen die Verfügung und zur Beschwerde gegen den Einspracheentscheid des Unfallversicherers über den Rentenanspruch als solchen oder den Invaliditätsgrad zu verneinen. Inwiefern der Invaliditätsschätzung der Unfallversicherung und der Invalidenversicherung für den jeweils anderen Sozialversicherungszweig noch Bedeutung zukommt, etwa die Verpflichtung zum Beizug der Akten, braucht hier nicht näher geprüft zu werden (vgl. dazu SCHEIDEGGER, a.a.O., S. 89 ff., und ARNOLD, a.a.O., S. 197 ff.). Immerhin haben Unfallversicherer und IV-Stelle ihre Rentenverfügungen und -entscheide dem jeweils andern Sozialversicherungsträger mitzuteilen (vgl. Art. 76 Abs. 1 lit. e IVV).
|