BGE 138 V 58
 
8. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. U. gegen Ausgleichskasse Schwyz (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
9C_462/2011 vom 9. Januar 2012
 
Regeste
Art. 67 Abs. 1bis AHVV; Art. 392 Abs. 1 ZGB.
 
Sachverhalt
A. Nachdem der am 20. August 1947 geborene, verheiratete U. seit längerer Zeit von seiner Wohnsitzgemeinde, der Fürsorgebehörde X., finanziell unterstützt worden war, beschloss diese am 21. Januar 2010 die Einstellung ihrer Leistungen auf den 31. Juli 2010, dies mit dem Hinweis, dass er als Sozialhilfeempfänger bis dahin Gelegenheit habe, sich zum vorzeitigen Bezug der AHV-Altersrente anzumelden. U. stellte sich in der Folge mehrfach auf den Standpunkt, er wolle seine Altersrente erst ab dem Erreichen des ordentlichen Rentenalters beantragen; er könne allein entscheiden, wann er seine AHV-Rente beziehen möchte.
Am 25. August 2010 beschloss die Vormundschaftsbehörde X., die Anmeldung zum Bezug der vorzeitigen AHV für U. werde direkt durch die Vormundschaftsbehörde vorgenommen. Die Anmeldung müsse bis spätestens 31. August 2010 bei der Ausgleichskasse des Kantons Schwyz vorliegen und einer allfälligen Beschwerde werde die aufschiebende Wirkung entzogen. Gleichzeitig meldete die Vormundschaftsbehörde U. zum vorzeitigen Bezug der Altersrente an. Die gegen den Beschluss erhobene Beschwerde wies der Regierungsrat des Kantons Schwyz mit Beschluss vom 19. Oktober 2010 ab.
Mit Verfügung vom 15. Dezember 2010 wies die Ausgleichskasse Schwyz die Anmeldung zum Vorbezug der Altersrente ab. Dies bestätigte sie mit Einspracheentscheid vom 8. Februar 2011. Am 3. März 2011 beschloss die Vormundschaftsbehörde, der Prozessführung in Sachen U. und Vormundschaftsbehörde X. gegen die Ausgleichskasse Schwyz zuzustimmen.
B. Gegen den Einspracheentscheid erhob die Vormundschaftsbehörde Beschwerde ans Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz. Dieses ging davon aus, dass die Vormundschaftsbehörde nicht für sich Beschwerde führe, sondern für U. Mit Entscheid vom 28. April 2011 hiess es die Beschwerde gut, soweit es darauf eintrat, hob die Verfügung und den Einspracheentscheid auf und hielt die Vorinstanz an, die von der Vormundschaftsbehörde eingereichte Anmeldung entgegenzunehmen und das Erforderliche anzuordnen.
C. U. erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt sinngemäss die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids.
Die Vormundschaftsbehörde X. schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) und die Ausgleichskasse verzichten auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
 
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 3
 
Erwägung 4
4.1 Auf Ansuchen eines Beteiligten oder von Amtes wegen ernennt die Vormundschaftsbehörde gemäss Art. 392 ZGB einen Beistand, wenn eine mündige Person in einer dringenden Angelegenheit infolge von Krankheit, Abwesenheit od. dgl. weder selbst zu handeln, noch einen Vertreter zu bezeichnen vermag (Ziff. 1). Vorausgesetzt ist ein Vertretungsbedürfnis, das vorliegt, wenn die betroffene Person faktisch am Handeln gehindert ist, aber auch wenn sie auf Grund einer Überforderung die dringende Angelegenheit nicht in einer ihren wohlverstandenen Interessen dienenden Art und Weise wahrzunehmen vermag oder wenn die Person nicht in der Lage ist, einen Vertreter zu bezeichnen, sei es wiederum infolge äusserer Hindernisse oder sei es aus Mangel an Einsicht (Urteil 5A_498/2008 vom 19. November 2008 E. 3.1 mit Verweis auf BGE 111 II 10 E. 3 S. 13 ff. mit Beispielen und Hinweisen).
4.2 An Stelle der Errichtung einer Beistandschaft nach Art. 392 oder 393 ZGB kann die Vormundschaftsbehörde auch selber direkt handeln (sog. Beistandschaft ad hoc). Vorausgesetzt ist, dass die Sache dringlich ist, die Errichtung einer Massnahme zu einem formellen Leerlauf führen würde und die Behörde mittels eines einzelnen Beschlusses die ganze Vertretungsangelegenheit selbst regeln kann. Es muss eine liquide Angelegenheit sein, die eindeutig und rasch lösbar ist. Dennoch soll das eigene Handeln der Behörde an Stelle oder neben einer Beistandschaft die lediglich ausnahmsweise, in einfachen, gut überblickbaren und in der Regel auch zeitlich dringenden Angelegenheiten zum Zuge kommende Hilfestellung sein und die - ordentlich bestellte - Beistandschaft schon deshalb den Normalfall bilden, weil bei eigenem Handeln der Behörde für die betroffene Person der Instanzenzug verkürzt wird (THOMAS GEISER, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2010, N. 14 zu Art. 392 ZGB; ebenso SCHNYDER/MURER, Berner Kommentar, 3. Aufl. 1984, N. 36 zu Art. 392 ZGB). Schliesslich ist dort, wo das Gesetz die Mitwirkung des gesetzlichen Vertreters ausdrücklich vorsieht, das eigene Handeln der Vormundschaftsbehörde von vornherein ausgeschlossen (SCHNYDER/MURER, a.a.O.). Grundsätzlich hat also die betroffene Person Anspruch darauf, dass das formelle Verbeiständungsverfahren eingehalten wird; eine Beistandschaft ad hoc soll die Ausnahme bleiben. In BGE 111 II 10 wurde die Errichtung einer Beistandschaft ad hoc für eine bedürftige mündige Person als zulässig erachtet, welche sich ohne annehmbaren Grund beharrlich weigerte, einen ihren persönlichen und wirtschaftlichen Interessen entsprechenden Entscheid (Kapitalauszahlung der Pensionskasse oder Rente) zu treffen. Sodann wurde im Urteil 2P.298/2006 vom 20. März 2007 festgehalten, unterstützte Personen sollten nur dann zu einem AHV-Vorbezug angehalten werden, wenn sie im ordentlichen Rentenalter ohnehin auf Ergänzungsleistungen angewiesen sein würden und deshalb durch den Vorbezug keinerlei wirtschaftliche Nachteile erleiden würden. Schliesslich wird auch in den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS-Richtlinien; welche gemäss § 5 Abs. 2 der Vollziehungsverordnung vom 30. Oktober 1984 zum Gesetz über die Sozialhilfe des Kantons Schwyz [Sozialhilfeverordnung; SRSZ 380.111] für die Bemessung der Hilfe wegleitenden Charakter haben) in der 4. überarbeiteten Ausgabe April 2005 mit den Ergänzungen 12/05, 12/07 und 12/08 unter Ziffer E.2.4 unter dem Titel AHV-Vorbezug festgehalten, dass Leistungen der AHV grundsätzlich der Sozialhilfe vorgehen, dass aber die Anmeldung zum Vorbezug vom oder von der Versicherten persönlich erfolgen muss, wobei unterstützte Personen grundsätzlich zum AHV-Renten-Vorbezug angehalten werden sollten.
4.3 Zwar kann hier die Angelegenheit insofern als dringlich angesehen werden, als eine Anmeldung zum vorzeitigen Altersrentenbezug nicht rückwirkend, sondern im Falle des zweijährigen Vorbezuges nur bis zum 63. Geburtstag möglich ist (Art. 67 Abs. 1bis AHVV; vgl. SVR 2003 AHV Nr. 7 S. 19, H 106/02), hier also bis August 2010. Indes handelt es sich nicht um ein einzelnes, einfaches Geschäft, bei welchem die Errichtung einer Massnahme lediglich zu einem formellen Leerlauf führen würde. Wohl kann die Behörde mittels eines einzelnen Beschlusses die ganze Vertretungsangelegenheit selbst regeln, indem sie einmalig das Anmeldeformular ausfüllt. Die einmalige Anmeldung hat jedoch einschneidende und langfristige Folgen, wird doch der Anspruch des Versicherten auf die Altersrente lebenslänglich gekürzt. Für ein solch weitreichendes Geschäft ist die Beistandschaft ad hoc nicht vorgesehen. Zudem liegt gegenüber BGE 111 II 10 die Interessenlage insofern anders, als es nicht nur darum geht, die Interessen des Versicherten zu wahren. Vielmehr hat hier die Vormundschaftsbehörde als Organ des Gemeinwesens ein eigenes Interesse an der vorzeitigen Anmeldung, nämlich die Kosten von der Gemeinde auf die Alters- und Hinterlassenenversicherung zu verschieben. Dass sich der Versicherte nicht selbst anmeldet, ist denn hier auch die einzige Begründung für die Notwendigkeit einer Beistandschaft ad hoc. Weitere Umstände, die es dem Beschwerdeführer verunmöglichen würden, seine Interessen genügend wahrzunehmen, werden keine geltend gemacht. Dass der Versicherte wirtschaftlich unvernünftig handelt (vgl. BGE 111 II 10), wird weder vorgebracht noch kann dies allein auf Grund der Tatsache, dass er die Rente nicht vorbeziehen könnte, gesagt werden, zumal die Vorinstanz nicht geprüft hat, ob der Beschwerdeführer beim Vorbezug der Altersrente Ergänzungsleistungen geltend machen und damit die Rentenkürzung betragsmässig auffangen könnte, wie dies im zitierten Urteil 2P.298/2006 vorausgesetzt wurde. Der Grund für die beistandschaftliche Massnahme reduziert sich letztlich allein auf die divergierende Meinung der Fürsorgebehörde und des Beschwerdeführers betreffend Anmeldung zum vorzeitigen Altersrentenbezug. Gerade eine solche Interessenkollision verbietet es jedoch, auf dem Umweg der Beistandschaft ad hoc das ordentliche Verbeiständungsverfahren zu umgehen (zumal das Bundesgericht von einem weiten Begriff des Interessengegensatzes ausgeht; vgl. HANS-MICHAEL RIEMER, Grundriss des Vormundschaftsrechts, 2. Aufl. 1997, S. 132; vgl. auch SCHNYDER/MURER, a.a.O., N. 84 zu Art. 392 ZGB). Die Argumente der Vorinstanz vermögen diese Interessenkollision nicht zu beseitigen. Sodann ändert daran auch nichts, dass der Beschluss der Fürsorgebehörde vom 21. Januar 2010 betreffend Einstellung der Sozialhilfe und der regierungsrätliche Beschwerdeentscheid vom 19. Oktober 2010 unangefochten in Rechtskraft erwuchsen.
Die Vormundschaftsbehörde durfte deshalb nicht selbst handeln, sondern hätte das ordentliche Verbeiständungsverfahren durchführen müssen, um die AHV-Anmeldung vornehmen zu können. Ohne eine ordentlich bestellte Vertretungsbeistandschaft blieb ihr nur, den Versicherten unter Androhung der Kürzung von Sozialhilfeleistungen zur Anmeldung zu verhalten (vgl. erwähntes Urteil 2P.298/2006). Wenn die Ausgleichskasse bei dieser Sach- und Rechtslage die Anmeldung nicht an die Hand genommen hat, ist dies entgegen der Auffassung der Vorinstanz richtig. Die erfolgte Anmeldung des Beschwerdeführers durch die Vormundschaftsbehörde bei der Ausgleichskasse zum vorzeitigen Rentenbezug ist nicht zulässig.