EuGH Rs. C-313/01, Slg. 2003, S. I-13467 - Morgenbesser
 
Urteil
des Gerichtshofes (Fünfte Kammer)
13. November 2003
In der Rechtssache
-- C-313/01 --
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG von der Corte suprema di cassazione (Italien) in dem bei dieser anhängigen Rechtsstreit
Christine Morgenbesser
gegen
Consiglio dell' Ordine degli avvocati di Genova
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 10 EG, 12 EG, 14 EG, 39 EG, 43 EG und 149 EG
erlässt
Der Gerichtshof (Fünfte Kammer) unter Mitwirkung des Richters D. A. O. Edward (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Fünften Kammer sowie der Richter A. La Pergola und S. von Bahr, Generalanwältin: C. Stix-Hackl, Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
von Frau Morgenbesser, vertreten durch G. Borneto, avvocato, der italienischen Regierung, vertreten durch I. M. Braguglia im Beistand von G. Fiengo, avvocato dello Stato, der dänischen Regierung, vertreten durch J. Molde als Bevollmächtigten, der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch E. Traversa und M. Patakia als Bevollmächtigte, aufgrund des Sitzungsberichts, nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Frau Morgenbesser, vertreten durch G. Conte, avvocato, und G. Borneto, des Consiglio dell' Ordine degli avvocati di Genova, vertreten durch M. Condinanzi, avvocato, der italienischen Regierung, vertreten durch A. Cingolo, avvocato dello Stato, und der Kommission, vertreten durch E. Traversa, in der Sitzung vom 16. Januar 2003,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 20. März 2003 folgendes
 
Urteil
1. Mit Beschluss vom 19. April 2001, beim Gerichtshof eingegangen am 8. August 2001, hat die Corte suprema di cassazione gemäß Artikel 234 EG eine Frage nach der Auslegung der Artikel 10 EG, 12 EG, 14 EG, 39 EG, 43 EG und 149 EG zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2. Diese Frage stellt sich im Rahmen einer Kassationsbeschwerde, die Frau Morgenbesser gegen die Entscheidung des Consiglio Nazionale Forense (Nationaler Rat der Rechtsanwälte) (Italien) eingelegt hat, mit der die Entscheidung des Consiglio dell' Ordine degli avvocati di Genova (Vorstand der Rechtsanwaltskammer Genua) bestätigt wurde, sie nicht in das Register der "praticanti" (Rechtsanwaltsanwärter) einzutragen.
 
Rechtlicher Rahmen
Die Gemeinschaftsregelung
3. Die Richtlinie 89/48/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschließen (ABl. 1989, L 19, S. 16), gilt nach ihrem Artikel 2 für alle Angehörigen eines Mitgliedstaats, die als Selbständige oder abhängig Beschäftigte einen reglementierten Beruf in einem anderen Mitgliedstaat ausüben wollen.
4. Artikel 1 der Richtlinie 89/48 bestimmt:
    "Im Sinne dieser Richtlinie gelten
    a) als Diplome alle Diplome, Prüfungszeugnisse oder sonstige Befähigungsnachweise bzw. diese Diplome, Prüfungszeugnisse oder sonstigen Befähigungsnachweise insgesamt,
    - die in einem Mitgliedstaat von einer nach seinen Rechts- und Verwaltungsvorschriften bestimmten zuständigen Stelle ausgestellt werden,
    - aus denen hervorgeht, dass der Diplominhaber ein mindestens dreijähriges Studium oder ein dieser Dauer entsprechendes Teilzeitstudium an einer Universität oder einer Hochschule oder einer anderen Ausbildungseinrichtung mit gleichwertigem Niveau absolviert und gegebenenfalls die über das Studium hinaus erforderliche berufliche Ausbildung abgeschlossen hat, und
    - aus denen hervorgeht, dass der Zeugnisinhaber über die beruflichen Voraussetzungen verfügt, die für den Zugang zu einem reglementierten Beruf oder dessen Ausübung in diesem Mitgliedstaat erforderlich sind,
    wenn die durch das Diplom, das Prüfungszeugnis oder einen sonstigen Befähigungsnachweis bescheinigte Ausbildung überwiegend in der Gemeinschaft erworben wurde....
    (...)
    (...)
    c) als reglementierter Beruf die reglementierte berufliche Tätigkeit oder die reglementierten beruflichen Tätigkeiten insgesamt, die in einem Mitgliedstaat den betreffenden Beruf ausmachen;
    d) als reglementierte berufliche Tätigkeit eine berufliche Tätigkeit, deren Aufnahme oder Ausübung oder eine ihrer Arten der Ausübung in einem Mitgliedstaat direkt oder indirekt durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften an den Besitz eines Diploms gebunden ist. Als Art der Ausübung einer reglementierten beruflichen Tätigkeit gilt insbesondere
    - die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit in Verbindung mit der Führung eines Titels, der nur von Personen geführt werden darf, die ein Diplom besitzen, das in einschlägigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften festgelegt ist;
    (...)
    f) als Anpassungslehrgang die Ausübung eines reglementierten Berufs, die in dem Aufnahmestaat unter der Verantwortung eines qualifizierten Berufsangehörigen erfolgt und gegebenenfalls mit einer Zusatzausbildung einhergeht. Der Lehrgang ist Gegenstand einer Bewertung. Die Einzelheiten des Anpassungslehrgangs und seiner Bewertung sowie die Rechtslage des zugewanderten Lehrgangsteilnehmers werden von der zuständigen Stelle des Aufnahmestaats festgelegt;
    g) als Eignungsprüfung eine ausschließlich die beruflichen Kenntnisse des Antragstellers betreffende und von den zuständigen Stellen des Aufnahmestaats durchgeführte Prüfung, mit der die Fähigkeit des Antragstellers, in diesem Mitgliedstaat einen reglementierten Beruf auszuüben, beurteilt werden soll.
    Für die Zwecke dieser Prüfung erstellen die zuständigen Stellen ein Verzeichnis der Sachgebiete, die aufgrund eines Vergleichs zwischen der in ihrem Staat verlangten Ausbildung und der bisherigen Ausbildung des Antragstellers von dem Diplom oder dem bzw. den Prüfungszeugnissen, die der Antragsteller vorlegt, nicht abgedeckt werden.
    Die Eignungsprüfung muss dem Umstand Rechnung tragen, dass der Antragsteller in seinem Heimat- oder Herkunftsmitgliedstaat über eine berufliche Qualifikation verfügt. Sie erstreckt sich auf Sachgebiete, die aus den in dem Verzeichnis enthaltenen Sachgebieten auszuwählen sind und deren Kenntnis eine wesentliche Voraussetzung für eine Ausübung des Berufes im Aufnahmestaat ist. Diese Prüfung kann sich auch auf die Kenntnis der sich auf die betreffenden Tätigkeiten im Aufnahmestaat beziehenden berufsständischen Regeln erstrecken. Die Modalitäten der Eignungsprüfung werden von den zuständigen Stellen des Aufnahmestaats unter Wahrung der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts festgelegt.
    Im Aufnahmestaat wird die Rechtslage des Antragstellers, der sich dort auf die Eignungsprüfung vorbereiten will, von den zuständigen Stellen dieses Staats festgelegt."
5. Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 89/48 lautet:
    "Wenn der Zugang zu einem reglementierten Beruf oder dessen Ausübung im Aufnahmestaat von dem Besitz eines Diploms abhängig gemacht wird, kann die zuständige Stelle einem Angehörigen eines Mitgliedstaats den Zugang zu diesem Beruf oder dessen Ausübung unter denselben Voraussetzungen wie bei Inländern nicht wegen mangelnder Qualifikation verweigern,
    a) wenn der Antragsteller das Diplom besitzt, das in einem anderen Mitgliedstaat erforderlich ist, um Zugang zu diesem Beruf in seinem Hoheitsgebiet zu erhalten oder ihn dort auszuüben, und wenn dieses Diplom in einem Mitgliedstaat erworben wurde ..."
6. Nach Artikel 4 der Richtlinie 89/48 kann der Aufnahmestaat den Zugang zu einem reglementierten Beruf an bestimmte Voraussetzungen knüpfen. Gemäß Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b hindert Artikel 3 der Richtlinie den Aufnahmestaat nicht daran, vom Antragsteller zu verlangen, "dass er einen höchstens dreijährigen Anpassungslehrgang absolviert oder eine Eignungsprüfung ablegt".
7. Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b Unterabsatz 2 der Richtlinie 89/48 bestimmt außerdem, dass der Aufnahmestaat "[a]bweichend von diesem Grundsatz ... einen Anpassungslehrgang oder eine Eignungsprüfung vorschreiben [kann], wenn es sich um Berufe handelt, deren Ausübung eine genaue Kenntnis des nationalen Rechts erfordert und bei denen die Beratung und/oder der Beistand in Fragen des innerstaatlichen Rechts ein wesentlicher und ständiger Bestandteil der beruflichen Tätigkeit ist".
8. Am 16. Februar 1998 erließen das Europäische Parlament und der Rat die Richtlinie 98/5/EG zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde (ABl. L 77, S. 36).
Die nationale Regelung
Die grundlegenden Bestimmungen über den Beruf des "avvocato"
9. Die wesentlichen Bestimmungen über den Zugang zum Beruf des "avvocato" und die Ausübung dieses Berufes in Italien sind im Regio Decreto Legge Nr. 1578, Ordinamento delle professioni di avvocato e procuratore (Königliches Gesetzesdekret Nr. 1578 zur Regelung der Berufe des "avvocato" und des "procuratore" vom 27. November 1933 (GURI Nr. 281 vom 5. Dezember 1933, S. 5521, im Folgenden: Decreto-legge Nr. 1578/33) enthalten. (Durch das Gesetz Nr. 27 vom 27. Februar 1997 wurde der Status des "procuratore" abgeschafft.)
10. Nach Artikel 17 Absatz 1 Nummern 1 und 4 bis 6 des Decreto-legge Nr. 1578/33 ist Voraussetzung für die Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte
    - die italienische Staatsangehörigkeit,
    - ein von einer Universität der Italienischen Republik verliehenes oder bestätigtes Diplom der Rechtswissenschaft ("laurea in giurisprudenza"),
    - der Abschluss einer mindestens zweijährigen zusammenhängenden Zeit der praktischen Ausbildung ("periodo di pratica") nach Erlangung des Diploms der Rechtswissenschaft mit Tätigkeit in der Kanzlei eines "avvocato" und Teilnahme an zivil- und strafrechtlichen Verhandlungen oder die Wahrnehmung der anwaltlichen Vertretung vor den Gerichten ("esercitato il patrocinio") während desselben Zeitraums,
    - das Bestehen einer Prüfung der Eignung für die Berufsausübung.
11. Die sich aus dieser Bestimmung ergebende Voraussetzung der Staatsangehörigkeit soll für die Gemeinschaftsangehörigen durch die Legge Nr. 146, Disposizioni per l'adempimento di obblighi derivanti dall' appartenenza dell'Italia alla Comunità europea, legge comunitaria 1993 (Gesetz Nr. 146 mit Vorschriften zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus der Zugehörigkeit Italiens zur Europäischen Gemeinschaft ergeben, Gemeinschaftsgesetz 1993) vom 22. Februar 1994 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 52 vom 4. März 1994) aufgehoben worden sein, der Wortlaut dieser Bestimmung wurde jedoch nicht geändert.
12. Die Zeit der praktischen Ausbildung wird in Artikel 8 des Decreto-legge Nr. 1578/33 geregelt. Diejenigen, die das Studium der Rechtswissenschaften erfolgreich abgeschlossen haben und diese Ausbildungszeit absolvieren (im Folgenden: "praticanti") werden in ein spezielles Register eingetragen, das vom Vorstand der Rechtsanwaltskammer bei dem Tribunale geführt wird, in dessen Bezirk sie ihren Wohnsitz haben. Sie unterliegen der Disziplinargewalt des Kammervorstands.
13. Nach Artikel 17 Absatz 2 des Decreto-legge Nr. 1578/33 ist auch für die Eintragung in das Register der "praticanti" ein von einer italienischen Universität verliehenes oder bestätigtes Diplom der Rechtswissenschaft Voraussetzung.
14. Nach Artikel 8 des Decreto-legge Nr. 1578/33 erhalten die "praticanti" ein Jahr nach ihrer Eintragung in das Register in bestimmten Grenzen und "für höchstens sechs Jahre" die Erlaubnis, die Vertretung und die Verteidigung vor den Tribunali des Gerichtsbezirks, zu dem die betreffende Kammer gehört, zu übernehmen. Innerhalb dieser Grenzen können sie in Strafsachen bei den genannten Tribunali amtlich bestellte "avvocati" werden, die Aufgaben der Staatsanwaltschaft wahrnehmen und als Verteidiger oder Vertreter der Staatsanwaltschaft Rechtsmittel einlegen. Die nach einem Jahr der Ausübung dieser Tätigkeiten bei den Tribunali zugelassenen "praticanti" heißen "praticanti-patrocinanti" (vertretungsberechtigte Rechtsanwaltsanwärter).
Die Bestimmungen zur Umsetzung der Richtlinien 89/48 und 98/5
15. Das Decreto legislativo Nr. 115 vom 27. Januar 1992 (GURI Nr. 40 vom 18. Februar 1992, S. 6, im Folgenden: Decreto legislativo Nr. 115/92) dient der Umsetzung der Richtlinie 89/48.
16. Artikel 1 "Anerkennung der Nachweise über eine in der Europäischen Gemeinschaft erworbene berufliche Ausbildung" des Decreto legislativo bestimmt:
    "1. Die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft ausgestellten Nachweise, die eine berufliche Ausbildung bestätigen, von der die Ausübung eines Berufes nach dem Recht dieses Staates abhängig ist, werden in Italien gemäß den Bedingungen anerkannt, die durch die Bestimmungen dieses Dekrets aufgestellt werden.
    2. Die Anerkennung wird einem Gemeinschaftsangehörigen erteilt, damit er in Italien als Selbständiger oder als abhängig Beschäftigter den Beruf ausüben kann, der dem Beruf entspricht, für den er die Befähigung in dem Mitgliedstaat besitzt, der den Nachweis im Sinne des vorstehenden Absatzes ausgestellt hat.
    3. Die Nachweise werden anerkannt, wenn sie bestätigen, dass der Antragsteller ein mindestens dreijähriges Studium ... an einer Universität oder einer anderen Hochschule oder an einer anderen Einrichtung mit gleichwertigem Ausbildungsniveau absolviert hat."
17. Artikel 2 des Decreto legislativo Nr. 115/92 bestimmt:
    "Für Zwecke dieses Dekrets gelten als Berufe:
    a) Tätigkeiten, für deren Ausübung die Eintragung in Register oder Verzeichnisse bei Behörden oder öffentlichen Einrichtungen erforderlich ist, sofern die Eintragung von einer beruflichen Ausbildung abhängig ist, die den Anforderungen des Artikels 1 Absatz 3 entspricht;
    (...)
    c) Tätigkeiten, die unter einer Berufsbezeichnung ausgeübt werden, die nur von Personen geführt werden darf, die eine berufliche Ausbildung besitzen, die den Anforderungen des Artikels 1 Absatz 3 entspricht."
18. Artikel 5 Absatz 1 des Decreto legislativo Nr. 115/92 lautet:
    "Die durch die anerkannten Nachweise bescheinigte berufliche Ausbildung, die die in Artikel 1 Absatz 3 oder in Artikel 4 des vorliegenden Dekrets aufgestellten Kriterien erfüllt, kann sein
    a) ein abgeschlossenes Studium;
    b) ein berufliches Praktikum, das unter der Leitung eines Ausbilders absolviert und mit einer Prüfung abgeschlossen wurde;
    c) eine Zeit der beruflichen Tätigkeit, die unter der Leitung eines qualifizierten Berufsangehörigen absolviert wurde. ..."
19. Artikel 6 Absatz 2 des Decreto legislativo Nr. 115/92 bestimmt:
    "Voraussetzung für die Anerkennung ist die erfolgreiche Ablegung einer Eignungsprüfung für die Berufe des ... Rechtsanwalts ..."
20. Artikel 8 Absätze 1 und 2 des Decreto legislativo Nr. 115/92 lautet:
    "1. Die Eignungsprüfung besteht aus einer Prüfung der beruflichen und standesrechtlichen Kenntnisse sowie aus einer Bewertung der Fähigkeiten zur Ausübung des Berufes unter Berücksichtigung dessen, dass der Antragsteller im Ursprungs- oder Herkunftsstaat ein qualifizierter Berufsangehöriger ist.
    2. Die Gebiete, auf die sich die Prüfung erstreckt, sind nach Maßgabe ihrer essenziellen Bedeutung für die Ausübung des Berufes auszuwählen."
21. Artikel 9 des Decreto legislativo Nr. 115/92 bestimmt:
    "Im Einvernehmen mit dem Minister für die Koordinierung der Gemeinschaftspolitiken und dem Minister für die Universitäten sowie die wissenschaftliche und technologische Forschung und nach Anhörung des Consiglio di Stato [Staatsrat] erlässt der nach Artikel 11 zuständige Minister durch Dekret die Vorschriften und allgemeinen Leitlinien für die Anwendung der Artikel 5, 6, 7 und 8 betreffend die einzelnen Berufe und die entsprechenden Berufsausbildungen."
22. Für die juristischen Berufe ist im Anhang A zum Decreto legislativo Nr. 115/92 festgelegt, dass für die Anerkennung zur Führung des Titels "avvocato" der Justizminister zuständig ist.
23. Das Verfahren zur Anerkennung ist in Artikel 12 des Decreto legislativo Nr. 115/92 geregelt, wonach der Antrag auf Anerkennung unter Beifügung der Unterlagen betreffend die anzuerkennenden Befähigungsnachweise an den zuständigen Minister zu richten ist; dieser entscheidet binnen vier Monaten nach Stellung des Antrags durch Dekret.
24. Mit dem Decreto legislativo Nr. 96 vom 2. Februar 2001 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 79 vom 4. April 2001) wurde die Richtlinie 98/5 umgesetzt. In den Bestimmungen dieses Dekrets wird der Status der "praticanti" und der "patrocinanti" nicht geregelt.
 
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
25. Frau Morgenbesser, französische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Italien, beantragte am 27. Oktober 1999 beim Vorstand der Rechtsanwaltskammer Genua die Eintragung in das Register der "praticanti". Sie wies zu diesem Zweck nach, dass sie im Jahre 1996 in Frankreich das Diplom einer "maitrise en droit" erworben hatte. Nachdem sie für acht Monate als Juristin in einer Pariser Rechtsanwaltskanzlei gearbeitet hatte, begann sie im April 1998 in einer Kanzlei in Genua zugelassener "avvocati" zu arbeiten, wo sie auch noch zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof tätig war.
26. Am 4. November 1999 lehnte der Vorstand der Rechtsanwaltskammer Genua ihren Antrag ab und berief sich dafür auf Artikel 17 Absatz 1 Nummer 4 des Decreto-legge Nr. 1578/33, wonach die Eintragung in das Register der "praticanti" den Besitz eines von einer italienischen Universität verliehenen oder bestätigten Diploms der Rechtswissenschaft voraussetze.
27. Den von Frau Morgenbesser gegen diese Entscheidung erhobenen Widerspruch wies der Consiglio Nazionale Forense mit Entscheidung vom 12. Mai 2000 mit der Begründung zurück, dass die Widerspruchsführerin nicht berechtigt sei, in Frankreich den Beruf des Rechtsanwalts auszuüben, und dass sie nicht den notwendigen beruflichen Befähigungsnachweis besitze, um in das Register der "praticanti" eingetragen werden zu können.
28. Frau Morgenbesser stellte daraufhin bei der Università degli Studi (Universität) Genua einen Antrag auf Anerkennung ihrer "maitrise en droit". Der Consiglio di Corso di Laurea in Giurisprudenza (Ausschuss für den zum Diplom der Rechtswissenschaft führenden Studiengang) dieser Universität machte die Anerkennung von der Teilnahme an einem verkürzten Kurs von zwei Jahren Dauer, vom Bestehen von dreizehn Prüfungen sowie von der Anfertigung einer Diplomarbeit abhängig.
29. Hiergegen legte Frau Morgenbesser ein Rechtsmittel zum Tribunale amministrativo regionale von Ligurien (Italien) ein, dessen dem Rechtsmittel stattgebendes Urteil vom 5. Dezember 2001 vor dem Consiglio di Stato (Italien) angefochten wurde.
30. Inzwischen hat Frau Morgenbesser gegen die Entscheidung des Consiglio Nazionale Forense vom 12. Mai 2000 Kassationsbeschwerde eingelegt.
31. Im Rahmen dieser Beschwerde hat die Corte suprema di cassazione beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
    Kann ein Studienabschluss, den ein Gemeinschaftsbürger in einem Land der Gemeinschaft (im vorliegenden Fall Frankreich) erworben hat, in einem anderen Land (im vorliegenden Fall Italien) [zum Zweck der Eintragung in das Register der Personen, die die für eine Zulassung als Rechtsanwalt erforderliche Zeit der praktischen Ausbildung absolvieren] unabhängig von Anerkennung und Bestätigung automatisch geltend gemacht werden, und zwar gemäß den von der Klägerin angeführten Vorschriften des EG-Vertrags über das Niederlassungsrecht und die Dienstleistungsfreiheit (Artikel 10 EG, 12 EG, 14 EG, 39 EG und 43 EG ...) sowie gemäß Artikel 149 EG ...?
 
Zur Vorlagefrage
32. Dem Vorlagebeschluss zufolge sind die Artikel 10 EG, 12 EG, 14 EG, 39 EG, 43 EG und 49 EG in der Vorlagefrage nur genannt, weil sich Frau Morgenbesser auf sie berufen hat.
33. Diesem Beschluss ist jedoch zu entnehmen, dass die von der Corte suprema di cassazione vorgelegte Frage im Wesentlichen dahin geht, ob es das Gemeinschaftsrecht den Behörden eines Mitgliedstaats verwehrt, den Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Diploms der Rechtswissenschaft nur deshalb nicht in das Register der Personen, die die für eine Zulassung als Rechtsanwalt erforderliche Zeit der praktischen Ausbildung absolvieren, einzutragen, weil es sich nicht um ein von einer Universität des erstgenannten Staates verliehenes oder bestätigtes Diplom der Rechtswissenschaft handelt.
34. Ihrem Wortlaut nach wird diese Frage "unabhängig von Anerkennung und Bestätigung" gestellt. Tatsächlich ist der Antrag auf Anerkennung des von Frau Morgenbesser in Frankreich erworbenen Diploms der "maitrise en droit" Gegenstand eines anderen, beim Consiglio di Stato anhängigen Rechtsstreits (vgl. Randnrn. 28 und 29 des vorliegenden Urteils).
Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen
35. Frau Morgenbesser ist der Ansicht, dass die Tätigkeit eines "praticante", insbesondere die des "praticante-patrocinante", unter den Begriff des "reglementierten Berufes" im Sinne der Richtlinie 89/48 falle, da zum einen diese Tätigkeiten die selbständige Betreuung der laufenden Rechtsangelegenheiten, die Rechtsberatung von Mandanten und in bestimmten Fällen deren Vertretung sowie deren Verteidigung umfassten und zum anderen die Berufsregeln für Rechtsanwälte anwendbar seien.
36. Das in Artikel 17 Absatz 1 Nummer 4 des Decreto-legge Nr. 1578/33 vorgesehene Erfordernis einer vorherigen Anerkennung des Diploms durch eine italienische Universität verstoße gegen die Richtlinie 89/48. Diese lasse es nämlich zu, ein in einem Mitgliedstaat erworbenes Diplom zur Berufsausübung in einem anderen Mitgliedstaat geltend zu machen, da die Diplome, die die in dieser Richtlinie festgelegten Voraussetzungen erfüllten, automatisch gleichwertig seien.
37. Für den Fall der Nichtanwendbarkeit der Richtlinie 89/48 vertritt Frau Morgenbesser unter Berufung auf das Urteil vom 8. Juli 1999 in der Rechtssache C-234/97 (Fernández de Bobadilla, Slg. 1999, I-4773) die Meinung, Artikel 43 EG verlange, dass die für Anträge auf Zulassung zu einem Beruf zuständige Stelle, hier der Vorstand der Rechtsanwaltskammer Genua, die Kenntnisse der Antragstellerin ausschließlich anhand ihres Diploms einer "maitrise en droit" beurteile und vergleichend prüfe.
38. Der Vorstand der Rechtsanwaltskammer Genua trägt vor, dass die "praticanti" weder einen "reglementierten Beruf" im Sinne der Richtlinie 89/48 noch eine "Tätigkeit" im Sinne der Artikel 43 ff. EG ausübten, sondern sich in einem bloßen Ausbildungsverhältnis befänden.
39. Nach Ansicht der dänischen Regierung ist die Richtlinie 89/48 auf den Fall des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar, da die für die Zulassung zum Beruf erforderliche Ausbildung nicht abgeschlossen sei. Die Grundsätze, die der Gerichtshof im Urteil vom 7. Mai 1991 in der Rechtssache C-340/89 (Vlassopoulou, Slg. 1991, I-2357) entwickelt habe, erforderten keine automatische Anerkennung des ausländischen Diploms, sondern lediglich eine vergleichende Prüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten die in dem in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Diplom bescheinigt würden. Ein in einem anderen Mitgliedstaat absolviertes Praktikum könne jedoch gemäß Artikel 5 der Richtlinie angerechnet werden.
40. Die italienische Regierung bringt vor, dass es im Ausgangsrechtsstreit um die Anerkennung akademischer Titel gehe, die von der Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise zu unterscheiden sei.
41. Nach Ansicht der Kommission können nur Tätigkeiten, die üblicherweise auf Dauer und endgültig ausgeübt werden, als "reglementierter Beruf" im Sinne der Richtlinie 89/48 angesehen werden. Sie bezweifelt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Tätigkeit eines "praticante" unter diesen Begriff fallen könne.
42. Bei Nichtanwendbarkeit der Richtlinie 89/48 könnten die allgemeinen Auslegungsgrundsätze betreffend Artikel 43 EG, die im Urteil Vlassopoulou und im Urteil vom 30. November 1995 in der Rechtssache C-55/94 (Gebhard, Slg. 1995, I-4165) entwickelt worden seien, einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der die Eintragung in das Register der Personen, die eine Zeit der praktischen Ausbildung absolvierten, die Anerkennung des in einem anderen Mitgliedstaat verliehenen Diploms der Rechtswissenschaft durch eine Universität des Mitgliedstaats, in dem der Antragsteller diese Zeit der praktischen Ausbildung absolvieren wolle, voraussetze, wenn diese Anerkennung die Teilnahme an einem verkürzten Kurs, das Bestehen von dreizehn Prüfungen sowie die Anfertigung einer Diplomarbeit erfordere. Im Übrigen habe Frau Morgenbesser keine Möglichkeit gehabt, zu dem Zeitpunkt, zu dem sie ihren Antrag auf Eintragung in das Register der "praticanti" gestellt habe, geltend zu machen, dass sie bereits in Vollzeit in italienischen Rechtsanwaltskanzleien gearbeitet habe.
Würdigung durch den Gerichtshof
43. Für die Beantwortung der Vorlagefrage ist zunächst zu prüfen, ob einer Person wie der Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens die Bestimmungen der Richtlinie 98/5 über den Rechtsanwaltsberuf oder die der Richtlinie 89/48 über die gegenseitige Anerkennung der Diplome zugute kommen können. Sind diese Richtlinien nicht anwendbar, so ist anschließend zu prüfen, ob die Artikel 39 EG oder 43 EG, wie sie der Gerichtshof insbesondere im Urteil Vlassopoulou ausgelegt hat, in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens herangezogen werden können.
44. Zunächst ist angesichts des Wortlauts der Vorlagefrage darauf hinzuweisen, dass weder die Richtlinie 98/5 noch die Richtlinie 89/48, noch die Artikel 39 EG und 43 EG verlangen, dass die Anerkennung eines Diploms rein "automatisch" erfolgt.
45. Die Richtlinie 98/5 betrifft nur den voll qualifizierten Rechtsanwalt als solchen in seinem Herkunftsmitgliedstaat, so dass sie keine Anwendung auf Personen findet, die noch nicht die erforderliche berufliche Befähigung erworben haben, um den Rechtsanwaltsberuf auszuüben. Sie ist daher in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar.
46. Was die Richtlinie 89/48 angeht, so gilt sie nach ihrem Artikel 2 für alle Angehörigen eines Mitgliedstaats, die als Selbständige oder abhängig Beschäftigte einen "reglementierten Beruf" in einem anderen Mitgliedstaat ausüben wollen.
47. Frau Morgenbesser trägt vor, sie verlange nicht die Zulassung zum Beruf des "avvocato" als solchem, sondern in diesem Stadium die Zulassung als "praticante". Die Tätigkeit eines "praticante" falle unter den Begriff des "reglementierten Berufes" im Sinne der Richtlinie 89/48. Da ein Diplom der Rechtswissenschaft die einzige Voraussetzung für den Zugang zu diesem Beruf sei, könne sie sich auf ihre "maitrise en droit" berufen, um diesen Zugang zu erhalten. Eine beachtliche Zahl von "praticanti" und "praticanti-patrocinanti", die die Abschlussprüfung nicht bestanden hätten, übten weiterhin ihre juristischen Tätigkeiten aus, ohne dass sie deshalb aus dem Register der "praticanti" gestrichen würden.
48. Nach der Definition in Artikel 1 Buchstabe c der Richtlinie 89/48 ist ein reglementierter Beruf "die reglementierte berufliche Tätigkeit oder die reglementierten beruflichen Tätigkeiten insgesamt, die in einem Mitgliedstaat den betreffenden Beruf ausmachen", und nach der Definition in Artikel 1 Buchstabe d ist eine reglementierte berufliche Tätigkeit die "berufliche Tätigkeit, deren Aufnahme oder Ausübung oder eine ihrer Arten der Ausübung in einem Mitgliedstaat direkt oder indirekt durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften an den Besitz eines Diploms gebunden ist".
49. Ein Beruf ist daher als reglementiert im Sinne der Richtlinie 89/48 anzusehen, wenn die Aufnahme oder Ausübung der betreffenden beruflichen Tätigkeit durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften geregelt ist, mit denen eine Regelung aufgestellt wird, die bewirkt, dass diese berufliche Tätigkeit ausdrücklich Personen vorbehalten wird, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen, während sie die Aufnahme dieser Tätigkeit denjenigen versagt, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen (vgl. Urteile vom 1. Februar 1996 in der Rechtssache C-164/94, Aranitis, Slg. 1996, I-135, Randnr. 19, und Fernández de Bobadilla, Randnr. 17).
50. Die Aufnahme und Ausübung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Tätigkeiten eines "praticante" und eines "praticante-patrocinante" werden durch Rechtsvorschriften geregelt, mit denen eine Regelung aufgestellt wird, die diese Tätigkeiten Personen vorbehält, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen, während sie die Aufnahme dieser Tätigkeiten denjenigen versagt, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen.
51. Nach diesen Vorschriften ist die Ausübung dieser Tätigkeiten jedoch so konzipiert, dass sie den praktischen Teil der für die Zulassung zum Beruf des "avvocato" erforderlichen Ausbildung darstellt. Besteht der "praticante-patrocinante" nach Ablauf von sechs Jahren die in Artikel 17 Absatz 1 Nummer 6 des Decreto-legge Nr. 1578/33 vorgesehene Prüfung nicht, ist er gemäß diesen Vorschriften nicht weiter berechtigt, die Tätigkeiten, die er in dieser Rechtsstellung ausgeübt hat, fortzuführen.
52. Demnach kann die Tätigkeit eines "praticante-patrocinante" nicht als "reglementierter Beruf" im Sinne der Richtlinie 89/48, der sich vom Beruf des "avvocato" trennen ließe, eingestuft werden.
53. Der Umstand, dass eine beachtliche Zahl von "praticanti-patrocinanti", die die Abschlussprüfung nicht bestanden haben, weiterhin ihre juristischen Tätigkeiten ausüben und nicht aus dem Register der "praticanti" gestrichen werden, kann nicht zur Folge haben, die Tätigkeiten eines "praticante" oder eines "praticante-patrocinante" als solche als "reglementierten Beruf" im Sinne der Richtlinie 89/48 einzustufen.
54. Außerdem ist zu beachten, dass Frau Morgenbesser in Frankreich nicht den Befähigungsnachweis für den Beruf des Rechtsanwalts (CAPA) erworben hat und daher nicht über die beruflichen Qualifikationen verfügt, um die Rechtsstellung einer "stagiaire" bei der Rechtsanwaltschaft dieses Mitgliedstaats verliehen zu bekommen. Unter diesen Umständen stellt die "maitrise en droit", über die sie verfügt, für sich allein kein "Diplom, Prüfungszeugnis oder sonstigen Befähigungsnachweis" im Sinne des Artikels 1 Buchstabe a der Richtlinie 89/48 dar.
55. Demzufolge kann sich Frau Morgenbesser nicht auf die Richtlinie 89/48 berufen.
56. Angesichts dessen ist zu prüfen, ob unter den im Ausgangsfall gegebenen Umständen die Artikel 39 EG und 43 EG anzuwenden sind. Nur falls diese Bestimmungen nicht anwendbar wären, müssten die weiteren Vertragsbestimmungen geprüft werden, die das vorlegende Gericht in seiner Frage genannt hat.
57. Nach der Rechtsprechung, die in ihren Grundsätzen auf das Urteil Vlassopoulou zurückgeht, müssen die Behörden eines Mitgliedstaats, wenn sie den Antrag eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats auf Genehmigung der Ausübung eines reglementierten Berufes prüfen, die berufliche Qualifikation des Betroffenen in der Weise berücksichtigen, dass sie die in seinen Diplomen, Prüfungszeugnissen und sonstigen Befähigungsnachweisen bescheinigte Qualifikation und seine einschlägige Berufserfahrung mit der nach nationalem Recht für die Ausübung des fraglichen Berufes verlangten beruflichen Qualifikation vergleichen (vgl. zuletzt Urteil vom 16. Mai 2002 in der Rechtssache C-232/99, Kommission/Spanien, Slg. 2002, I-4235, Randnr. 21).
58. Diese Verpflichtung bezieht sich auf sämtliche Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise sowie auf die einschlägige Berufserfahrung des Betroffenen, unabhängig davon, ob sie in einem Mitgliedstaat oder in einem Drittland erworben wurden, und wird auch durch den Erlass von Richtlinien über die gegenseitige Anerkennung von Diplomen nicht in Frage gestellt (vgl. Urteile vom 14. September 2000 in der Rechtssache C-238/98, Hocsman, Slg. 2000, I-6623, Randnrn. 23 und 31, und Kommission/Spanien, Randnr. 22).
59. Nach Ansicht des Vorstands der Rechtsanwaltskammer Genua handelt es sich bei der Tätigkeit eines "praticante" um eine Ausbildungstätigkeit, auf die die Bestimmungen der Artikel 39 EG und 43 EG keine Anwendung finden.
60. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Zeit der praktischen Ausbildung umfasst jedoch die Ausübung von Tätigkeiten, die regelmäßig vom Mandanten oder von der Kanzlei, in der der "praticante" arbeitet, vergütet werden, im Hinblick auf die Aufnahme eines reglementierten Berufes, für den Artikel 43 EG gilt. Soweit die Vergütung des "praticante" die Form eines Gehalts annimmt, kann auch Artikel 39 EG Anwendung finden.
61. In einer Situation, wie sie im Ausgangsverfahren gegeben ist, kann daher Artikel 39 EG wie auch Artikel 43 EG Anwendung finden. Für die Prüfung ist es allerdings unerheblich, ob gegenüber der Weigerung des Vorstands der Rechtsanwaltskammer Genua als der für die Eintragung in das Register der "praticanti" zuständigen Stelle, für die Zwecke der Eintragung das in einem anderen Mitgliedstaat erworbene Diplom der Rechtswissenschaft und die gewonnene Berufserfahrung zu berücksichtigen, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer oder die Niederlassungsfreiheit geltend gemacht wird.
62. Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass die Ausübung des Niederlassungsrechts beeinträchtigt ist, wenn nach den nationalen Vorschriften die von dem Betroffenen in einem anderen Mitgliedstaat bereits erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten unberücksichtigt bleiben, und dass daher die zuständigen nationalen Behörden beurteilen müssen, ob diese Kenntnisse für den Nachweis des Erwerbs der fehlenden Kenntnisse ausreichen (vgl. Urteile Vlassopoulou, Randnrn. 15 und 20, und Fernández de Bobadilla, Randnr. 33).
63. In diesem Zusammenhang geht es entgegen dem Vorbringen der italienischen Regierung in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens nicht um eine bloße Frage der Anerkennung akademischer Titel.
64. Es trifft zu, dass die Anerkennung der Gleichwertigkeit eines in einem Mitgliedstaat erworbenen Diploms für akademische oder zivilrechtliche Zwecke von Bedeutung, ja sogar ausschlaggebend für die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft eines anderen Mitgliedstaats sein kann (vgl. hierzu Urteil vom 28. April 1977 in der Rechtssache 71/76, Thieffry, Slg. 1977, 765).
65. Daraus folgt jedoch nicht, dass es für die Zwecke der Prüfung, die die zuständige Stelle des Aufnahmemitgliedstaats unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens vorzunehmen hat, erforderlich wäre, die akademische Gleichwertigkeit des Diploms, auf das sich der Betroffene beruft, mit dem Diplom zu prüfen, das gewöhnlich von den Angehörigen dieses Staates verlangt wird.
66. Die Berücksichtigung des Diploms des Betroffenen, wie der von einer französischen Universität verliehenen "maitrise en droit", muss daher im Rahmen einer Gesamtbeurteilung der akademischen und beruflichen Ausbildung erfolgen, die dieser geltend machen kann.
67. Demnach hat die zuständige Behörde im Einklang mit den vom Gerichtshof in den Urteilen Vlassopoulou und Fernández de Bobadilla entwickelten Grundsätzen zu prüfen, ob und inwieweit die durch das in einem anderen Mitgliedstaat verliehene Diplom bescheinigten Kenntnisse und erworbenen Fähigkeiten oder die dort gewonnene Berufserfahrung sowie die in dem Mitgliedstaat, in dem der Bewerber seine Eintragung beantragt, gewonnene Erfahrung als - und sei es auch teilweise - Erfüllung der für die Aufnahme der betreffenden Tätigkeit verlangten Voraussetzungen anzusehen sind.
68. Dieses Prüfungsverfahren muss es den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen, objektiv festzustellen, ob ein ausländisches Diplom seinem Inhaber die gleichen oder zumindest gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie das innerstaatliche Diplom bescheinigt. Diese Beurteilung der Gleichwertigkeit eines ausländischen Diploms muss ausschließlich danach erfolgen, welches Maß an Kenntnissen und Fähigkeiten dieses Diplom unter Berücksichtigung von Art und Dauer des Studiums und der praktischen Ausbildung, auf die es sich bezieht, bei seinem Besitzer vermuten lässt (vgl. Urteile vom 15. Oktober 1987 in der Rechtssache 222/86, Heylens u.a., Slg. 1987, 4097, Randnr. 13, und Vlassopoulou, Randnr. 17).
69. Im Rahmen dieser Prüfung kann ein Mitgliedstaat jedoch objektiven Unterschieden Rechnung tragen, die sowohl hinsichtlich des im Herkunftsmitgliedstaat für den fraglichen Beruf bestehenden rechtlichen Rahmens als auch hinsichtlich des Tätigkeitsbereichs dieses Berufes vorhanden sind. Im Falle des Anwaltsberufs darf ein Mitgliedstaat somit eine vergleichende Prüfung der Diplome unter Berücksichtigung der festgestellten Unterschiede zwischen den betroffenen nationalen Rechtsordnungen vornehmen (Urteil Vlassopoulou, Randnr. 18).
70. Führt diese vergleichende Prüfung zu der Feststellung, dass die durch das ausländische Diplom bescheinigten Kenntnisse und Fähigkeiten den nach den nationalen Rechtsvorschriften verlangten entsprechen, so hat der Mitgliedstaat anzuerkennen, dass dieses Diplom die in diesen Vorschriften aufgestellten Voraussetzungen erfüllt. Ergibt der Vergleich hingegen, dass diese Kenntnisse und Fähigkeiten einander nur teilweise entsprechen, so kann der Aufnahmemitgliedstaat von dem Betroffenen den Nachweis verlangen, dass er die fehlenden Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat (Urteil Vlassopoulou, Randnr. 19).
71. Insoweit müssen die zuständigen nationalen Behörden beurteilen, ob die im Aufnahmemitgliedstaat im Rahmen eines Studiengangs oder praktischer Erfahrung erworbenen Kenntnisse für den Nachweis des Erwerbs der fehlenden Kenntnisse ausreichen (Urteil Vlassopoulou, Randnr. 20).
72. Angesichts des Vorstehenden ist dem vorlegenden Gericht zu antworten, dass es das Gemeinschaftsrecht den Behörden eines Mitgliedstaats verwehrt, den Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Diploms der Rechtswissenschaft nur deshalb nicht in das Register der Personen, die die für eine Zulassung als Rechtsanwalt erforderliche praktische Ausbildungszeit absolvieren, einzutragen, weil es sich nicht um ein von einer Universität des erstgenannten Staates verliehenes, bestätigtes oder als gleichwertig anerkanntes Diplom der Rechtswissenschaft handelt.
 
Kosten
73. Die Auslagen der italienischen und der dänischen Regierung sowie der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) auf die ihm von der Corte suprema di cassazione mit Beschluss vom 19. April 2001 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Das Gemeinschaftsrecht verwehrt es den Behörden eines Mitgliedstaats, den Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Diploms der Rechtswissenschaft nur deshalb nicht in das Register der Personen, die die für eine Zulassung als Rechtsanwalt erforderliche praktische Ausbildungszeit absolvieren, einzutragen, weil es sich nicht um ein von einer Universität des erstgenannten Staates verliehenes, bestätigtes oder als gleichwertig anerkanntes Diplom der Rechtswissenschaft handelt.
Edward, La Pergola, von Bahr
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 13. November 2003.
R. Grass (Der Kanzler), V. Skouris (Der Präsident)