BGE 147 V 79 |
9. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen IV-Stelle des Kantons Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_174/2020 vom 2. November 2020 |
Regeste |
Art. 72bis IVV; polydisziplinäre Verlaufsgutachten. |
Sachverhalt |
A. Der 1966 geborene A., der zuletzt als Geschäftsführer, Teilinhaber und Sprachlehrer der B. GmbH tätig war, meldete sich im September 2014 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich nahm verschiedene erwerbliche und medizinische Abklärungen vor. Nachdem der Regionale Ärztliche Dienst (RAD) die divergierenden medizinischen Beurteilungen der Dres. med. C., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, und D., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, für nicht nachvollziehbar erachtet hatte, veranlasste sie eine polydisziplinäre Begutachtung des Versicherten in der Ärztliches Begutachtungsinstitut (ABI) GmbH, Basel. Alsdann stellte die Verwaltung A. vorbescheidweise die Ablehnung eines Rentenanspruchs in Aussicht, wogegen dieser Einwände erhob und verschiedene Berichte einreichte. Die IV-Stelle orientierte ihn daraufhin, dass eine polydisziplinäre Verlaufsbegutachtung in der ABI notwendig sei. Daran hielt die Verwaltung mit unangefochten gebliebener Zwischenverfügung vom 20. September 2017 fest. Am 19. März 2018 erstattete die ABI das Verlaufsgutachten und ergänzte dieses betreffend die Arbeitsfähigkeit am 19. April 2018. Anschliessend verneinte die IV-Stelle einen Rentenanspruch (Verfügung vom 4. Mai 2018).
|
B. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 27. Januar 2020 ab.
|
C. A. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erheben und beantragen, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen mit dem Auftrag, den Sachverhalt beweiswertig festzustellen und die geschuldete Rente zuzusprechen.
|
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
|
Aus den Erwägungen: |
Erwägung 3 |
(...)
|
(...)
|
Erwägung 7 |
Erwägung 7.3 |
7.3.1 Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der massgeblichen Norm. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss nach der wahren Tragweite der Bestimmung gesucht werden, wobei alle Auslegungselemente zu berücksichtigen sind (Methodenpluralismus). Dabei kommt es namentlich auf den Zweck der Regelung, die dem Text zugrunde liegenden Wertungen sowie auf den Sinnzusammenhang an, in dem die Norm steht. Die Entstehungsgeschichte ist zwar nicht unmittelbar entscheidend, dient aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen. Namentlich zur Auslegung neuerer Texte, die noch auf wenig veränderte Umstände und ein kaum gewandeltes Rechtsverständnis treffen, kommt den Materialien eine besondere Bedeutung zu. Vom Wortlaut darf abgewichen werden, wenn triftige Gründe dafür bestehen, dass er nicht den wahren Sinn der Regelung wiedergibt. Sind mehrere Auslegungen möglich, ist jene zu wählen, die der Verfassung am besten entspricht. Allerdings findet auch eine verfassungskonforme Auslegung ihre Grenzen im klaren Wortlaut und Sinn einer Gesetzesbestimmung (BGE 145 V 2 E. 4.1 S. 7 mit Hinweisen).
|
Erwägung 7.4 |
7.4.1 Der deutsche Wortlaut von Art. 72bis IVV stimmt mit demjenigen der französischen und italienischen Fassung überein. Daraus ergibt sich, dass die Vergabe von Aufträgen für interdisziplinäre medizinische Gutachten nach dem Zufallsprinzip zu erfolgen hat (vgl. auch BGE 139 V 349 E. 5.2.1 S. 354). Es wird nicht zwischen dem Auftrag für die Erst- und Verlaufsbegutachtung unterschieden. Es geht damit aus der Bestimmung nicht hinreichend klar hervor, ob die einmal bestimmte Gutachterstelle im Verlauf des Verfahrens erneut herangezogen werden kann oder ob die Vergabe des Verlaufsgutachtens im gleichen Abklärungsverfahren zwingend neu nach dem Zufallsprinzip zu erfolgen hat. Um die Tragweite von Art. 72bis IVV zu bestimmen, ist deshalb auf die anderen Auslegungselemente zurückzugreifen.
|
7.4.3.1 In diesem Urteil befasste sich das Bundesgericht in umfassender und einlässlicher Weise mit der Verfassungs- und EMRK-Konformität des sozialversicherungsrechtlichen Abklärungsverfahrens schweizerischen Zuschnitts. Zur Gewährleistung der Rechtmässigkeit dieses Verfahrens und um den aus dem Ertragspotenzial der involvierten medizinischen Abklärungsstellen (MEDAS) entstehenden Gefährdungen der Verfahrensgarantien zu begegnen, schuf das Bundesgericht verschiedene Korrektive. Dazu gehörte insbesondere die Stärkung der Partizipationsrechte der betroffenen Versicherten und die zufallsbasierte Vergabe bei MEDAS-Gutachteraufträgen (BGE 143 V 269 E. 3.1 S. 272; BGE 137 V 210 E. 3.1.1 S. 242). Mit Letzterem soll dem potenziellen Risiko für sachfremde Einflüsse auf die gutachterliche Unabhängigkeit vorgebeugt werden. Die Auftragsvergabe an externe Gutachterstellen soll nicht von nicht rechtlich determinierten Zielorientierungen im Sinne einer unzulässigen ergebnisbezogenen Steuerung von medizinischen Feststellungsprozessen überlagert werden, beispielsweise bei der Auswahl der Experten (BGE 137 V 210 E. 2.4.4 S. 239 f.).
|
7.4.3.2 Für die Auslegung von Art. 72bis IVV und die Beantwortung der Frage, inwiefern das Zufallsprinzip zur Anwendung kommt, ist somit massgebend, in welchem Ausmass strukturelle Korrektive aus rechtsstaatlicher Sicht erforderlich sind, um die Unabhängigkeit und Unbefangenheit des Gutachterwesens zu garantieren.
|
7.4.5 Nachdem allgemeine Abhängigkeits- und Befangenheitsbefürchtungen durch eine zufallsbasierte Auftragserteilung für das Erstgutachten eliminiert und die Erstgutachter dadurch nicht unzulässig vorbefasst sind, ist gegen ein Verlaufsgutachten innert drei Jahren nach dem Erstgutachten durch die gleiche Abklärungsstelle nichts einzuwenden. Dies insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass ein Verlaufsgutachten nicht der Einholung einer Zweitmeinung (sog. second opinion) dient und zu einer solchen auch nicht verkommen soll. Mit dem Zufallsprinzip werden strukturelle Nachteile beseitigt, es bezweckt aber nicht die Verbesserung der objektiven materiellen Erfolgsaussichten im Einzelfall (vgl. BGE 137 V 210 E. 2.1.2.3 S. 230): So auch nicht, wenn ein erstes Gutachten zu (für eine Partei) ungünstigen Schlussfolgerungen gelangte. Art. 72bis IVV ist somit nicht verletzt, wenn im Rahmen des gleichen Abklärungsverfahrens ein Verlaufsgutachten bei der gleichen medizinischen Abklärungsstelle eingeholt wird, falls die Auftragsvergabe für das Erstgutachten nach dem Zufallsprinzip erfolgte.
|
7.5 Das Erstgutachten der ABI vom 1. März 2016 erfolgte nach einer Auftragsvergabe gemäss dem Zufallsprinzip. Der RAD hat dieses Gutachten - auch mit Blick auf die Einwendungen des Beschwerdeführers - als beweiswertig eingeschätzt. Aufgrund einer möglichen psychischen Verschlechterung empfahl der RAD aber am 23. Mai 2017 ein Verlaufsgutachten bei der ABI einzuholen. Es war somit nach etwas mehr als einem Jahr im Rahmen der erstmaligen Abklärung des Rentenanspruchs zu prüfen, ob sich der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers zwischenzeitlich verschlechtert hatte. Aufgrund des engen zeitlichen Zusammenhangs zum Erstgutachten und in Anbetracht, dass nach dem hiervor Dargelegten keine Abhängigkeits- und Befangenheitsbefürchtungen gegen eine Verlaufsbegutachtung in der ABI sprachen, verletzt das Einholen eines Verlaufsgutachtens bei der ABI kein Bundesrecht. Der Umstand, dass der Beschwerdeführer mit dem Abklärungsergebnis der ABI im Erstgutachten nicht einverstanden war, ändert daran nichts. Es bestand - auch mit Blick auf die nachfolgenden Erwägungen (nicht publ.) zum Beweiswert der Einschätzungen der ABI - kein Anlass, ein Zweitgutachten (second opinion) einzuholen.
|