BGer B 105/2001
 
BGer B 105/2001 vom 05.09.2003
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
B 105/01
Urteil vom 5. September 2003
I. Kammer
Besetzung
Präsident Schön, Bundesrichter Borella, Rüedi, Lustenberger und Frésard; Gerichtsschreiber Widmer
Parteien
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
gegen
1. S.________, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Felix Schmid, Oberer Graben 42, 9000 St. Gallen,
2. ASGA Pensionskasse des Gewerbes, Oberer Graben 12, 9000 St. Gallen,
Beschwerdegegner
Vorinstanz
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen
(Entscheid vom 24. Oktober 2001)
Sachverhalt:
A.
Der 1965 geborene S.________ war als Angestellter der Firma X.________ seit 1. Mai 1997 bei der ASGA Pensionskasse des Gewerbes, St. Gallen, (nachfolgend: Pensionskasse) für die obligatorische und die weitergehende berufliche Vorsorge versichert. Im Herbst 1997 erkrankte er an einer chronischen Dickdarmentzündung (Morbus Crohn). Am 11. November 1997 musste er die Tätigkeit als Aussendienstmitarbeiter krankheitsbedingt aufgeben. Nachdem die IV-Stelle des Kantons Zürich ihm mit Vorbescheid vom 15. Juli 1999 eine halbe Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 60% ab November 1998 in Aussicht gestellt hatte, ersuchte S.________ die Pensionskasse um Ausrichtung von Invalidenleistungen aus der obligatorischen und der weitergehenden beruflichen Vorsorge. Mit Schreiben vom 25. November 1999 hielt die Pensionskasse an ihrem bereits früher vertretenen Standpunkt fest, wonach der Versicherte nur Leistungen aus der obligatorischen beruflichen Vorsorge beanspruchen könne.
B.
S.________ liess am 7. September 2000 beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen gegen die Pensionskasse Klage einreichen mit dem Begehren, die Beklagte sei zu verpflichten, ihm "rückwirkend ab 1. Dezember 1999 eine überobligatorische Pensionskassenrente bei einem Invaliditätsgrad von 60 % gemäss Versicherungsausweis auszurichten und die reglementarische Prämienbefreiung zu gewähren". Mit Entscheid vom 24. Oktober 2001 hiess das Versicherungsgericht die Klage gut und verpflichtete die Pensionskasse, dem Versicherten die ihm zustehenden Leistungen aus weitergehender Vorsorge auszurichten (Dispositiv-Ziffer 1).
C.
Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese über den Anspruch von S.________ auf Invalidenleistungen im überobligatorischen Bereich der beruflichen Vorsorge neu entscheide. Zur Hauptsache macht es geltend, der vorinstanzliche Entscheid komme im Ergebnis einer unzulässigen Rückweisung der Sache an die Vorsorgeeinrichtung gleich. Das kantonale Gericht hätte selber über die Höhe der dem Versicherten zustehenden Leistungen aus der überobligatorischen Vorsorge entscheiden müssen.
Das kantonale Gericht und S.________ lassen sich mit dem Begehren um Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vernehmen, während die Pensionskasse unter Hinweis auf die zwischenzeitlich erfolgte Festsetzung der Invalidenleistungen aus der weitergehenden Vorsorge, mit welcher sich der Versicherte einverstanden erklärt hatte, beantragt, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei als gegenstandslos abzuschreiben.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Der Antrag der Pensionskasse, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei zufolge Gegenstandslosigkeit abzuschreiben, weil die von der Vorinstanz im Grundsatz zugesprochene Invalidenrente aus der weitergehenden beruflichen Vorsorge mittlerweile im Einverständnis mit dem Versicherten auf 751 Franken im Monat festgesetzt wurde, ist unbegründet.
1.1 Gemäss Art. 103 lit. b OG in Verbindung mit Art. 4a Abs. 2 BVV 1 ist das BSV zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde berechtigt. Diese Beschwerdelegitimation ist an keine weiteren Voraussetzungen gebunden, insbesondere nicht an ein schutzwürdiges Interesse im Sinne von Art. 103 lit. a OG. Das Beschwerderecht soll den richtigen und rechtsgleichen Vollzug des Bundesverwaltungsrechts sicherstellen. Dabei muss grundsätzlich kein spezifisches öffentliches Interesse an der Anfechtung der Verfügung nachgewiesen werden. Immerhin verlangt die Rechtsprechung, dass das öffentliche Interesse in einem konkreten Fall gefährdet erscheint, weil die Behördenbeschwerde nicht dazu dienen kann, private Interessen zu schützen oder durchzusetzen. Erforderlich ist, dass es dem Beschwerde führenden Departement nicht um die Behandlung abstrakter Rechtsfragen des objektiven Rechts, sondern um konkrete Rechtsfragen eines tatsächlich bestehenden Einzelfalls geht (BGE 129 II 3 Erw. 1.1.1 mit Hinweisen).
1.2 Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Selbst wenn ein aktuelles praktisches Interesse erforderlich wäre und dieses im Laufe des Beschwerdeverfahrens dahinfällt, muss dies nach der Rechtsprechung nicht zur Abschreibung der Streitsache führen. Denn im Sinne einer Ausnahme ist auf das Erfordernis des aktuellen praktischen Interesses zu verzichten, wenn sich die aufgeworfenen Fragen jederzeit unter gleichen oder ähnlichen Umständen wieder stellen können, eine rechtzeitige Überprüfung im Einzelfall kaum möglich wäre und die Beantwortung der Frage wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung im öffentlichen Interesse liegt (BGE 111 Ib 59 Erw. 2a und 185 Erw. 2c, je mit Hinweisen; SVR 1998 UV Nr. 11 S. 32 Erw. 5b/bb).
2.
Nach ständiger Rechtsprechung ist das Berufsvorsorgegericht nach Art. 73 Abs. 1 BVG nicht befugt, die Streitsache zu ergänzenden Abklärungen und neuer Verfügung an die Vorsorgeeinrichtung zurückzuweisen (BGE 117 V 242 Erw. 2b, 115 V 239). Es besteht kein Anlass, diese Rechtsprechung in Frage zu stellen, ist doch eine Rückweisung in einem Klageverfahren der ursprünglichen Verwaltungsrechtspflege, das keine Verfügung zum Ausgangspunkt hat, ausgeschlossen. Entsprechend hat denn auch das Eidgenössische Versicherungsgericht kantonale Gerichtsentscheide, deren Dispositiv auf Rückweisung an die Vorinstanz lautete, aufgehoben und die Sache in Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an die Vorinstanz zurückgewiesen (Urteile J. vom 3. Juni 2002, B 59/00, und R. vom 4. September 2001, B 14/01).
3.
Zu prüfen ist die Frage, ob das Berufsvorsorgegericht nach Art. 73 Abs. 1 BVG grundsätzlich befugt ist, sich im Rahmen des Streitgegenstandes auf die Prüfung und Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen von Leistungen zu beschränken, ohne diese gegebenenfalls masslich selber ermitteln und festsetzen zu müssen. Das BSV verneint dies im Wesentlichen unter Hinweis auf den Untersuchungsgrundsatz, der den Richter verpflichte, selbst den rechtserheblichen Sachverhalt abzuklären.
3.1 Das Eidgenössische Versicherungsgericht selbst hat in mehreren Fällen, in welchen allein der Leistungsanspruch dem Grundsatz nach im Streit lag, dispositivmässig den Anspruch auf Invalidenleistungen aus der obligatorischen oder weitergehenden beruflichen Vorsorge festgestellt, ohne sich zur Höhe der von der Vorsorgeeinrichtung geschuldeten Leistungen zu äussern (SVR 2000 BVG Nr. 11 S. 55; Urteile H. vom 26. November 2001, B 41/00, und F. vom 15. Januar 2001, B 52/00).
3.2 Was den kantonalen Prozess betrifft, vermag die Argumentation des BSV, das auf Verpflichtung der Vorsorgeeinrichtung, dem Versicherten die Leistungen aus der weitergehenden Vorsorge auszurichten, lautende Dispositiv des angefochtenen Entscheides komme letztlich einer unzulässigen Rückweisung an die Vorsorgeeinrichtung gleich, nicht zu überzeugen, da sie entscheidende Gesichtspunkte ausser Acht lässt. Wohl trägt sie der Besonderheit Rechnung, dass im Recht der beruflichen Vorsorge auf kantonaler Ebene das Klageverfahren (der ursprünglichen Verwaltungsgerichtsbarkeit) gilt und es an einer anfechtbaren Verfügung gebricht. Sie übergeht jedoch den weiteren, gerade darin begründeten Umstand, dass die fehlende Verfügung auch nicht den Streitgegenstand bilden kann. Dieser ergibt sich einzig aus den Rechtsbegehren der Klage, und allenfalls, soweit zulässig, der Widerklage (Meyer-Blaser, Streitgegenstand im Streit - Erläuterungen zu BGE 125 V 413, in: Schaffhauser/Schlauri [Hrsg.], Aktuelle Rechtsfragen der Sozialversicherungspraxis, St. Gallen 2001, S. 9 ff., insbesondere S. 38).
Auf Grund der Dispositionsmaxime steht es im Belieben der klägerischen Partei, den Streit zu definieren, den sie dem Berufsvorsorgegericht vortragen will. Beschränkt sie sich, wie dies in der Regel zutrifft, darauf, mittels Klage einen berufsvorsorgerechtlichen Anspruch gegenüber der Vorsorgeeinrichtung dem Grundsatz nach, wie hier auf überobligatorische Invalidenleistungen, geltend zu machen, besteht für das Gericht keine Möglichkeit, den Streit auf nicht eingeklagte Punkte, wie die frankenmässige Bezifferung des allenfalls bejahten Anspruchs, auszudehnen. Nur im Rahmen des von der klägerischen Partei bestimmten Streitgegenstandes hat es nach Art. 73 Abs. 2 BVG den Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen. Der Untersuchungsgrundsatz kann nicht dazu dienen, den Streitgegenstand auf nicht eingeklagte Punkte auszudehnen. Das angerufene kantonale Berufsvorsorgegericht hat entweder - bei Fehlen der Prozess- oder Sachurteilsvoraussetzungen - ein Prozessurteil (Nichteintreten) oder ein Sachurteil zu fällen. Dieser Entscheid wird zur Verfügung im Sinne von Art. 97 in Verbindung mit Art. 98 lit. g OG und damit zum Anfechtungsgegenstand einer hiegegen eingereichten Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Streitgegenstand im letztinstanzlichen Verfahren kann demnach nur sein, worüber das kantonale Gericht auf Klage hin entschieden hat. Eine Verfahrensausdehnung auf vom kantonalen Gericht im Klageverfahren nicht beurteilte Rechtsverhältnisse fällt ausser Betracht (Meyer-Blaser, a.a.O., S. 38).
3.3 Ist hingegen die Leistungsklage betraglich beziffert, hat der BVG-Richter über Beginn und Höhe des Anspruchs zu befinden, wenn er diesen im Grundsatz bejaht, da diese Punkte zum Streitgegenstand gehören (vgl. Urteil R. vom 4. September 2001, B 14/01).
3.4 Hat das kantonale Gericht über den allein im Grundsatz eingeklagten, streitigen Anspruch entschieden, und geht es in der Folge einzig noch um die Berechnung der Leistung, ist auch abgesehen davon, dass das Massliche des Anspruchs nicht zum Streitgegenstand gehört, nicht ersichtlich, weshalb das Berufsvorsorgegericht die (bis anhin gar nicht zur Diskussion gestandene) Berechnung vornehmen soll. Vielmehr hat zunächst die Vorsorgeeinrichtung, die im Gegensatz zum Gericht über die hiezu erforderlichen Unterlagen und Computerprogramme verfügt, die Höhe der Leistung dem Ausgang des Gerichtsverfahrens entsprechend zu ermitteln. Dieses Vorgehen entspricht der Verfahrensökonomie sowie den Geboten der Einfachheit und Raschheit des Verfahrens nach Art. 73 Abs. 2 BVG. Im Weiteren gilt es zu berücksichtigen, dass es sich bei der Vorsorgeeinrichtung um eine mit öffentlichrechtlichen Aufgaben betraute Organisation des Bundesrechts handelt, die unter staatlicher Aufsicht steht und die Offizialmaxime sowie die verfassungsmässigen Grundrechte zu beachten hat (vgl. BGE 117 V 309). Dies spricht neben dem Umstand, dass das Klageverfahren nach BVG, wenn auch nur rudimentär, in Art. 73 Abs. 2 BVG geregelt ist und einfach, rasch sowie kostenlos zu sein hat, für die Nähe des erstinstanzlichen Klageverfahrens zum Sozialversicherungsprozess, in welchem auf Beschwerde hin über Leistungsansprüche regelmässig ebenfalls nur dem Grundsatz nach entschieden wird, wogegen die Berechnung der Leistung ebenfalls der Verwaltung obliegt.
3.5 Für das umschriebene und von der Vorinstanz gewählte Vorgehen sprechen weitere Argumente grundsätzlicher Natur. Es ist vorzuziehen, dass die Vorsorgeeinrichtung die Berechnung der Rentenhöhe oder die Überentschädigungsberechnung selbst vornimmt. Dies garantiert eine rechtsgleiche Behandlung der Versicherten, indem Regelungen des jeweiligen Leistungsreglements gleich gehandhabt werden. Den Interessen der Versicherten wird dadurch in prozessökonomischer Weise Rechnung getragen, indem sie zunächst ohne übermässig hohen Aufwand einen Anspruch auf Invalidenleistungen gerichtlich feststellen lassen und gegen die in der Folge durch die Vorsorgeeinrichtung vorgenommene Berechnung der Leistung wiederum klageweise vorgehen können, falls diese den anwendbaren Leistungsreglementen widerspricht. Schliesslich berücksichtigt das vom BSV in Frage gestellte Vorgehen die Aufgabenteilung zwischen Gericht und Vorsorgeeinrichtung. Während das Berufsvorsorgegericht mit dem juristischen Instrumentarium eine ihm vorgelegte Rechtsfrage zu entscheiden hat, ist die umfassende Abwicklung des Versicherungsverhältnisses auf Grund des Reglements Aufgabe der Kasse. Der die Vorsorgeeinrichtung zur Erbringung von Invalidenleistungen verpflichtende Entscheid des kantonalen Berufsvorsorgegerichts ist schliesslich auch kein Teilurteil, sondern ein instanzabschliessendes Endurteil, soweit mit der Klage einzig die Leistungspflicht der Vorsorgeeinrichtung als solche dem Gericht zum Entscheid unterbreitet wurde.
4.
Im vorliegenden Fall hat das kantonale Gericht über den eingeklagten Anspruch entschieden. Es ist bundesrechtskonform, dass es sich dabei auf den Streitgegenstand beschränkt und die betragliche Festsetzung der dem Versicherten zustehenden Leistungen aus der weitergehenden Vorsorge der Pensionskasse überlassen hat.
5.
Das Verfahren ist grundsätzlich kostenpflichtig, weil nicht die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen streitig ist, sondern einzig eine prozessuale Frage zur Diskussion stand (Art. 134 OG e contrario; Urteil J. vom 3. Juni 2002, B 59/00). Das unterliegende Bundesamt hat jedoch keine Gerichtskosten zu tragen (Art. 156 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG). Das BSV hat dem Versicherten eine Parteientschädigung auszurichten. Hingegen hat die Pensionskasse unabhängig davon, dass sie mit dem Antrag auf Abschreibung des Verfahrens nicht durchgedrungen ist, keinen Anspruch auf Parteientschädigung. Denn gemäss Art. 159 Abs. 2 OG darf im Verfahren der Verwaltungsgerichtsbeschwerde obsiegenden Behörden oder mit öffentlichrechtlichen Aufgaben betrauten Organisationen, zu welchen auch die Vorsorgeeinrichtungen zu zählen sind (BGE 118 V 169 Erw. 7), in der Regel keine Parteientschädigung zugesprochen werden.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Das Bundesamt für Sozialversicherung hat dem Versicherten für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zugestellt.
Luzern, 5. September 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der I. Kammer: Der Gerichtsschreiber: