Urteil
|
des Gerichtshofes
|
vom 11. Juli 2002
|
In der Rechtssache
|
-- C-60/00 --
|
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Immigration Appeal Tribunal (Vereinigtes Königreich) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
|
Mary Carpenter
|
gegen
|
Secretary of State for the Home Department
|
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 49 EG und der Richtlinie 73/148/EWG des Rates vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs (ABl. L 172, S. 14)
|
erlässt
|
Der Gerichtshof unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodriguez Iglesias, der Kammerpräsidentin N. Colneric, des Kammerpräsidenten S. von Bahr sowie der Richter C. Gulmann, D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet, M. Wathelet, R. Schintgen und J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter), Generalanwältin: C. Stix-Hackl Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat
|
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
|
von Frau Carpenter, vertreten durch J. Walsh, Barrister, beauftragt von J. Wyman, Solicitor, der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch G. Amodeo als Bevollmächtigten im Beistand von D. Wyatt, QC, der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch N. Yerrell als Bevollmächtigte, aufgrund des Sitzungsberichts, nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Frau Carpenter, vertreten durch J. Walsh, der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch R. Magrill als Bevollmächtigte im Beistand von D. Wyatt, sowie der Kommission, vertreten durch N. Yerrell und H. Michard als Bevollmächtigte, in der Sitzung vom 29. Mai 2001,
|
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 13. September 2001 folgendes
|
Urteil
|
1. Das Immigration Appeal Tribunal hat mit Beschluss vom 16. Dezember 1999, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Februar 2000, gemäß Artikel 234 EG eine Frage nach der Auslegung von Artikel 49 EG und der Richtlinie 73/148/EWG des Rates vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs (ABl. L 172, S. 14, im Folgenden: Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
|
2. Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der philippinischen Staatsangehörigen Carpenter und dem Secretary of State for the Home Department (im Folgenden: Secretary of State) über deren Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich.
|
Rechtlicher Rahmen
|
Die Gemeinschaftsregelung
|
3. Artikel 49 Absatz 1 EG bestimmt:
|
"Die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Gemeinschaft für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Staat der Gemeinschaft als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind, sind nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen verboten."
|
4. Die erste Begründungserwägung der Richtlinie lautet:
|
"Die im Vertrag und in Abschnitt II der Allgemeinen Programme zur Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs vorgesehene Freizügigkeit der Personen erfordert die Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen innerhalb der Gemeinschaft für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten, die sich in irgendeinem dieser Staaten niederlassen oder dort Dienstleistungen erbringen wollen."
|
5. Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie bestimmt:
|
"Die Mitgliedstaaten heben nach Maßgabe dieser Richtlinie die Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen auf: a) für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, die sich in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen haben oder niederlassen wollen, um eine selbständige Tätigkeit auszuüben, oder die dort eine Dienstleistung erbringen wollen; b) für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten, die sich als Empfänger einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat begeben wollen; c) ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit für den Ehegatten und die noch nicht 21 Jahre alten Kinder dieser Staatsangehörigen; d) ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit für Verwendete in aufsteigender und absteigender Linie dieser Staatsangehörigen und ihrer Ehegatten, denen diese Unterhalt gewähren."
|
6. Artikel 4 Absatz 2 Unterabsatz 1 lautet:
|
|
Nationales Recht
|
7. Nach dem Immigration Act 1971 (Einwanderungsgesetz von 1971) und den United Kingdom Immigration Rules (House of Commons Paper 395) (vom Parlament des Vereinigten Königreichs 1994 erlassene Einwanderungsregelung, im Folgenden: Immigration Rules) darf, wer nicht britischer Staatsbürger ist, im Allgemeinen nur dann in das Vereinigte Königreich einreisen und sich dort aufhalten, wenn ihm eine Erlaubnis dazu erteilt wurde. Diese Erlaubnisse werden als "Einreiseerlaubnis" bzw. "Aufenthaltserlaubnis" bezeichnet.
|
8. Section 7 (1) des Immigration Act 1988 (Einwanderungsgesetz von 1988) bestimmt:
|
"Die Bestimmungen [des Immigration Act 1971] über die Erlaubnis zur Einreise in das oder zum Aufenthalt im Vereinigten Königreich gelten nicht für Personen, die einen sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergebenden durchsetzbaren Anspruch auf eine Erlaubnis zur Einreise oder zum Aufenthalt haben oder die aufgrund einer Bestimmung nach Section 2 (2) des European Communities Act (Gesetz über die Europäischen Gemeinschaften) 1972 hierzu berechtigt sind."
|
9. In Paragraph 281 der Immigration Rules werden die Anforderungen aufgeführt, die für die Erteilung einer Erlaubnis zur Einreise in das Vereinigte Königreich als Ehegatte einer im Vereinigten Königreich befindlichen und wohnenden Person erfüllt sein müssen. In Paragraph 281 (vi) heißt es, dass der Antragsteller im Besitz einer gültigen, vom Vereinigten Königreich ausgestellten Bescheinigung zur Einreise (entry clearance) als Ehegatte sein muss. Eine Person jedoch, die sich im Vereinigten Königreich befindet und aufgrund sonstigen Rechts über ein Einreise- oder Aufenthaltsrecht verfügt, kann in die Gruppe der Ehegatten wechseln, wenn sie den Anforderungen von Paragraph 284 der Immigration Rules genügt.
|
10. In Paragraph 284 der Immigration Rules sind die Anforderungen festgelegt, die bei einer Verlängerung des Rechts zum Aufenthalt im Vereinigten Königreich als Ehegatte einer im Vereinigten Königreich befindlichen und wohnenden Person erfüllt sein müssen. Nach Paragraph 284 (i) muss der Antragsteller über eine Erlaubnis zum begrenzten Aufenthalt im Vereinigten Königreich verfügen - die eine Einreiseerlaubnis umfasst -, und gemäß Paragraph 284 (iv) darf der Antragsteller sich nicht unter Verstoß gegen die Einwanderungsgesetze dort aufgehalten haben.
|
11. In Section 3 (5) (a) des Immigration Act 1971 sind die allgemeinen Bestimmungen über die Ausweisung ("deportation") aus dem Vereinigten Königreich festgelegt. Dort heißt es:
|
"Wer nicht britischer Staatsbürger ist, kann aus dem Vereinigten Königreich ausgewiesen werden: a) wenn er bei begrenzter Erlaubnis zur Einreise oder zum Aufenthalt eine Auflage nicht erfüllt, die mit der Erlaubnis verknüpft ist, oder sein Aufenthalt die in der Erlaubnis begrenzte Dauer überschreitet ..."
|
12. Was die Ausweisung des Ehegatten eines britischen Staatsangehörigen betrifft, so ist der Secretary of State gemäß Paragraph 364 der Immigration Rules verpflichtet, vor der Entscheidung über eine Anordnung der Ausweisung die besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen. In einer grundsatzpolitischen Erklärung (DP 3/96) sind jedoch die Umstände umschrieben, unter denen der Secretary of State den Aufenthalt von Ehegatten, die ausgewiesen werden können oder deren Aufenthalt illegal ist, grundsätzlich genehmigt. In Nummer 5 dieser Erklärung heißt es, dass im Grundsatz eine Ausweisung normalerweise nicht erfolgen soll, wenn die betreffende Person eine echte und dauerhafte Ehe mit einer im Vereinigten Königreich ansässigen Person eingegangen ist und wenn die Eheleute vor Einleitung des Ausweisungsverfahrens seit der Hochzeit mindestens zwei Jahre gemeinsam ununterbrochen im Vereinigten Königreich gelebt haben. In der Erklärung heißt es weiter, es sei vernünftigerweise nicht zu erwarten, dass die im Vereinigten Königreich ansässige Person ihren Ehegatten im Fall der Ausweisung begleite.
|
Der Ausgangsrechtsstreit
|
13. Frau Carpenter, eine philippinische Staatsangehörige, wurde am 18. September 1994 eine Erlaubnis zur Einreise als Besucherin ("visitor") in das Vereinigte Königreich für sechs Monate erteilt. Nach Ablauf dieser Zeit blieb sie im Vereinigten Königreich und unterließ es, eine Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis zu beantragen. Am 22. Mai 1996 heiratete sie Peter Carpenter, einen britischen Staatsangehörigen.
|
14. Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass Herr Carpenter ein Unternehmen betreibt, das Werbeflächen in medizinischen und wissenschaftlichen Zeitschriften verkauft und den Herausgebern dieser Zeitschriften verschiedene Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Verwaltung und der Veröffentlichung anbietet. Das Unternehmen hat seinen Sitz im Vereinigten Königreich, wo auch die Herausgeber der Zeitschriften, in denen es Werbeflächen verkauft, ihren Sitz haben. Ein erheblicher Teil seines Geschäfts wird mit Anzeigenkunden abgewickelt, die ihren Sitz in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft haben. Herr Carpenter reist zu Geschäftszwecken in die anderen Mitgliedstaaten.
|
15. Am 15. Juli 1996 beantragte Frau Carpenter beim Secretary of State eine Erlaubnis zum Aufenthalt im Vereinigten Königreich als Ehegattin eines Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Secretary of State vom 21. Juli 1997 abgelehnt.
|
16. Der Secretary of State erließ darüber hinaus eine Entscheidung über die Ausweisung Frau Carpenters nach den Philippinen. Diese Entscheidung sieht die Möglichkeit vor, dass Frau Carpenter das Vereinigte Königreich freiwillig verlässt. Tut sie dies nicht, wird der Secretary of State eine Ausweisungsverfügung unterzeichnen, die Frau Carpenter zunächst aufheben lassen muss, bevor sie eine Erlaubnis zur Einreise in das Vereinigte Königreich als Ehegattin eines britischen Staatsangehörigen beantragen kann.
|
17. Frau Carpenter legte gegen die Entscheidung über die Ausweisung einen Rechtsbehelf beim Immigration Adjudicator (Vereinigtes Königreich) ein und machte geltend, der Secretary of State habe nicht die Befugnis, sie auszuweisen, weil sie nach dem Gemeinschaftsrecht über ein Recht zum Aufenthalt im Vereinigten Königreich verfüge. Sie trug vor, dass ihr Ehemann zu Geschäftszwecken in den anderen Mitgliedstaaten zur Erbringung und zum Empfang von Dienstleistungen umher reisen müsse, und dass ihm dies erleichtert werde, seit sie für seine Kinder aus erster Ehe sorge, so dass ihre Ausweisung das Recht ihres Ehemannes auf Erbringung und Empfang von Dienstleistungen beschränken würde.
|
18. Der Immigration Adjudicator erkannte an, dass Frau Carpenter nicht in einer Scheinehe lebe und dass sie eine wichtige Rolle bei der Erziehung ihrer Stiefkinder spiele. Zudem sei es möglich, dass der wachsende Erfolg des Unternehmens ihres Ehemanns auf sie zurückgehe; dieser sei Erbringer von Dienstleistungen im Sinne des Gemeinschaftsrechts. Nach Ansicht des Immigration Adjudicators hat Herr Carpenter das Recht, sich zur Erbringung von Dienstleistungen in andere Mitgliedstaaten zu begeben und dabei von seiner Ehefrau begleitet zu werden. Man könne jedoch nicht davon ausgehen, dass Herr Carpenter von einer Freizügigkeit im Sinne des Gemeinschaftsrechts Gebrauch mache, da er seinen Wohnsitz im Vereinigten Königreich habe. Der Immigration Adjudicator wies daher den Rechtsbehelf von Frau Carpenter mit Entscheidung vom 10. Juni 1998 zurück.
|
19. Das Immigration Appeal Tribunal, bei dem Frau Carpenter Rechtsmittel eingelegt hat, vertritt die Auffassung, dass es bei der gemeinschaftsrechtlichen Frage, die ihm gestellt worden sei, darum gehe, ob es gegen Gemeinschaftsrecht, insbesondere gegen Artikel 49 EG und/oder die Richtlinie verstoße, dass der Secretary of State Frau Carpenter ein Aufenthaltsrecht verweigere und entscheide, sie auszuweisen, während Herr Carpenter sein Recht ausübe, in anderen Mitgliedstaaten Dienstleistungen zu erbringen, und Frau Carpenter ihn durch die Betreuung der Kinder und die Haushaltsführung mittelbar bei der Wahrnehmung seiner Rechte aus Artikel 49 EG unterstütze und ihm diese erleichtere, indem sie ihm wirtschaftlich zur Seite stehe, was es ihm ermögliche, mehr Zeit in sein Unternehmen zu investieren.
|
20. Da die Entscheidung dieses Rechtsstreits nach Ansicht des Immigration Appeal Tribunal eine Auslegung des Gemeinschaftsrechts erforderlich macht, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
|
Kann sich in einem Fall, in dem a) ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat gegenüber Personen in anderen Mitgliedstaaten Dienstleistungen erbringt und b) mit einem Ehegatten verheiratet ist, der selbst kein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, der letztgenannte Ehegatte auf i) Artikel 49 EG und/oder ii) die Richtlinie 73/148/EWG des Rates vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs berufen, um das Aufenthaltsrecht an der Seite seines Ehegatten in dessen Herkunftsmitgliedstaat zu erlangen? Fällt die Antwort auf die vorgelegte Frage anders aus, wenn der Ehegatte, der nicht Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, den anderen, bei dem dies der Fall ist, mittelbar bei der Erbringung von Dienstleistungen in anderen Mitgliedstaaten unterstützt, indem er sich um die Kinder kümmert?
|
Zur Vorlagefrage
|
Vor dem Gerichtshof abgegebene Erklärungen
|
21. Frau Carpenter räumt ein, dass sie nicht über ein eigenes Aufenthaltsrecht in irgendeinem Mitgliedstaat verfüge, macht aber geltend, ihre Rechte leiteten sich von Herrn Carpenters Rechten ab, die ihm zur Erbringung von Dienstleistungen und zum Reisen innerhalb der Europäischen Union zustünden. Ihr Ehemann habe das Recht, seine Tätigkeit im gesamten Binnenmarkt auszuüben, ohne dass ihm rechtswidrige Beschränkungen auferlegt würden. Ihre Ausweisung würde Herrn Carpenter zwingen, mit ihr auf den Philippinen zu leben, oder würde die Mitglieder des Familienverbandes trennen, wenn er im Vereinigten Königreich bliebe. Herrn Carpenters Berufstätigkeit wäre in beiden Fällen berührt. Im Übrigen könne man nicht davon ausgehen, dass die Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit, die Herrn Carpenter auferlegt würde, wenn seine Frau ausgewiesen würde, rein innerstaatlichen Charakter hätte, da er Dienstleistungen im gesamten Binnenmarkt erbringe.
|
22. Nach Ansicht des Vereinigten Königreichs hat nach den Bestimmungen der Richtlinie beispielsweise ein britischer Staatsangehöriger, der in einem anderen Mitgliedstaat Dienstleistungen erbringen möchte, das Recht, sich für die Dauer der Leistung in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten; sein Ehegatte habe das Recht, sich während des gleichen Zeitraums dort aufzuhalten. Diese Bestimmungen verliehen jedoch weder britischen Staatsangehörigen ein Recht zum Aufenthalt im Gebiet des Vereinigten Königreichs, die jedenfalls nach innerstaatlichem Recht über ein solches Recht verfügten, noch ihren Ehegatten. Der Gerichtshof habe diese Auslegung im Urteil vom 7. Juli 1992 in der Rechtssache C-370/90 (Singh, Slg. 1992, I-4265, Randnrn. 17 und 18) bestätigt.
|
23. Im Urteil vom 27. Juni 1996 in der Rechtssache C-107/94 (Asscher, Slg. 1996, I-3089) habe der Gerichtshof die Frage geprüft, ob sich ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der eine selbständige Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat, in dem er sich auch aufhalte, ausübe, gegenüber seinem Herkunftsstaat, in dessen Gebiet er gleichfalls eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübe, auf die Bestimmungen des Artikels 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 43 EG) berufen könne. Der Gerichtshof habe in Randnummer 32 jenes Urteils ausgeführt, dass die Vertragsbestimmungen über die Niederlassungsfreiheit zwar nicht für auf das Gebiet eines Mitgliedstaats beschränkte Sachverhalte gälten, dass jedoch Artikel 52 des Vertrages nicht dahin ausgelegt werden könne, dass die eigenen Staatsangehörigen eines bestimmten Mitgliedstaats von der Anwendung des Gemeinschaftsrechts ausgeschlossen wären, wenn sie sich aufgrund ihres Verhaltens gegenüber ihrem Herkunftsmitgliedstaat in einer Lage befänden, die mit derjenigen anderer Personen, die in den Genuss der durch den Vertrag garantierten Rechte und Freiheiten kämen, vergleichbar sei.
|
24. Da Herr Carpenter jedoch sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt habe, könne sich seine Ehefrau nicht auf die Urteile Singh und Asscher berufen. Folglich könne eine Person in der Lage von Frau Carpenter aus dem Gemeinschaftsrecht kein Recht auf Einreise in das Vereinigte Königreich oder auf Aufenthalt dort ableiten.
|
25. Der Kommission zufolge ist klar zwischen der Situation von Frau Carpenter und der Situation des Ehegatten eines Angehörigen eines Mitgliedstaats zu unterscheiden, der in Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit seinen Herkunftsmitgliedstaat verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben habe, um sich dort niederzulassen oder zu arbeiten.
|
26. Im letztgenannten Fall gelte das Gemeinschaftrecht zweifellos für den Ehegatten unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit, und er habe das Recht, sich mit dem Angehörigen eines Mitgliedstaats im Aufnahmemitgliedstaat niederzulassen, da dieser Staatsangehörige andernfalls von der Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit abgehalten werden könnte. Zudem müsse, wie der Gerichtshof in Randnummer 23 des Urteils Singh ausgeführt habe, der Ehegatte dieses Angehörigen eines Mitgliedstaats bei dessen Rückkehr in sein Herkunftsland zumindest die Einreise- und Aufenthaltsrechte haben, die das Gemeinschaftsrecht ihm gewähren würde, wenn sein Ehegatte in einen anderen Mitgliedstaat einreisen und sich dort aufhalten würde.
|
27. Hingegen könne der in Randnummer 23 des Urteils Singh aufgestellte Grundsatz nicht auf eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens angewandt werden, in der sich der Angehörige eines Mitgliedstaats mit seinem Ehegatten nie in einem anderen Mitgliedstaat habe niederlassen wollen, sondern nur von seinem Herkunftsstaat aus Dienstleistungen erbringe. Die Kommission meint, dass eine solche Situation eher als ein interner Sachverhalt im Sinne des Urteils vom 27. Oktober 1982 in den verbundenen Rechtssachen 35/82 und 36/82 (Morson und Jhanjan, Slg. 1982, 3723) anzusehen sei, so dass das Recht von Frau Carpenter, sich im Vereinigten Königreich aufzuhalten, wenn es denn existiere, ausschließlich eine Frage des innerstaatlichen Rechts sei.
|
Würdigung durch den Gerichtshof
|
28. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen des Vertrages über den freien Dienstleistungsverkehr und die zu ihrer Durchführung erlassenen Vorschriften keine Anwendung auf Sachverhalte finden können, die keinerlei Anknüpfungspunkt zu irgendeinem der vom Gemeinschaftsrecht erfassten Sachverhalte aufweisen (vgl. in diesem Sinne u.a. Urteil vom 21. Oktober 1999 in der Rechtssache C-97/98, Jägerskiöld, Slg. 1999, I-7319, Randnrn. 42 bis 45).
|
29. Sodann ist zu beachten, dass, wie aus Randnummer 14 des vorliegenden Urteils hervorgeht, die Berufstätigkeit von Herrn Carpenter zu einem erheblichen Teil in der Erbringung von Dienstleistungen gegen Entgelt für in anderen Mitgliedstaaten ansässige Anzeigenkunden besteht. Solche Leistungen fallen sowohl dann unter den Begriff der Dienstleistungen im Sinne des Artikels 49 EG, wenn sich der Leistungserbringer zu diesem Zweck in den Mitgliedstaat des Empfängers begibt, als auch dann, wenn er die grenzüberschreitenden Leistungen erbringt, ohne aus dem Mitgliedstaat, in dem er wohnt, auszureisen (vgl. zu der Praxis des so genannten "cold calling" Urteil vom 10. Mai 1995 in der Rechtssache C-384/93, Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141, Randnrn. 15 und 20 bis 22).
|
30. Herr Carpenter macht somit von dem durch Artikel 49 EG gewährleisteten Recht auf freien Dienstleistungsverkehr Gebrauch. Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, kann sich im Übrigen ein Leistungserbringer gegenüber dem Staat, in dem er ansässig ist, auf dieses Recht berufen, sofern die Leistungen an Leistungsempfänger erbracht werden, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind (vgl. u.a. Urteil Alpine Investments, Randnr. 30).
|
31. Außerdem zielt auf dem Gebiet der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs die Richtlinie auf die Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen innerhalb der Gemeinschaft für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten ab.
|
32. Sowohl nach dem mit der Richtlinie verfolgten Ziel als auch nach dem Wortlaut ihres Artikels 1 Absatz 1 Buchstaben a und b gilt sie in dem Fall, in dem ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats seinen Herkunftsmitgliedstaat verlässt und sich in einen anderen Mitgliedstaat begibt, sei es, um sich dort niederzulassen, sei es, um dort eine Dienstleistung zu erbringen oder eine solche Leistung zu empfangen.
|
33. Diese Auslegung findet eine Stütze u.a. in Artikel 2 Absatz 1, wonach "[d]ie Mitgliedstaaten ... den in Artikel 1 genannten Personen die Ausreise aus ihrem Hoheitsgebiet [gestatten]", in Artikel 3 Absatz 1, wonach "[d]ie Mitgliedstaaten ... den in Artikel 1 genannten Personen bei einfacher Vorlage eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses die Einreise in ihr Hoheitsgebiet [gestatten]", in Artikel 4 Absatz 1, wonach "[j]eder Mitgliedstaat ... den Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten, die sich in seinem Hoheitsgebiet niederlassen ... ein Recht auf unbefristeten Aufenthalt [gewährt]", und in Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie, wonach "[f]ür Leistungserbringer und Leistungsempfänger ... das Aufenthaltsrecht der Dauer der Leistung [entspricht]".
|
34. Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie erstreckt zwar das Recht, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und dort aufzuhalten, - ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit - auf die Ehegatten der in den Buchstaben a und b genannten Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten. Da aber die Richtlinie darauf abzielt, die Inanspruchnahme der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs durch die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu erleichtern, wurden den Ehegatten dieser Staatsangehörigen die Rechte zu dem Zweck zuerkannt, letztere begleiten zu können, wenn diese sich in einen anderen als ihren Herkunftsmitgliedstaat begeben oder sich dort aufhalten und so unter den in der Richtlinie vorgesehenen Bedingungen die Rechte wahrnehmen, die sie aus dem Vertrag herleiten.
|
35. Folglich ergibt sich sowohl aus den mit ihr verfolgten Zielen als auch aus ihrem Inhalt, dass die Richtlinie die Bedingungen regelt, unter denen ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats sowie die anderen in Artikel 1 Absatz 1 Buchstaben c und d genannten Personen den Herkunftsmitgliedstaat dieses Staatsangehörigen verlassen und in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu einem der in Artikel 1 Absatz 1 Buchstaben a und b genannten Zwecke einreisen und sich dort aufhalten können, und zwar für eine in Artikel 4 Absätze 1 oder 2 festgelegte Dauer.
|
36. Da in der Richtlinie das Recht der Familienmitglieder eines Dienstleistungserbringers auf Aufenthalt in dessen Herkunftsmitgliedstaat nicht geregelt ist, hängt die Antwort auf die Vorlagefrage somit davon ab, ob in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens ein Aufenthaltsrecht zugunsten des Ehegatten aus den Grundsätzen oder anderen Normen des Gemeinschaftsrechts hergeleitet werden kann.
|
37. Wie in den Randnummern 29 und 30 des vorliegenden Urteils festgestellt, übt Herr Carpenter das in Artikel 49 EG vorgesehene Recht auf freien Dienstleistungsverkehr aus. Die von Herrn Carpenter erbrachten Dienstleistungen machen einen erheblichen Teil seiner Erwerbstätigkeit aus, die er sowohl in seinem Herkunftsstaat für in anderen Mitgliedstaaten ansässige Personen als auch im Gebiet dieser Staaten ausübt.
|
38. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber erkannt hat, welche Bedeutung es hat, den Schutz des Familienlebens der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu gewährleisten, um die Hindernisse für die Ausübung der vom Vertrag garantierten Grundfreiheiten zu beseitigen; dies geht insbesondere aus den Bestimmungen der Verordnungen und Richtlinien des Rates über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und Selbständigen innerhalb der Gemeinschaft hervor (vgl. u.a. Artikel 10 der Verordnung [EWG] Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft [ABl. L 257, S. 2], Artikel 1 und 4 der Richtlinie 68/360/EWG des Rates vom 15. Oktober 1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft [ABl. L 257, S. 13] sowie Artikel 1 Buchstabe c und 4 der Richtlinie 73/148).
|
39. Es steht fest, dass die Trennung der Eheleute Carpenter sich nachteilig auf ihr Familienleben und damit auf die Bedingungen auswirken würde, unter denen Herr Carpenter eine Grundfreiheit wahrnimmt. Diese Freiheit könnte nämlich ihre volle Wirkung nicht entfalten, wenn Herr Carpenter von ihrer Wahrnehmung durch Hindernisse abgehalten würde, die in seinem Herkunftsland für die Einreise und den Aufenthalt seines Ehegatten bestünden (vgl. in diesem Sinne Urteil Singh, Randnr. 23).
|
40. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass sich ein Mitgliedstaat nur dann auf Gründe des Allgemeininteresses berufen kann, um eine innerstaatliche Regelung zu rechtfertigen, die geeignet ist, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit zu behindern, wenn diese Regelung mit den Grundrechten, deren Wahrung der Gerichtshof sichert, im Einklang steht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Juni 1991 in der Rechtssache C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925, Randnr. 43, und vom 26. Juni 1997 in der Rechtssache C-368/95, Familiapress, Slg. 1997, I-3689, Randnr. 24).
|
41. Die Entscheidung über die Ausweisung von Frau Carpenter ist ein Eingriff in die Verwirklichung des Rechts von Herrn Carpenter auf Achtung seines Familienlebens im Sinne des Artikels 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, unterzeichnet in Rom am 4. November 1950 (im Folgenden: Konvention), das zu den Grundrechten gehört, die nach der im Übrigen in der Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte und durch Artikel 6 Absatz 2 EU bestätigten ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützt werden.
|
42. Auch wenn die Konvention kein Recht eines Ausländers als solches gewährleistet, in ein bestimmtes Land einzureisen oder sich dort aufzuhalten, kann es einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens, wie es in Artikel 8 Absatz 1 der Konvention geschützt ist, darstellen, wenn einer Person die Einreise in ein oder der Aufenthalt in einem Land verweigert wird, in dem ihre nahen Verwandten wohnen. Ein solcher Eingriff verstößt gegen die Konvention, wenn er nicht den Anforderungen des Artikels 8 Absatz 2 genügt, d.h., wenn er nicht "gesetzlich vorgesehen", von einem oder mehreren im Hinblick auf diesen Absatz berechtigten Zielen getragen und "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" ist, d.h. durch ein zwingendes gesellschaftliches Bedürfnis gerechtfertigt ist und insbesondere in einem angemessenen Verhältnis zu dem berechtigten Ziel steht, das mit ihm verfolgt wird (vgl. u.a. Urteil des EGMR vom 2. August 2001 in der Rechtssache Boultif/Schweiz, Recueil des arrêts et décisions 2001-IX, §§ 39, 41 und 46).
|
43. Eine Entscheidung über die Ausweisung von Frau Carpenter, die unter Bedingungen wie denen des Ausgangsverfahrens getroffen wurde, wahrt kein angemessenes Verhältnis zwischen den betroffenen Interessen, nämlich Herrn Carpenters Recht auf Achtung seines Familienlebens auf der einen und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit auf der anderen Seite.
|
44. Im Ausgangsverfahren hat die Ehefrau von Herrn Carpenter zwar gegen die Einwanderungsgesetze des Vereinigten Königreichs verstoßen, indem sie nach Ablauf ihrer Erlaubnis zum Aufenthalt als Besucherin das Hoheitsgebiet nicht verlassen hat, doch war ihr Verhalten seit ihrer Ankunft im Vereinigten Königreich im September 1994 nicht Gegenstand irgendeines weiteren Vorwurfs, der die Befürchtung aufkommen lassen könnte, dass sie künftig eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt. Im Übrigen ist unstreitig, dass die im Vereinigten Königreich 1996 geschlossene Ehe keine Scheinehe ist und dass Frau Carpenter dort stets ein tatsächliches Familienleben geführt hat, indem sie insbesondere für die aus einer ersten Ehe hervorgegangenen Kinder ihres Ehemannes gesorgt hat.
|
45. Demnach stellt die Entscheidung über die Ausweisung von Frau Carpenter einen Eingriff dar, der in keinem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel steht.
|
46. Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Artikel 49 EG im Licht des Grundrechts auf Achtung des Familienlebens dahin auszulegen ist, dass er es in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens verbietet, dass der Herkunftsmitgliedstaat eines in diesem Staat ansässigen Dienstleistungserbringers, der Dienstleistungen für in anderen Mitgliedstaaten ansässige Empfänger erbringt, dessen Ehegatten, der Staatsangehöriger eines Drittstaats ist, den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet verwehrt.
|
Kosten
|
47. Die Auslagen der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
|
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof auf die ihm vom Immigration Appeal Tribunal mit Beschluss vom 16. Dezember 1999 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
|
Artikel 49 EG ist im Licht des Grundrechts auf Achtung des Familienlebens dahin auszulegen, dass er es in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens verbietet, dass der Herkunftsmitgliedstaat eines in diesem Staat ansässigen Dienstleistungserbringers, der Dienstleistungen für in anderen Mitgliedstaaten ansässige Empfänger erbringt, dessen Ehegatten, der Staatsangehöriger eines Drittstaats ist, den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet verwehrt.
|
Rodriguez Iglesias, Colneric, von Bahr, Gulmann, Edward, Puissochet, Wathelet, Schintgen, Cunha Rodrigues
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 11. Juli 2002.
|
R. Grass (Der Kanzler), G. C. Rodriguez Iglesias (Der Präsident)
|