EuGH Rs. C-303/05, Slg. 2007, S. I-3633 - Advocaten voor de Wereld ./. Leden van de Ministerraad
 
Urteil
des Gerichtshofs (Große Kammer)
vom 3. Mai 2007
In der Rechtssache
-- C-303/05 --
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 35 EU, eingereicht vom Arbitragehof (Belgien) mit Entscheidung vom 13. Juli 2005, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Juli 2005, in dem Verfahren
Advocaten voor de Wereld VZW
gegen
Leden van de Ministerraad
erlässt
Der Gerichtshof (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans, A. Rosas, R. Schintgen, P. Küris, E. Juhasz und J. Klucka sowie der Richter J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter), J. Makarczyk, U. Löhmus, E. Levits und L. Bay Larsen, Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer, Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Juli 2006
unter Berücksichtigung der Erklärungen
der Advocaten voor de Wereld VZW, vertreten durch L. Deleu, P. Bekaert und F. van Vlaenderen, advocaten, der belgischen Regierung, vertreten durch M. Wimmer als Bevollmächtigten im Beistand von E. Jacubowitz und P. de Maeyer, avocats, der tschechischen Regierung, vertreten durch T. Bocek als Bevollmächtigten, der spanischen Regierung, vertreten durch J. M. Rodriguez Carcamo als Bevollmächtigten, der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, J.-C. Niollet und E. Belliard als Bevollmächtigte, der lettischen Regierung, vertreten durch E. Balode-Buraka als Bevollmächtigte, der litauischen Regierung, vertreten durch D. Kriauciünas als Bevollmächtigten, der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster, M. de Mol und C. M. Wissels als Bevollmächtigte, der polnischen Regierung, vertreten durch J. Pietras als Bevollmächtigten, der finnischen Regierung, vertreten durch E. Bygglin als Bevollmächtigte, der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Nwaokolo und C. Gibbs als Bevollmächtigte im Beistand von A. Dashwood, Barrister, des Rates der Europäischen Union, vertreten durch S. Kyriakopoulou, J. Schutte und O. Petersen als Bevollmächtigte, der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch W. Bogensberger und R. Troosters als Bevollmächtigte
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. September 2006 folgendes
 
Urteil
1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Beurteilung der Gültigkeit des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1, im Folgenden: Rahmenbeschluss).
2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen einer von der Advocaten voor de Wereld VZW (im Folgenden: Advocaten voor de Wereld) beim Arbitragehof erhobenen Klage auf Nichtigerklärung des belgischen Gesetzes vom 19. Dezember 2003 über den Europäischen Haftbefehl (Moniteur belge vom 22. Dezember 2003, S. 60075, im Folgenden: Gesetz vom 19. Dezember 2003), insbesondere dessen Art. 3, Art. 5 Abs. 1 und 2 sowie Art. 7.
 
Rechtlicher Rahmen
3. Der fünfte Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses lautet:
    "Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen -- und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach -- innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen."
4. Der sechste Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses lautet:
    "Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als 'Eckstein' der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar."
5. Der siebte Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses lautet:
    "Da das Ziel der Ersetzung des auf dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 beruhenden multilateralen Auslieferungssystems von den Mitgliedstaaten durch einseitiges Vorgehen nicht ausreichend erreicht werden kann und daher wegen seines Umfangs und seiner Wirkungen besser auf Unionsebene zu erreichen ist, kann der Rat gemäß dem Subsidiaritätsprinzip nach Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union und Artikel 5 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Maßnahmen erlassen. Entsprechend dem Verhältnismäßigkeitsprinzip nach dem letztgenannten Artikel geht der vorliegende Rahmenbeschluss nicht über das für die Erreichung des genannten Ziels erforderliche Maß hinaus."
6. Der elfte Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses lautet:
    "Der Europäische Haftbefehl soll in den Beziehungen zwischen Mitgliedstaaten alle früheren Instrumente bezüglich der Auslieferung ersetzen, einschließlich der Bestimmungen von Titel III des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen, die die Auslieferung betreffen."
7. Art. 1 des auf die Art. 31 Abs. 1 Buchst. a und b EU und 34 Abs. 2 Buchst. b EU gestützten Rahmenbeschlusses bestimmt:
    "(1) Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.
    (2) Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.
    (3) Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten."
8. Art. 2 des Rahmenbeschlusses sieht vor:
    "(1) Ein Europäischer Haftbefehl kann bei Handlungen erlassen werden, die nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind, oder im Falle einer Verurteilung zu einer Strafe oder der Anordnung einer Maßregel der Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt.
    (2) Bei den nachstehenden Straftaten erfolgt, wenn sie im Ausstellungsmitgliedstaat nach der Ausgestaltung in dessen Recht mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht sind, eine Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit:
    - Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung,
    - Terrorismus,
    - Menschenhandel,
    - sexuelle Ausbeutung von Kindern und Kinderpornografie,
    - illegaler Handel mit Drogen und psychotropen Stoffen,
    - illegaler Handel mit Waffen, Munition und Sprengstoffen,
    - Korruption,
    - Betrugsdelikte, einschließlich Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften im Sinne des Übereinkommens vom 26. Juli 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften,
    - Wäsche von Erträgen aus Straftaten,
    - Geldfälschung, einschließlich der Euro-Fälschung,
    - Cyberkriminalität,
    - Umweltkriminalität, einschließlich des illegalen Handels mit bedrohten Tierarten oder mit bedrohten Pflanzen- und Baumarten,
    - Beihilfe zur illegalen Einreise und zum illegalen Aufenthalt,
    - vorsätzliche Tötung, schwere Körperverletzung,
    - illegaler Handel mit Organen und menschlichem Gewebe,
    - Entführung, Freiheitsberaubung und Geiselnahme,
    - Rassismus und Fremdenfeindlichkeit,
    - Diebstahl in organisierter Form oder mit Waffen,
    - illegaler Handel mit Kulturgütern, einschließlich Antiquitäten und Kunstgegenstände,
    - Betrug,
    - Erpressung und Schutzgelderpressung,
    - Nachahmung und Produktpiraterie,
    - Fälschung von amtlichen Dokumenten und Handel damit,
    - Fälschung von Zahlungsmitteln,
    - illegaler Handel mit Hormonen und anderen Wachstumsförderern,
    - illegaler Handel mit nuklearen und radioaktiven Substanzen,
    - Handel mit gestohlenen Kraftfahrzeugen,
    - Vergewaltigung,
    - Brandstiftung,
    - Verbrechen, die in die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs fallen,
    - Flugzeug- und Schiffsentführung,
    - Sabotage.
    (3) Der Rat kann einstimmig und nach Anhörung des Europäischen Parlaments nach Maßgabe von Artikel 39 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) jederzeit beschließen, weitere Arten von Straftaten in die in Absatz 2 enthaltene Liste aufzunehmen. Der Rat prüft im Licht des Berichts, den die Kommission ihm nach Artikel 34 Absatz 3 unterbreitet, ob es sich empfiehlt, diese Liste auszuweiten oder zu ändern.
    (4) Bei anderen Straftaten als denen des Absatzes 2 kann die Übergabe davon abhängig gemacht werden, dass die Handlungen, derentwegen der Europäische Haftbefehl ausgestellt wurde, eine Straftat nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats darstellen, unabhängig von den Tatbestandsmerkmalen oder der Bezeichnung der Straftat."
9. Art. 31 des Rahmenbeschlusses bestimmt:
    "(1) Dieser Rahmenbeschluss ersetzt am 1. Januar 2004 die entsprechenden Bestimmungen der folgenden in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich der Auslieferung geltenden Übereinkommen, unbeschadet von deren Anwendbarkeit in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten:
    a) das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957, das dazugehörige Zusatzprotokoll vom 15. Oktober 1975, das dazugehörige Zweite Zusatzprotokoll vom 17. März 1978 und das Europäische Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27. Januar 1977, soweit es sich auf die Auslieferung bezieht;
    b) das Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vereinfachung und Modernisierung der Verfahren zur Übermittlung von Auslieferungsersuchen vom 26. Mai 1989;
    c) das Übereinkommen vom 10. März 1995 über das vereinfachte Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und
    d) das Übereinkommen vom 27. September 1996 über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union;
    e) den Titel III Kapitel 4 des Übereinkommens vom 19. Juni 1990 zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen.
    (2) Es steht den Mitgliedstaaten frei, auch weiterhin die zum Zeitpunkt der Annahme dieses Rahmenbeschlusses geltenden bilateralen oder multilateralen Abkommen oder Übereinkünfte anzuwenden, sofern diese die Möglichkeit bieten, über die Ziele dieses Beschlusses hinauszugehen, und zu einer weiteren Vereinfachung oder Erleichterung der Verfahren zur Übergabe von Personen beitragen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl vorliegt.
    Es steht den Mitgliedstaaten frei, nach Inkrafttreten dieses Rahmenbeschlusses bilaterale oder multilaterale Abkommen oder Übereinkünfte zu schließen, sofern diese die Möglichkeit bieten, über die Vorschriften dieses Beschlusses hinauszugehen, und zu einer Vereinfachung oder Erleichterung der Verfahren zur Übergabe von Personen beitragen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl vorliegt, insbesondere indem kürzere Fristen als nach Artikel 17 festgelegt werden, die Liste der in Artikel 2 Absatz 2 angeführten Straftaten ausgeweitet wird, die Ablehnungsgründe nach den Artikeln 3 und 4 zusätzlich eingeschränkt werden oder der Schwellenwert nach Artikel 2 Absatz 1 oder Absatz 2 gesenkt wird.
    Die Abkommen und Übereinkünfte nach Unterabsatz 2 dürfen auf keinen Fall die Beziehungen zu den Mitgliedstaaten beeinträchtigen, die nicht Vertragspartei dieser Übereinkünfte sind.
    Die Mitgliedstaaten unterrichten den Rat und die Kommission binnen drei Monaten nach Inkrafttreten dieses Rahmenbeschlusses von den bestehenden Abkommen oder Übereinkünften nach Unterabsatz 1, die sie auch weiterhin anwenden wollen.
    Die Mitgliedstaaten unterrichten den Rat und die Kommission ferner über alle neuen Abkommen oder Übereinkünfte im Sinne von Unterabsatz 2 binnen drei Monaten nach deren Unterzeichnung.
    (3) Soweit die in Absatz 1 genannten Abkommen oder Übereinkünfte für Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten oder für Hoheitsgebiete, deren auswärtige Beziehungen ein Mitgliedstaat wahrnimmt, gelten, auf die dieser Rahmenbeschluss keine Anwendung findet, sind diese Instrumente weiterhin für die Beziehungen zwischen diesen Hoheitsgebieten und den übrigen Mitgliedstaaten maßgebend."
 
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
10. Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass Advocaten voor de Wereld mit Klageschrift vom 21. Juni 2004 beim Arbitragehof eine Klage auf völlige oder teilweise Nichtigerklärung des Gesetzes vom 19. Dezember 2003, durch das der Rahmenbeschluss in das belgische innerstaatliche Recht umgesetzt wird, erhob.
11. Sie stützt ihre Klage insbesondere darauf, dass der Rahmenbeschluss ungültig sei, da die Materie des Europäischen Haftbefehls durch ein Übereinkommen und nicht durch einen Rahmenbeschluss hätte geregelt werden müssen, denn nach Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU dürften Rahmenbeschlüsse lediglich zur "Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten" angenommen werden, was im vorliegenden Fall nicht zutreffe.
12. Ferner verstoße Art. 5 § 2 des Gesetzes vom 19. Dezember 2003, durch den Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses in das belgische Recht umgesetzt werde, gegen den Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung, da für die in dieser Bestimmung aufgeführten Straftaten bei der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ohne objektive und vernünftige Rechtfertigung vom Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit abgewichen werde, während dieses Erfordernis für andere Straftaten aufrechterhalten werde.
13. Außerdem genüge das Gesetz vom 19. Dezember 2003 auch nicht den Anforderungen des Legalitätsprinzips in Strafsachen, da es keine Straftaten mit ausreichend klarem und bestimmtem normativen Inhalt aufliste, sondern lediglich vage beschriebene Kategorien unerwünschter Verhaltensweisen. Die Justizbehörde, die über die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls entscheiden müsse, verfüge nicht über ausreichende Informationen, um tatsächlich zu prüfen, ob die Straftaten, derentwegen die gesuchte Person verfolgt werde oder für die eine Strafe gegen sie verhängt worden sei, zu einer der in Art. 5 § 2 des Gesetzes angeführten Kategorien gehöre. Der Mangel an einer klaren und bestimmten Definition der Straftaten im Sinne von Art. 5 § 2 werde zu einer unterschiedlichen Anwendung durch die einzelnen mit der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls beauftragten Behörden führen und verstoße daher auch gegen den Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung.
14. Der Arbitragehof weist darauf hin, dass das Gesetz vom 19. Dezember 2003 unmittelbare Folge der Entscheidung des Europäischen Rates sei, die Materie des Europäischen Haftbefehls durch einen Rahmenbeschluss zu regeln. Die Einwände von Advocaten voor de Wereld gegen das angefochtene Gesetz gälten im gleichen Maße für den Rahmenbeschluss. Unterschiedliche Auslegungen durch die Gerichte in Bezug auf die Gültigkeit von Gemeinschaftshandlungen und in Bezug auf die Gültigkeit der Rechtsvorschriften zu ihrer Umsetzung in innerstaatliches Recht gefährdeten die Einheit der Rechtsordnung der Gemeinschaft und verstießen gegen den allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit.
15. Zudem sei nach Art. 35 Abs. 1 EU allein der Gerichtshof befugt, im Wege der Vorabentscheidung über die Gültigkeit der Rahmenbeschlüsse zu entscheiden. Belgien habe gemäß Art. 35 Abs. 2 EU insoweit die Zuständigkeit des Gerichtshofs anerkannt.
16. Unter diesen Umständen hat der Arbitragehof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
    1. Ist der Rahmenbeschluss vereinbar mit Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU, dem zufolge Rahmenbeschlüsse nur zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten angenommen werden können?
    2. Ist Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses insofern, als er bei den darin aufgeführten Straftaten die Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit abschafft, vereinbar mit Art. 6 Abs. 2 EU, und zwar insbesondere mit dem durch diese Bestimmung gewährleisteten Legalitätsprinzip in Strafsachen sowie mit dem Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung?
 
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
Zur Zulässigkeit
17. Die tschechische Regierung macht geltend, die erste Vorlagefrage sei unzulässig, da sie den Gerichtshof zwinge, Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU zu prüfen, der eine Bestimmung des Primärrechts sei und als solche nicht seiner Kontrolle unterliege.
18. Dieses Vorbringen ist unbegründet. Nach Art. 35 Abs. 1 EU entscheidet der Gerichtshof nämlich unter den in diesem Artikel festgelegten Bedingungen im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung und die Gültigkeit u. a. der Rahmenbeschlüsse; dies schließt notwendig ein, dass er sich, auch ohne entsprechende ausdrückliche Befugnis, zur Auslegung von Bestimmungen des Primärrechts wie Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU veranlasst sehen kann, wenn er, wie im vorliegenden Verfahren, beurteilen soll, ob der Rahmenbeschluss zu Recht auf der Grundlage dieser Bestimmung erlassen wurde.
19. Die tschechische Regierung hält die erste Vorlagefrage auch deshalb für unzulässig, weil in der Vorlageentscheidung die Gründe, die es rechtfertigen sollten, den Rahmenbeschluss für ungültig zu erklären, nicht deutlich zum Ausdruck kämen. Es sei ihr daher nicht möglich gewesen, zu dieser Frage sachgerecht Stellung zu nehmen. Insbesondere hätte Advocaten voor de Wereld ihre Behauptung, dass der Rahmenbeschluss nicht zu einer Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten geführt habe, untermauern müssen, und der Arbitragehof hätte dies in der Vorlageentscheidung erwähnen müssen.
20. Es ist daran zu erinnern, dass die Angaben in den Vorlageentscheidungen nicht nur dem Gerichtshof sachdienliche Antworten ermöglichen, sondern auch den Regierungen der Mitgliedstaaten und den anderen Beteiligten die Möglichkeit geben sollen, gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs Erklärungen abzugeben (vgl. insbesondere Beschluss vom 2. März 1999, Colonia Versicherung u. a., C-422/98, Slg. 1999, I-1279, Randnr. 5).
21. Im vorliegenden Fall enthält die Vorlageentscheidung die nötigen Angaben, um diesen Anforderungen gerecht zu werden. Aus ihr geht nämlich, wie oben in Randnr. 11 festgestellt, hervor, dass nach Auffassung von Advocaten voor de Wereld die Materie des Europäischen Haftbefehls durch ein Übereinkommen und nicht durch einen Rahmenbeschluss hätte geregelt werden müssen, da Rahmenbeschlüsse nach Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU lediglich zur "Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten" angenommen werden dürften, was im vorliegenden Fall nicht zutreffe.
22. Diese Angaben reichen nicht nur aus, um dem Gerichtshof eine sachdienliche Antwort zu ermöglichen, sondern auch, um zu gewährleisten, dass die beteiligten Parteien, die Mitgliedstaaten, der Rat und die Kommission gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs Erklärungen abgeben können, wovon im Übrigen die von allen Beteiligten des vorliegenden Verfahrens, einschließlich der tschechischen Regierung, eingereichten Erklärungen zeugen.
23. Die erste Vorlagefrage ist daher zulässig.
Zur Begründetheit
24. Advocaten voor de Wereld trägt im Gegensatz zu allen anderen Beteiligten, die im vorliegenden Verfahren Erklärungen eingereicht haben, vor, dass die Materie des Europäischen Haftbefehls gemäß Art. 34 Abs. 2 Buchst. d EU durch ein Übereinkommen hätte geregelt werden müssen.
25. Zum einen habe nämlich der Rahmenbeschluss nicht zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften, wie sie Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU vorsehe, erlassen werden dürfen, da der Rat zum Erlass von Rahmenbeschlüssen zwecks schrittweiser Annäherung der Strafvorschriften nur in den in Art. 29 Abs. 2 dritter Gedankenstrich EU in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 Buchst. e EU genannten Fällen befugt sei. In anderen Fällen des gemeinsamen Vorgehens im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen müsse er nach Art. 34 Abs. 2 Buchst. d EU auf Übereinkommen zurückgreifen.
26. Zum anderen ersetze der Rahmenbeschluss nach seinem Art. 31 am 1. Januar 2004 in den Beziehungen der Mitgliedstaaten die Bestimmungen der im Bereich der Auslieferung geltenden Übereinkommen. Die geltenden Bestimmungen der Übereinkommen könnten jedoch nur durch eine Handlung gleicher Natur, nämlich ein Übereinkommen im Sinne von Art. 34 Abs. 2 Buchst. d EU, wirksam aufgehoben werden.
27. Dieses Vorbringen kann keinen Erfolg haben.
28. Wie nämlich aus Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 des Rahmenbeschlusses und aus seinen Erwägungsgründen 5 bis 7 und 11 hervorgeht, soll der Rahmenbeschluss das multilaterale System der Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden von verurteilten oder verdächtigen Personen zur Vollstreckung strafrechtlicher Urteile oder zur Strafverfolgung auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung ersetzen.
29. Die gegenseitige Anerkennung von nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats erlassenen Haftbefehlen in den verschiedenen Mitgliedstaaten setzt die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und insbesondere der Regeln voraus, denen die Voraussetzungen, die Verfahren und die Wirkungen der Übergabe zwischen nationalen Behörden unterliegen.
30. Eben dies ist Gegenstand des Rahmenbeschlusses insbesondere in Bezug auf die Regeln betreffend die Arten der aufgeführten Straftaten, bei denen keine Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit vorgesehen ist (Art. 2 Abs. 2), die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist oder abgelehnt werden kann (Art. 3 und 4), den Inhalt und die Form des Europäischen Haftbefehls (Art. 8), die Übermittlung eines Europäischen Haftbefehls und deren Modalitäten (Art. 9 und 10), die der gesuchten oder festgenommenen Person zu gewährenden Mindestgarantien (Art. 11 bis 14), die Fristen und Modalitäten der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (Art. 17) sowie die Fristen für die Übergabe der gesuchten Person (Art. 23).
31. Der Rahmenbeschluss ist auf Art. 31 Abs. 1 Buchst. a und b EU gestützt, wonach das gemeinsame Vorgehen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen darauf gerichtet ist, die justizielle Zusammenarbeit bei Gerichtsverfahren und der Vollstreckung von Entscheidungen zu erleichtern und zu beschleunigen sowie die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten zu erleichtern.
32. Entgegen dem Vorbringen von Advocaten voor de Wereld lässt nichts den Schluss zu, dass die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten durch Erlass von Rahmenbeschlüssen nach Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU ausschließlich die Strafvorschriften der Mitgliedstaaten erfassen solle, die in Art. 31 Abs. 1 Buchst. e EU genannt sind, d. h. die Vorschriften über die Tatbestandsmerkmale der strafbaren Handlungen und die Voraussetzungen der Strafen in den in der letztgenannten Bestimmung aufgeführten Bereichen.
33. Nach Art. 2 Abs. 1 vierter Gedankenstrich EU gehört die Entwicklung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu den Zielen der Union, und Art. 29 Abs. 1 EU sieht vor, dass die Mitgliedstaaten, um den Bürgern in einem solchen Raum ein hohes Maß an Sicherheit zu bieten, ein gemeinsames Vorgehen insbesondere im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen entwickeln. Nach Art. 29 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich EU wird dieses Ziel u. a. erreicht im Wege einer "engeren Zusammenarbeit der Justizbehörden sowie anderer zuständiger Behörden der Mitgliedstaaten ... nach den Artikeln 31 [EU] und 32 [EU]".
34. Art. 31 Abs. 1 Buchst. a und b EU enthält jedoch keine Angabe zu den hierzu einzusetzenden Rechtsinstrumenten.
35. Im Übrigen bestimmt Art. 34 Abs. 2 EU allgemein, dass der Rat "Maßnahmen [ergreift] und...in der geeigneten Form und nach den geeigneten Verfahren, die in diesem Titel festgelegt sind, eine Zusammenarbeit [fördert], die den Zielen der Union dient", und ermächtigt den Rat, "hierzu" Handlungen verschiedener Art, die in Abs. 2 Buchst. a bis d aufgezählt sind, anzunehmen, darunter Rahmenbeschlüsse und Übereinkommen.
36. Darüber hinaus wird weder in Art. 34 Abs. 2 EU noch in einer anderen Bestimmung des Titels VI des EU-Vertrags bei den Arten von Handlungen, die angenommen werden können, nach dem Gegenstand unterschieden, auf den sich das gemeinsame Vorgehen im Bereich der Strafsachen bezieht.
37. Art. 34 Abs. 2 EU stellt auch keine Rangfolge der in dieser Bestimmung aufgezählten unterschiedlichen Rechtsinstrumente auf, so dass nicht ausgeschlossen ist, dass der Rat für die Regelung einer Materie die Wahl zwischen mehreren Instrumenten haben kann, vorbehaltlich der durch die Natur des gewählten Instruments vorgegebenen Grenzen.
38. Unter diesen Umständen kann Art. 34 Abs. 2 EU als eine Bestimmung, in der die verschiedenen Arten von Rechtsinstrumenten aufgezählt und allgemein definiert sind, die zur Verwirklichung der in Titel VI des EU-Vertrags genannten "Ziele der Union" herangezogen werden können, nicht so ausgelegt werden, dass er es ausschließt, dass sich die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten durch Erlass eines Rahmenbeschlusses gemäß Abs. 2 Buchst. b auf andere als auf die in Art. 31 Abs. 1 Buchst. e EU genannten Bereiche beziehen kann, insbesondere auf die Materie des Europäischen Haftbefehls.
39. Die Auslegung, dass die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten durch Erlass von Rahmenbeschlüssen nicht nur in den in Art. 31 Abs. 1 Buchst. e EU genannten Bereichen zulässig ist, wird durch Art. 31 Abs. 1 Buchst. c EU bestätigt, wonach das gemeinsame Vorgehen "die Gewährleistung der Vereinbarkeit der jeweils geltenden Vorschriften der Mitgliedstaaten untereinander, soweit dies zur Verbesserung [der justiziellen] Zusammenarbeit erforderlich ist", einschließt, ohne dass dabei zwischen den verschiedenen zur Angleichung dieser Vorschriften einsetzbaren Arten von Handlungen zu unterscheiden wäre.
40. In der vorliegenden Rechtssache stellt sich angesichts dessen, dass der Rat nach Art. 34 Abs. 2 Buchst. c EU zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten keinen Beschluss erlassen kann und dass das Rechtsinstrument des gemeinsamen Standpunkts nach Art. 34 Abs. 2 Buchst. a EU darauf beschränkt ist, das Vorgehen der Union in einer gegebenen Frage zu bestimmen, die Frage, ob der Rat entgegen dem Vorbringen von Advocaten voor de Wereld die Materie des Europäischen Haftbefehls im Wege eines Rahmenbeschlusses regeln durfte, statt sich eines Übereinkommens nach Art. 34 Abs. 2 Buchst. d EU zu bedienen.
41. Der Europäische Haftbefehl hätte zwar auch Gegenstand eines Übereinkommens sein können, doch steht es im Ermessen des Rates, dem Rechtsinstrument des Rahmenbeschlusses den Vorzug zu geben, wenn, wie in der vorliegenden Rechtssache, die Voraussetzungen für den Erlass einer solchen Handlung vorliegen.
42. Diesem Ergebnis steht nicht entgegen, dass der Rahmenbeschluss nach seinem Art. 31 Abs. 1 am 1. Januar 2004 die entsprechenden Bestimmungen der dort angeführten früheren Auslieferungsübereinkommen nur in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten ersetzt. Bei jeder anderen Auslegung -- die sich weder auf Art. 34 Abs. 2 EU noch eine sonstige Bestimmung des EU-Vertrags stützen lässt -- bestünde die Gefahr, dass der dem Rat verliehenen Befugnis zum Erlass von Rahmenbeschlüssen in den vorher durch internationale Übereinkommen geregelten Bereichen der wesentliche Teil ihrer praktischen Wirksamkeit genommen wird.
43. Folglich wurde der Rahmenbeschluss nicht unter Verstoß gegen Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU erlassen.
Zur zweiten Frage
44. Advocaten voor de Wereld behauptet im Gegensatz zu allen anderen Beteiligten, die im vorliegenden Verfahren Erklärungen eingereicht haben, dass Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses durch die Abschaffung der Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit für die dort aufgeführten Straftaten gegen den Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung sowie gegen das Legalitätsprinzip in Strafsachen verstoße.
45. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Union nach Art. 6 EU auf dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit beruht und die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts achtet. Folglich unterliegen die Organe der Kontrolle, ob ihre Handlungen mit den Verträgen und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen vereinbar sind; Gleiches gilt für die Mitgliedstaaten, wenn sie das Recht der Union durchführen (vgl. u. a. Urteile vom 27. Februar 2007, Gestoras pro amnistia u. a./Rat, C-354/04 P, Slg. 2007, I-0000, Randnr. 51, und Segi u. a./Rat, C- 355/04 P, Slg. 2007, I-0000, Randnr. 51).
46. Es steht fest, dass zu diesen Grundsätzen der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen sowie der Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung, die auch durch die Art. 49, 20 und 21 der am 7. Dezember 2000 in Nizza proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 364, S. 1) bestätigt worden sind, gehören.
47. Der Gerichtshof hat daher zu prüfen, ob der Rahmenbeschluss gemessen an diesen Grundsätzen gültig ist.
Zum Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen
48. Advocaten voor de Wereld trägt vor, die Liste der über 30 Straftaten, für die die traditionelle Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit fallen gelassen werde, sofern diese Straftaten im Ausstellungsmitgliedstaat mit Freiheitsentzug im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht seien, sei so vage und unklar, dass sie gegen das Legalitätsprinzip in Strafsachen verstoße oder jedenfalls verstoßen könne. Die aufgelisteten Straftaten seien nicht mit einer gesetzlichen Definition versehen, sondern stellten sehr vage beschriebene Kategorien unerwünschter Verhaltensweisen dar. Wem aufgrund eines Europäischen Haftbefehls ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit die Freiheit entzogen werde, dem komme im Gegensatz zu nicht aufgrund eines Europäischen Haftbefehls inhaftierten Personen nicht die Garantie zugute, dass das Strafrecht so bestimmt, klar und vorhersehbar sein müsse, dass jeder im Zeitpunkt der Begehung einer Handlung wissen könne, ob es sich dabei um eine Straftat handele oder nicht.
49. Es ist daran zu erinnern, dass der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen (nullum crimen, nulla poena sine lege) zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört, die den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zugrunde liegen, und außerdem durch verschiedene völkerrechtliche Verträge, vor allem durch Art. 7 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, gewährleistet wird (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 12. Dezember 1996, X, C-74/95 und C-129/95, Slg. 1996, I-6609, Randnr. 25, und vom 28. Juni 2005, Dansk Rorindustri u. a./Kommission, C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P, Slg. 2005, I-5425, Randnrn. 215 bis 219).
50. Aus diesem Grundsatz folgt, dass das Gesetz klar die Straftaten und die für sie angedrohten Strafen definieren muss. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der Rechtsunterworfene anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortung begründen (vgl. insbesondere EGMR, Urteil Coeme u. a./Belgien vom 22. Juni 2000, Recueil des arrets et décisions, 2000-VII, S. 1, § 145).
51. Nach Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses erfolgt bei den dort aufgelisteten Straftaten, "wenn sie im Ausstellungsmitgliedstaat nach der Ausgestaltung in dessen Recht mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht sind", eine Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls und ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit.
52. Folglich ist, selbst wenn die Mitgliedstaaten zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses die Auflistung der Arten von Straftaten in dessen Art. 2 Abs. 2 wörtlich übernehmen, die Definition dieser Straftaten und der für sie angedrohten Strafen maßgeblich, die sich aus dem Recht "des Ausstellungsmitgliedstaats" ergibt. Der Rahmenbeschluss ist nicht auf eine Angleichung der fraglichen Straftaten hinsichtlich ihrer Tatbestandsmerkmale oder der angedrohten Strafen gerichtet.
53. Demnach schafft zwar Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses die Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit für die dort aufgeführten Arten von Straftaten ab, doch bleibt für die Definition dieser Straftaten und der für sie angedrohten Strafen weiterhin das Recht des Ausstellungsmitgliedstaats maßgeblich, der, wie im Übrigen Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses bestimmt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 EU niedergelegt sind, und damit den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen zu achten hat.
54. Folglich ist Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses, soweit danach die Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit für die dort aufgeführten Arten von Straftaten abgeschafft wird, nicht wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen ungültig.
Zum Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung
55. Advocaten voor de Wereld trägt vor, der Rahmenbeschluss verstoße gegen den Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung, soweit danach bei anderen Straftaten als denen des Art. 2 Abs. 2 die Übergabe davon abhängig gemacht werden könne, dass die Handlungen, derentwegen der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden sei, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats eine Straftat darstellten. Diese Unterscheidung sei nicht objektiv gerechtfertigt. Die Abschaffung der Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit sei umso anfechtbarer, als der Rahmenbeschluss keine substantiierte Definition der Tatbestände enthalte, für die die Übergabe verlangt werde. Die Regelung des Rahmenbeschlusses führe zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung der Rechtsunterworfenen, je nachdem, ob sich der fragliche Sachverhalt im Vollstreckungsmitgliedstaat oder außerhalb dieses Staates ereignet habe. Damit werde in unterschiedlicher Weise über den Entzug ihrer Freiheit entschieden, ohne dass dies gerechtfertigt wäre.
56. Es ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden, es sei denn, dass eine derartige Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (vgl. u. a. Urteil vom 26. Oktober 2006, Koninklijke Coöperatie Cosun, C-248/04, Slg. 2006, I-0000, Randnr. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).
57. Was zum einen die Auswahl der in Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses aufgelisteten 32 Arten von Straftaten angeht, durfte der Rat auf der Grundlage des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung und angesichts des hohen Maßes an Vertrauen und Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten davon ausgehen, dass die betroffenen Arten von Straftaten entweder bereits aufgrund ihrer Natur oder aufgrund der angedrohten Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren zu den Straftaten gehören, bei denen es aufgrund der Schwere der Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gerechtfertigt ist, nicht auf der Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit zu bestehen.
58. Daher ist die Unterscheidung jedenfalls selbst dann objektiv gerechtfertigt, wenn die Lage von Personen, die der Begehung von Straftaten, die in der Liste des Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses aufgeführt sind, verdächtigt werden oder wegen solcher Straftaten verurteilt worden sind, mit der Lage von Personen vergleichbar sein sollte, die anderer als der in dieser Liste aufgeführter Straftaten verdächtigt werden oder wegen solcher Straftaten verurteilt worden sind.
59. Was zum anderen den Umstand angeht, dass die mangelnde Bestimmtheit in der Definition der fraglichen Arten von Straftaten zu einer unterschiedlichen Durchführung des Rahmenbeschlusses in den einzelnen nationalen Rechtsordnungen führen könnte, genügt der Hinweis, dass der Rahmenbeschluss nicht die Angleichung des materiellen Strafrechts der Mitgliedstaaten zum Ziel hat und dass keine der Bestimmungen des Titels VI des EU-Vertrags, dessen Art. 34 und 31 als Rechtsgrundlagen des Rahmenbeschlusses angegeben sind, die Anwendung des Europäischen Haftbefehls von der Angleichung der strafrechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten im Bereich der betroffenen Straftaten abhängig macht (vgl. entsprechend u. a. Urteile vom 11. Februar 2003, Gözütok und Brügge, C-187/01 und C-385/01, Slg. 2003, I-1345, Randnr. 32, sowie vom 28. September 2006, Gasparini u. a., C-467/04, Slg. 2006, I-0000, Randnr. 29).
60. Folglich ist Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses, soweit danach die Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit für die dort aufgeführten Arten von Straftaten abgeschafft wird, nicht wegen Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 2 EU und insbesondere gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen sowie den Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung ungültig.
61. Nach alledem ist zu antworten, dass die Prüfung der vorgelegten Fragen nichts ergeben hat, was die Gültigkeit des Rahmenbeschlusses berühren könnte.
 
 Kosten
62. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Die Prüfung der vorgelegten Fragen hat nichts ergeben, was die Gültigkeit des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten berühren könnte.
Unterschriften