BGE 142 V 577
 
63. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Ausgleichskasse des Kantons Solothurn (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
8C_438/2016 vom 16. November 2016
 
Regeste
Art. 8 Abs. 1 BV; § 85ter Abs. 2 des Sozialgesetzes des Kantons Solothurn vom 31. Januar 2007; Familienergänzungsleistungen.
 
Sachverhalt
A. Am 28. Januar 2015 lehnte die Ausgleichskasse des Kantons Solothurn den Anspruch von A. auf Familienergänzungsleistungen infolge fehlender Bedürftigkeit ab. Mit Einspracheentscheid vom 31. Juli 2015 begründete sie die Abweisung damit, bereits die von ihm getrennt lebende Mutter seines Sohnes beziehe Familienergänzungsleistungen.
B. Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn vom 24. Mai 2016 wies die dagegen erhobene Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat.
C. A. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, es seien der vorinstanzliche Entscheid und die Verfügung vom 28. Januar 2015 aufzuheben und es sei festzustellen, dass die Anwendung der kantonalen Norm gegen Art. 8 Abs. 3 BV verstosse, indem bei gemeinsamer elterlicher Sorge und hälftig geteilter Obhut für den Anspruch auf Ergänzungsleistungen (recte: Familienergänzungsleistungen) auf das Kriterium des Geschlechts (Mutter) abgestellt werde. Zudem sei festzustellen, dass er, welcher die Obhut und elterliche Sorge gemeinsam mit der Mutter ausübe, grundsätzlich Anspruch auf Ergänzungsleistungen (recte: Familienergänzungsleistungen) habe, sofern die übrigen Voraussetzungen erfüllt seien. Schliesslich beantragt er, die Ausgleichskasse sei anzuweisen, seinen Anspruch auf Familienergänzungsleistungen unter Berücksichtigung der hälftigen Auslagen für das Kind neu zu berechnen.
Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Die Vorinstanz beantragt ebenfalls die Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
 
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 3
3.1 Bei den strittigen Familienergänzungsleistungen nach § 85bis ff. des Sozialgesetzes des Kantons Solothurn vom 31. Januar 2007 (SG; BGS 831.1) handelt es sich um autonomes kantonales Recht. Dies bedeutet einerseits, dass die gestützt auf einen Verweis im kantonalen Recht massgeblichen Bestimmungen des Bundesrechts ebenfalls kantonales Recht darstellen (vgl. etwa BGE 140 I 320 E. 3.3 S. 322 zu den Verweisen auf das OR im Rahmen kantonalrechtlicher Normen über das öffentliche Dienstverhältnis). Andererseits prüft das Bundesgericht die Anwendung des kantonalen Rechts - von den hier nicht gegebenen Fällen gemäss Art. 95 lit. c-e BGG abgesehen - nur insofern, als diese eine Verletzung von Bundesrecht im Sinne von Art. 95 lit. a BGG oder von Völkerrecht im Sinne von Art. 95 lit. b BGG darstellt (BGE 140 I 320 E. 3.1 S. 321; BGE 133 II 249 E. 1.2.1 S. 251; vgl. auch BGE 136 I 241 E. 2.4 S. 249). Dabei steht die willkürliche Anwendung des kantonalen Rechts (Art. 9 BV) sowie die Verletzung anderer Grundrechte (Art. 8 ff. BV) im Vordergrund.
 
Erwägung 4
4.2 Das Gebot der rechtsgleichen Behandlung (Art. 8 Abs. 1 BV) ist verletzt, wenn ein Erlass hinsichtlich einer entscheidwesentlichen Tatsache rechtliche Unterscheidungen trifft, für die ein vernünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen nicht ersichtlich ist, oder wenn er Unterscheidungen unterlässt, die sich aufgrund der Verhältnisse aufdrängen. Gleiches muss nach Massgabe seiner Gleichheit gleich und Ungleiches nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich behandelt werden. Die Frage, ob für eine rechtliche Unterscheidung ein vernünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen ersichtlich ist, kann zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich beantwortet werden, je nach den herrschenden Anschauungen und Verhältnissen. Dem Gesetzgeber bleibt im Rahmen dieser Grundsätze und des Willkürverbots ein weiter Gestaltungsspielraum (BGE 138 I 225 E. 3.6.1 S. 229; BGE 137 I 167 E. 3.5 S. 175; BGE 136 I 1 E. 4.1 S. 5).
4.3 Indem § 85ter Abs. 2 SG die Anspruchskonkurrenz regelt, sofern mehr als eine Person Anspruch auf Familienergänzungsleistungen für dasselbe Kind hat, geht der Gesetzgeber davon aus, dass der Anspruch auf Familienergänzungsleistungen nicht teilbar ist (ebenso THOMAS FLÜCKIGER, Die Ergänzungsleistungen für Familien im Kanton Solothurn, in: Festgabe für Walter Straumann, 2013, S. 721). Der Gesetzgeber hat sich somit gegen eine anteilsmässige Ausrichtung von Familienergänzungsleistungen entschieden. Demnach ist es nicht erlaubt, Ansprüche auf Familienergänzungsleistungen, welche durch dasselbe Kind ausgelöst werden, auf die anspruchsberechtigten Personen aufzuteilen oder gar kumulativ auszurichten. Mit anderen Worten müssen etwa getrennt lebende Eltern nicht gleichbehandelt werden, auch wenn beide die Voraussetzungen zum Leistungsbezug erfüllen würden.
 
Erwägung 5
5.1 Ziel der solothurnischen Familienergänzungsleistungen ist einerseits, die Sozialhilfe zu entlasten, andererseits wirtschaftlich schwache Familien zu unterstützen (Botschaft des Regierungsrates des Kantons Solothurn vom 1. Dezember 2008 zum Entwurf zur Einführung der Ergänzungsleistungen für Familien durch Ergänzung des Sozialgesetzes, RRB Nr. 2008/2127, RG 172/2008, Ziff. 1 und 8.2) resp. das durch Kinder entstehende Armutsrisiko zu verhindern (FLÜCKIGER, a.a.O., S. 713). Der Begriff der Familie wird dabei offen verstanden; es bedarf zumindest eines (sozialen) Elternteils mit Kind (Botschaft, a.a.O., Ziff. 4.1 und Ziff. 11 zu § 85bis sowie FLÜCKIGER, a.a.O., S. 714). Zentral ist somit das Kind, da das Zusammenleben von Erwachsenen keine Familie in diesem Sinne begründet; in der Botschaft wird denn auch von "Kinder[n], die einen Anspruch auslösen" gesprochen (a.a.O., Ziff. 11 zu § 85bis ). Daran ändert nichts, dass der Anspruch auf Familienergänzungsleistungen nicht dem Kind, sondern der einzelnen (erwachsenen) Person zusteht (FLÜCKIGER, a.a.O., S. 713).
5.2 Nach § 85ter Abs. 1 SG schliesst der Anspruch auf jährliche Ergänzungsleistungen zur AHV und zur IV den Anspruch auf Familienergänzungsleistungen aus; haben mehrere Personen Anspruch auf Familienergänzungsleistungen für dasselbe Kind, bestimmt sich der Anspruch gemäss der in Abs. 2 statuierten Reihenfolge. Dabei stehen die Leistungen primär jener Person zu, welche die Obhut inne hat; trifft dies auf beide Elternteile zu, ist der Inhaber der elterlichen Sorge und, sofern diese gemeinsam ausgeübt wird, die Mutter leistungsberechtigt; letztlich hat Anspruch auf Familienergänzungsleistungen, wer dauernd und unentgeltlich für das Kind aufkommt.
5.3 Der Regierungsrat hat in seiner Botschaft einen mehrfachen Bezug von Familienergänzungsleistungen pro Kind ausgeschlossen und sich bezüglich der Bestimmung des auszurichtenden Anspruchs an den in den damals noch kantonalrechtlichen Familienzulagengesetzen geregelten Rangordnungen orientiert (a.a.O., Ziff. 11 zu § 85ter ). Schon jene schlossen einen Doppelbezug aus (vgl. dazu AB 2005 S 717, Votum Schwaller zu Art. 6 FamZG oder UELI KIESER, Streifzug durch das Familienzulagenrecht, SZS 1995 S. 286 f.). Allerdings äussert sich der Regierungsrat nicht dazu, weshalb er nicht die zum Zeitpunkt der Redaktion der Botschaft bereits bekannte Prioritätenordnung des kurz darauf in Kraft tretenden Bundesgesetzes vom 24. März 2006 über die Familienzulagen (FamZG; SR 836.2; Art. 6 und 7 FamZG) berücksichtigt hat. Kaum nachvollziehbar ist, weshalb er sich nebst den Zuteilungskriterien "alleinige Obhut" und "elterliche Sorge" für jenes der "Mutter" entschied, erscheint dessen Verfassungskonformität (Art. 8 Abs. 3 BV) doch auf den ersten Blick schon fraglich und wäre angesichts möglicher Alternativen (etwa Vorrang der Erstanmeldung oder des höheren Bedarfs) auch gar nicht nötig. Der Kantonsrat hat in der Folge dem ausschliesslichen Bezug durch einen Elternteil und der vorgesehenen Prioritätenordnung diskussionslos zugestimmt (Sitzung vom 4. März 2009, Kantonsratsprotokolle 2009 S. 91).
Gestützt auf die per 1. Juli 2014 in Kraft getretene Revision des Familienrechts (AS 2014 357) wird die gemeinsame elterliche Sorge und die alternierende Obhut zunehmend zum Regelfall (vgl. dazu BGE 142 III 612 E. 4). Die zuständige Behörde nimmt im Rahmen ihres Entscheids über die Obhut des Kindes keine prozentuale Aufteilung vor, sondern überlässt dies den Parteien; diese einigen sich in der Regel nicht auf eine hälftige Aufteilung, sondern es entsteht eine Vielfalt von Lösungen, welche erst noch jederzeit Änderungen unterliegen können. Unter diesen Umständen der Verwaltung die Pflicht aufzuerlegen, in jedem Einzelfall das genaue Ausmass der Aufteilung und deren allfällige Schwankungen zu ermitteln, führte zu einem unzumutbaren Aufwand.