BGer I 610/2002 |
BGer I 610/2002 vom 06.05.2003 |
Eidgenössisches Versicherungsgericht
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Tribunale federale delle assicurazioni
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Tribunal federal d'assicuranzas
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Sozialversicherungsabteilung
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des Bundesgerichts
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Prozess
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{T 7}
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I 610/02
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Urteil vom 6. Mai 2003
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II. Kammer
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Besetzung
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Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Ursprung und Frésard; Gerichtsschreiber Hadorn
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Parteien
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W.________, 1991, Beschwerdeführerin,handelnd durch X.________ und Y.________ und diese vertreten durch den Procap, Schweizerischer Invaliden-Verband, Froburgstrasse 4, 4600 Olten,
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gegen
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IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, Beschwerdegegnerin
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Vorinstanz
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Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen
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(Entscheid vom 4. Juli 2002)
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Sachverhalt:
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A.
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Mit Verfügung vom 25. Oktober 2001 lehnte die IV-Stelle St. Gallen ein Gesuch von W.________ (geb. 1991) um medizinische Massnahmen ab.
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B.
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Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 4. Juli 2002 ab.
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C.
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Die Eltern von W.________ lassen Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, die Sache sei zu näheren Abklärungen an die Verwaltung zurückzuweisen.
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Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
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1.
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Das kantonale Versicherungsgericht hat die gesetzlichen Bestimmungen zum Anspruch Minderjähriger auf medizinische Massnahmen (Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 IVG; Art. 13 Abs. 1 und 2 IVG), zu den Geburtsgebrechen (Art. 1 Abs. 1 und 2 GgV), namentlich der angeborenen Polyglobulie (Ziff. 331 GgV Anhang), sowie die Rechtsprechung zur Beweiswürdigung bei medizinischen Akten (BGE 125 V 195 Erw. 2, 122 V 158 ff. Erw. 1) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 25. Oktober 2001) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw 1b).
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2.
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Streitig und zu prüfen ist, ob der medizinische Sachverhalt ausreichend abgeklärt ist, um über den Anspruch der Versicherten auf medizinische Massnahmen entscheiden zu können.
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2.1 Die Vorinstanz kam auf Grund der ärztlichen Unterlagen zum Schluss, dass weder eine seit der Geburt bestehende Bluterkrankung noch ein angeborenes Leberleiden vorlägen. Die Diagnose von Prof. Dr. med. B.________, Spital G.________, im Kurzbericht vom 2. Oktober 2000, wonach die Versicherte an einem Geburtsgebrechen im Sinne von Ziff. 331 GgV-Anhang leide, finde in den übrigen medizinischen Berichten keine Stütze. Namentlich ergebe sich aus den Berichten von Prof. Dr. med. A.________, Vertrauensarzt der IV-Stelle, vom 12. Oktober 2001 und 3. Januar 2002, dass sich Ziffer 331 GgV Anhang nur auf Neugeborene beziehe, welche bei der Geburt über die Nabelschnur zu viel Blut erhielten, sich deshalb in einer bedrohlichen Situation befänden und einen Aderlass mit Plasmaersatz benötigten. Solches habe sich bei der Versicherten nicht ereignet. Trotz zahlreicher Abklärungen hätten sich sodann keine angeborenen Stoffwechselstörungen erkennen lassen. Der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin sei rechtsgenüglich abgeklärt worden, weshalb von weiteren Untersuchungen keine neuen Erkenntnisse zu erwarten seien. Deshalb müsse es dabei sein Bewenden haben, dass kein Geburtsgebrechen nachgewiesen werden könne und Leistungen nach Art. 13 IVG entfielen. Die Versicherte benötige eine Lebertransplantation. Diese Massnahme beschlage in erster Linie die Behandlung des Leidens an sich und richte sich weniger auf die berufliche Eingliederung. Daher könnten auch unter Art. 12 IVG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 IVG keine medizinischen Massnahmen zugesprochen werden.
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2.2 Demgegenüber lässt die Beschwerdeführerin geltend machen, die involvierten Ärzte seien sich über die genaue Diagnose wie auch über die Herkunft der Lebererkrankung uneinig. Ob die von Prof. B.________ angegebene Polyglobulie bereits seit der Geburt bestanden und damals zu einem Aderlass mit Plasmaersatz geführt habe, wie dies zur Anerkennung eines Geburtsgebrechens nach Ziff. 331 GgV Anhang verlangt werde, sei nicht abgeklärt worden. Frau Dr. med. H.________, vom Spital S.________, habe im Bericht vom 3. Mai 2001 eine Leberzirrhose diagnostiziert, bei welcher es sich mit grösster Wahrscheinlichkeit um ein kongenitales Leiden im Stoffwechselbereich (mögliche Ziffern gemäss GgV Anhang: 451-458) handle. Auch diesbezüglich habe die Verwaltung keine näheren Abklärungen getroffen, um ein allfälliges Geburtsgebrechen nachzuweisen.
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2.3 Gemäss Bericht des Spital S.________ vom 20. Januar 1997 verlief die Schwangerschaft bei der Mutter der Versicherten ohne Komplikationen. 16 Tage vor dem errechneten Termin sei wegen blutigem Fruchtwasser die Geburt eingeleitet worden. Die Beschwerdeführerin sei mit Stauungen bei Nabelschnurumschlingung geboren und wegen einer Neugeborenengelbsucht mit Fototherapie behandelt worden. Es folgte die Behandlung einer Hüftluxation (Ziffer 183 GgV Anhang). 1996 wurde eine kongenitale Epilepsie (Ziffer 387 GgV Anhang) entdeckt, für welche die IV in der Folge Leistungen erbrachte. Schliesslich kam die IV für die Behandlung eines angeborenen Psychoorganischen Syndroms (POS; Ziffer 404 GgV Anhang) auf. Hinweise auf ein Leberleiden finden sich in den älteren medizinischen Unterlagen nicht.
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2.4 Angesichts dieser Akten muss das Vorliegen einer angeborenen Polyglobulie im Sinne von Ziffer 331 GgV Anhang verneint werden. Wie Prof. A.________ überzeugend ausführt, bezieht sich die erwähnte Ziffer nur auf Neugeborene, welche unmittelbar nach der Geburt einen Aderlass mit Plasmaersatz benötigen. Auf diese Einschränkung nimmt Prof. B.________ in seinem Kurzbericht vom 2. Oktober 2001 nicht Bezug, weshalb nicht darauf abgestellt werden kann. Zusätzliche Versuche, alte Akten über die Geburt der Versicherten zu finden, versprechen keine neuen Erkenntnisse, zumal die Anamnese im Bericht des Spital S.________ vom 20. Januar 1997 keine Hinweise auf ein Krankheitsgeschehen im Sinne von Ziffer 331 GgV Anhang enthält. Daher ist in antizipierter Beweiswürdigung (dazu BGE 124 V 94 Erw. 4b; 122 III 469 Erw. 4a und 223 Erw. 3c) auf weitere Beweismassnahmen zu verzichten.
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2.5 Hinsichtlich einer allfälligen angeborenen Stoffwechselstörung nach den Ziffern 451 - 458 GgV Anhang waren weder Frau Dr. H.________ noch Prof. A.________ in der Lage, klare Angaben zu liefern. Zwar sprechen beide von einem höchstwahrscheinlich angeborenen Leiden; jedoch schliesst Frau Dr. H.________ mit der Bemerkung, die Frage, ob die Leberzirrhose mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erworben oder kongenital sei, könne nicht beantwortet werden. In dieser Hinsicht erscheinen weitere Abklärungen nicht sinnvoll. Prof. A.________ führt sodann aus, das Leiden lasse sich keiner Ziffer des GgV Anhangs zuordnen. Die ebenfalls diskutierte Diagnose einer Polycycthämia Vera mit Budd-Chiari-Syndrom lässt sich keiner Ziffer der GgV zuordnen. In Anbetracht dieser Aktenlage ist davon auszugehen, dass kein von der Liste der Geburtsgebrechen erfasstes Leiden vorliegt.
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2.6
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2.6.1 Findet sich ein Leiden nicht auf der Liste der Geburtsgebrechen, besteht in der Regel auch dann kein Anspruch auf medizinische Massnahmen, wenn das Leiden auf ein in der Liste aufgeführtes Geburts-gebrechen zurückgeht. Die Rechtsprechung hat allerdings erkannt, dass sich ein Anspruch auf medizinische Massnahmen ausnahmsweise - und vorbehältlich der hier nicht zur Diskussion stehenden Haftung für das Eingliederungsrisiko nach Art. 11 IVG - auch auf die Behandlung sekundärer Gesundheitsschäden erstrecken kann, die zwar nicht mehr zum Symptomkreis des Geburtsgebrechens gehören, aber nach medizinischer Erfahrung häufig die Folge dieses Gebrechens sind. Zwischen dem Geburtsgebrechen und dem sekundären Leiden muss demnach ein qualifizierter adäquater Kausalzusammenhang be-stehen. Nur wenn im Einzelfall dieser qualifizierte ursächliche Zusammenhang zwischen sekundärem Gesundheitsschaden und Geburtsgebrechen gegeben ist und sich die Behandlung überdies als notwendig erweist, hat die Invalidenversicherung im Rahmen des Art. 13 IVG für medizinische Massnahmen aufzukommen (BGE 100 V 41 Erw. 1a; Pra 1991 S. 214).
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2.6.2 Vorliegend lässt sich nicht sagen, dass die Leberzirrhose der Versicherten häufige Folge eines in der Liste aufgeführten Geburtsgebrechens sei. Jedenfalls ist kein qualifiziert adäquater Kausalzusammenhang zwischen dem genannten Leiden und einem in der Liste erfassten Geburtsgebrechen ausgewiesen. Deshalb muss es sein Bewenden dabei haben, dass kein von der GgV erfasstes Leiden vorliegt, welches nach Art. 13 IVG die Leistungspflicht der IV für medizinische Massnahmen auszulösen vermöchte.
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2.7 Schliesslich kann die Behandlung der Leberzirrhose, namentlich mittels Lebertransplantation, auch nicht unter Art. 12 IVG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 IVG übernommen werden. Wie die Vorinstanz zutreffend erwogen hat, ist die Transplantation eine Behandlung des Leidens an sich. Mit dieser Operation wird die Funktion der Leber nicht substituiert, sondern wieder hergestellt. Nach dem Gesagten fällt die Behandlung des Leberleidens in den Bereich der Kranken- und nicht der Invalidenversicherung.
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Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
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1.
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Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
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2.
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Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
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3.
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Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, der Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
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Luzern, 6. Mai 2003
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Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
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Die Vorsitzende der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
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