BGer I 266/2001 |
BGer I 266/2001 vom 19.08.2002 |
Eidgenössisches Versicherungsgericht
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Tribunale federale delle assicurazioni
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Tribunal federal d'assicuranzas
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Sozialversicherungsabteilung
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des Bundesgerichts
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Prozess
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{T 7}
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I 266/01 /Rp
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Urteil vom 19. August 2002
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III. Kammer
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Besetzung
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Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiberin Amstutz
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Parteien
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K.________, 1949, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Jürg Lienhard, Pelzgasse 15, 5001 Aarau,
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gegen
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IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau, Beschwerdegegnerin
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Vorinstanz
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Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau
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(Entscheid vom 20. März 2001)
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Sachverhalt:
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A.
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Mit Verfügung vom 18. Oktober 2000 sprach die IV-Stelle Aargau dem 1947 geborenen, ab 1989 bis zur gesundheitsbedingten Kündigung im Jahre 1993 in der Firma D.________ als Hilfsarbeiter im Bereich der Verputzerei tätig gewesenen und seither stellenlosen K.________ gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 65 % rückwirkend ab 1. Juni 2000 eine ordentliche halbe Invalidenrente (samt Zusatzrente für die Ehefrau und einer Kinderrente) zu.
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B.
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Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 20. März 2001 ab.
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C.
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K.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem sinngemässen Rechtsbegehren, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sowie der Verfügung vom 18. Oktober 2000 sei die Streitsache zur umfassenden medizinischen Abklärung an die Verwaltung, eventualiter an das kantonale Gericht zurückzuweisen, und es sei ihm gestützt darauf eine ganze Invalidenrente ab 1. Juni 1998 zuzusprechen. Des Weitern ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
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Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, hat das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
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1.
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Im Streite liegen Umfang und Beginn der dem Beschwerdeführer zustehenden Invalidenrente.
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2.
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2.1 Die Vorinstanz hat die für die Beurteilung des Rentenumfangs massgebenden Bestimmungen und Grundsätze zutreffend dargelegt, worauf verwiesen wird.
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2.2 Gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. IVG entsteht der Rentenanspruch nach Art. 28 IVG frühestens in dem Zeitpunkt, in dem die versicherte Person mindestens zu 40% bleibend erwerbsunfähig geworden ist (lit. a) oder während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens zu 40 % arbeitsunfähig gewesen war (lit. b). Der Anspruch auf eine halbe Rente entsteht, wenn die versicherte Person während eines Jahres durchschnittlich mindestens zu 50 % arbeitsunfähig gewesen und weiterhin mindestens zu 50 % erwerbsunfähig, d.h. invalid im Sinne von Art. 28 Abs. 1 ist (BGE 105 V 156 Erw. 2d; Meyer-Blaser, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, S. 236 f.). Die Rente wird vom Beginn des Monats an ausgerichtet, in dem der Anspruch entsteht, jedoch frühestens von jenem Monat an, der auf die Vollendung des 18. Altersjahres folgt (Art. 29 Abs. 2 erster Satz IVG).
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2.3 Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend, ob der Bericht für die streitige Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind. In Bezug auf Berichte von Hausärztinnen und Hausärzten darf und soll das Gericht der Erfahrungstatsache Rechnung tragen, dass diese Ärztinnen und Ärzte mitunter im Hinblick auf ihre auftragsrechtliche Vertrauensstellung in Zweifelsfällen eher zu Gunsten ihrer Patientinnen und Patienten aussagen (BGE 125 V 353 Erw. 3a und b/cc; BGE 122 V 160 Erw. 1c, je mit Hinweisen).
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3.
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3.1 Vorinstanz und Verwaltung sind bei der Bestimmung des Invaliditätsgrades von einer Restarbeitsfähigkeit von 50 % in leidensangepasster Tätigkeit ausgegangen, wobei sie sich im Wesentlichen auf das von der IV-Stelle in Auftrag gegebene Gutachten des Dr. med. L.________ psychosomatische Abteilung an der Klinik B.________, vom 11. Juli 2000 stützten. Danach ist der Beschwerdeführer aufgrund einer Komorbidität von chronisch lumbospondylogenem Syndrom bei Status nach Discushernie L5/S1 mit rechtsseitigem lumboradikulärem Syndrom L5 und der diagnostizierten allgemeinen Somatisierungsstörung (ICD-10/F45.1) sowie der depressiven Reaktion (ICD-10/F43.21) bei eingeschränkten Bewältigungsstrategien im Umgang mit der Schmerzsymptomatik nur noch in leichten, wechselbelastenden Tätigkeiten einsetzbar. Aus medizinisch-theoretischer Sicht besteht nach Angaben des Gutachters eine "50 %-ige Arbeitsfähigkeit, d.h. 3-4 Stunden pro Tag", ohne Aussicht auf Verbesserung.
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3.2 Wie der Beschwerdeführer zutreffend einwendet, weist die Einschätzung der verbleibenden Arbeitsfähigkeit im Gutachten vom 11. Juli 2000 insofern eine Ungereimtheit auf, als die ausdrücklich festgestellte "50%-ige Arbeitsfähigkeit" in leidensangepasster Tätigkeit nicht deckungsgleich ist mit der spezifischeren Aussage des Dr. med. L.________, dem Beschwerdeführer seien täglich maximal 3 bis 4 Stunden Arbeit zuzumuten. Wird von einer Einsatzdauer von 3,5 Stunden pro Tag (Mittelwert) ausgegangen, entspricht dies bei einer durchschnittlichen betriebsüblichen Arbeitszeit von 41.8 Stunden/Woche (Stand 2000) einer verwertbaren Leistungsfähigkeit von etwas über 40 % (41,8 %). Unter diesen Umständen darf die Prozentangabe des Dr. med. L.________, welche entweder als grobschätzige Umrechnung zu verstehen ist oder aber auf der unzutreffenden Annahme beruht, dass das tägliche Arbeitspensum eines Vollzeitbeschäftigten in der Regel maximal 8 Stunden beträgt, im Rahmen der Beweiswürdigung nicht zum Nennwert genommen werden. Stattdessen ist zu Gunsten des Beschwerdeführers von einem zumutbaren täglichen Arbeitspensum von durchschnittlich 3,5 Std., mithin einem in leichter, wechselbelastender Tätigkeit verwertbaren Leistungsvermögen von rund 40 % auszugehen.
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3.3 Von zusätzlichen Abklärungen zum Gesundheitszustand, einschliesslich einer umfassenden, interdisziplinären Begutachtung durch eine Medizinische Abklärungsstelle (MEDAS) sind bezüglich des zeitlich massgebenden Sachverhalts (BGE 121 V 366 Erw. 1b) keine neuen, rechtserheblichen Erkenntnisse zu erwarten. Die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit in leidensadaptierter Tätigkeit gemäss Gutachten vom 11. Juli 2000 beruht auf zwei klinikinternen psychiatrischen Explorationen vom 11. und 18. April 2000 und erfolgte in Kenntnis der umfassend dokumentierten langjährigen Krankheitsgeschichte sowie der psychosozialen Anamnese, insbesondere auch im Wissen um die bereits 1993/94 vermuteten psychischen Komponenten der chronifizierten, multikausalen Schmerzsymptomatik und die schon damals in Betracht gezogene reaktive Depression. Des Weitern fügen sich die ärztlichen Angaben zum verbleibenden Leistungsvermögen widerspruchsfrei in die Reihe vorangegangener Arztberichte ein und lassen schliesslich auch die subjektive Schilderung der Leiden nicht ausser Acht. Es besteht vor diesem Hintergrund kein Anlass, die Beweiskraft des Gutachtens vom 11. Juli 2000 in Frage zu stellen, zumal dessen Schlussfolgerungen trotz der vorangehend (Erw. 3.2) dargelegten Unstimmigkeit insgesamt nachvollziehbar und begründet bleiben.
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4.
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4.1 Im Rahmen der Invaliditätsbemessung ist das trotz Gesundheitsbeeinträchtigung zumutbarerweise erzielbare Einkommen (Invalideneinkommen) nach den zutreffenden Erwägungen der Vorinstanz ausgehend vom statistischen Durchschnittslohn von Männern in einfachen und repetitiven Tätigkeiten (Privatsektor) gemäss den vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen Lohnstrukturerhebungen 1998 (LSE) zu bestimmen (TA1, Anforderungsniveau 4/Männer/TOTAL: Fr. 4'268.-). Unter Berücksichtigung der betriebsüblichen Arbeitszeit von 41.9 Stunden im Jahre 1998 und der Entwicklung des Nominallohnindexes bis 2000 (Verfügungserlass) ergibt dies bei einer Restarbeitsfähigkeit von 40 % (Erw. 3.2 hievor) einen Betrag von Fr. 21'696.07. Es rechtfertigt sich, hiervon einen leidensbedingten Abzug vorzunehmen (BGE 126 V 78 ff. Erw. 5). Die Vorinstanz veranschlagte diesen auf 12 %, während der Beschwerdeführer den maximal zulässigen Abzug von 25 % (siehe dazu AHI 2002, S. 67 ff. Erw. 4 mit Hinweisen) beantragt. Demgegenüber ist unter dem Blickwinkel der richterlichen Angemessenheitskontrolle (Art. 132 lit. a OG) kein triftiger Grund ersichtlich, von dem von der Verwaltung angenommenen Wert von 15 % abzuweichen (BGE 123 V 152 Erw. 2). Das Invalideneinkommen beträgt demgemäss Fr. 18'441.66 (Fr. 21'696.07 - 15 %).
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4.2 Das ohne Gesundheitsschaden hypothetisch erzielbare Einkommen (Valideneinkommen) wurde vom kantonalen Gericht zutreffend nach Massgabe des bei der Firma D.________ zuletzt erzielten Jahreseinkommens von Fr. 45'892.- (1992) festgesetzt, was angepasst an die Lohnentwicklung bis zum Jahr 2000 einen Betrag von Fr. 50'030.02 ergibt. Im Vergleich zum Invalideneinkommen in der Höhe von Fr. 18'441.66 resultiert ein Invaliditätsgrad von 63,14 %, womit kein Anspruch auf eine ganze Invalidenrente besteht.
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An diesem Ergebnis änderte nichts, wenn das Valideneinkommen zufolge des Umstands, dass der Beschwerdeführer bei der letzten Arbeitgeberfirma ein unterdurchschnittliches Gehalt erzielt hat, ausgehend von statistischen Tabellenlöhnen ermittelt würde. Diesfalls wäre analog zum Invalideneinkommen auf den Durchschnittslohn von Männern in einfachen und repetitiven Tätigkeiten gemäss TA1 LSE 1998, S. 25 (Fr. 4'268.-) abzustellen. Der daraus folgende Invaliditätsgrad würde mathematisch immer noch knapp unter der Schwelle von 66 2/3 % liegen, welche Prozentzahl rechtsprechungsgemäss (BGE 127 V 136 f. Erw. 4f) nicht zu Gunsten des Beschwerdeführers nach oben gerundet werden dürfte. Nichts Abweichendes ergibt sich bei Heranziehung der über dem gesamtschweizerischen Durchschnitt liegenden statistischen Löhne der Nordwestschweiz (TA13 LSE 1998, S. 42). Denn entgegen der Argumentation des Beschwerdeführers ist in diesem Fall nicht nur das Validen-, sondern auch das Invalideneinkommen ausgehend von der regionalen Referenzgrösse zu ermitteln mit der Folge, dass der Invaliditätsgrad derselbe bleibt, wie wenn auf die gesamtschweizerische Statistik gemäss TA1 der LSE abgestellt wird (66,00 %).
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5.
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Soweit der Beschwerdeführer eine Vorverlegung des Rentenbeginns auf den 1. Juni 1998 beantragt, kann ihm nicht gefolgt werden. Zwar war er erstelltermassen bereits im Zeitraum vom 1. Juni 1997 bis 31. Mai 1998 in erster Linie aufgrund des Rückenleidens in der angestammten Tätigkeit durchschnittlich zu 50 % arbeitsunfähig, womit die Wartezeit gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG zu jener Zeit zu laufen begonnen hatte. Dass ab 1. Juni 1998 eine den Anspruch auf eine halbe Rente begründende Erwerbsunfähigkeit von mindestens 50 % bestand, findet in den Akten indessen keine Stütze. Hingegen ist eine mindestens hälftige Invalidität ab September 1999 anzunehmen, nachdem der vom 7. Juni bis 3. September 1999 in einer geschützten Industriewerkstatt durchgeführte Arbeitsversuch mit einem ursprünglich vorgesehenen Tagespensum von 8 Stunden in körperlich leichter Arbeit selbst nach der Reduktion auf ein 50 %-Pensum gescheitert war (Bericht der Stiftung X.________ vom 28. September 1999), sodann Dr. med. C.________ die Restarbeitsfähigkeit am 1. September 1999 auf maximal noch 50 % eingeschätzt hatte und dies schliesslich durch die Ergebnisse der im April 2000 erfolgten psychosomatischen Untersuchungen in der Klinik B.________ bestätigt worden war. Der Rentenbeginn ist demnach auf den 1. September 1999 festzusetzen.
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6.
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Da es im vorliegenden Verfahren um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss Art. 134 OG keine Gerichtskosten zu erheben.
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Entsprechend dem Ausgang des Prozesses hat der in der Frage des Rentenbeginns teilweise obsiegende Beschwerdeführer Anspruch auf eine reduzierte Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 135 OG). Soweit er unterliegt, ist dem Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung zu entsprechen, da die Voraussetzungen hierfür erfüllt sind (Art. 152 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG; BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.
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Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
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1.
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In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 20. März 2001 sowie die Verfügung vom 18. Oktober 2000 insoweit abgeändert, als der Beginn des Rentenanspruchs auf den 1. September 1999 festgesetzt wird. Im Übrigen wird die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen.
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2.
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Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
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3.
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Die IV-Stelle des Kantons Aargau hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine reduzierte Parteientschädigung von Fr. 500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
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4.
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Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwalt Jürg Lienhard, Aarau, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.
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5.
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Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
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Luzern, 19. August 2002
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Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
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Der Präsident der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin:
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