BGer 5P.349/2003
 
BGer 5P.349/2003 vom 21.10.2003
Tribunale federale
{T 0/2}
5P.349/2003 /bmt
Urteil vom 21. Oktober 2003
II. Zivilabteilung
Besetzung
Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Ersatzrichter Zünd,
Gerichtsschreiber Schett.
Parteien
Z.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Viktor Rüegg,
gegen
P.________,
Beschwerdegegner,
Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, als Beschwerdeinstanz nach EGZGB, Postfach, 6002 Luzern.
Gegenstand
Art. 9 und 29 BV (Regelung des persönlichen Verkehrs),
Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Luzern, II. Kammer, als Beschwerdeinstanz nach EGZGB,
vom 14. August 2003.
Sachverhalt:
A.
Am 3. Februar 2003 entzog der Stadtrat von Luzern als Vormundschaftsbehörde Z.________ im Rahmen eines Kindesschutzverfahrens vorsorglich die Obhut über die beiden Söhne A.________ (geb. 1990) und B.________ (geb. 1994) und brachte sie beim Vater, P.________, unter. Diese vorsorgliche Massnahme wurde in der Folge vom Regierungsstatthalter des Amtes Luzern und vom Obergericht des Kantons Luzern (Entscheid vom 31. März 2003) bestätigt.
Mit Entscheid vom 28. März 2003 regelte der Stadtrat als Vormundschaftsbehörde das Besuchsrecht. Danach ist Z.________ berechtigt, die Kinder für die Dauer des Kindesschutzverfahrens jeweils an den von der Pro Juventute organisierten begleiteten Besuchstagen, d.h. je an einem Sonntag sowie an einem Samstagnachmittag des Monats zu sehen.
B.
Mit dagegen an den Regierungsstatthalter des Amtes Luzern erhobener Beschwerde beantragte Z.________, sie sei berechtigt zu erklären, ihre beiden Söhne am ersten und dritten Samstag des Monats von 09.00 Uhr bis 19.00 Uhr zu sich auf Besuch zu nehmen.
Der Regierungsstatthalter wies die Beschwerde am 4. Juni 2003 ab, und das Obergericht des Kantons Luzern bestätigte diesen Entscheid am 14. August 2003.
C.
Mit Eingabe vom 16. September 2003 hat Z.________ staatsrechtliche Beschwerde an das Bundesgericht erhoben. Sie beantragt, den Entscheid des Obergerichts aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an dieses zurückzuweisen. Für das bundesgerichtliche Verfahren beantragt sie zudem die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
Vernehmlassungen sind im bundesgerichtlichen Verfahren nicht eingeholt worden.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Gegen Anordnungen über den persönlichen Verkehr ist zwar die Berufung an das Bundesgericht gegeben (Art. 44 lit. d OG), jedoch nur, wenn es sich um einen Endentscheid im Sinne von Art. 48 Abs. 1 OG handelt, was hier nicht der Fall ist, da die Besuchsrechtsregelung im Rahmen einer vorsorglichen Massnahme in einem Kindesschutzverfahren getroffen wurde, das noch nicht abgeschlossen ist. Zulässig ist damit allein die staatsrechtliche Beschwerde, welche die Beschwerdeführerin ergriffen hat. Sie erhebt Rügen der willkürlichen Beweiswürdigung (Art. 9 BV) und der Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV), die ohnehin der staatsrechtlichen Beschwerde vorbehalten sind (Art. 43 Abs. 1 OG, zweiter Satz).
2.
2.1 Eltern, denen die elterliche Sorge oder Obhut nicht zusteht, und das unmündige Kind haben gegenseitig Anspruch auf angemessenen persönlichen Verkehr (Art. 273 Abs. 1 ZGB). Der persönliche Verkehr dient in erster Linie dem Interesse des Kindes. Oberste Richtschnur für die Ausgestaltung des persönlichen Verkehrs ist das Kindeswohl (BGE 127 III 295 E. 4a S. 298), das anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls zu beurteilen ist (BGE 123 III 445 E. 3b S. 451).
Wird das Wohl des Kindes durch den persönlichen Verkehr gefährdet, üben die Eltern ihn pflichtwidrig aus, haben sie sich nicht ernsthaft um das Kind gekümmert oder liegen andere wichtige Gründe vor, so kann ihnen das Recht auf persönlichen Verkehr verweigert oder entzogen werden (Art. 274 Abs. 2 ZGB). Das Wohl des Kindes ist gefährdet, wenn seine ungestörte körperliche, seelische oder sittliche Entfaltung durch ein auch nur begrenztes Zusammensein mit dem nicht obhutsberechtigten Elternteil bedroht ist. Als wichtige Gründe fallen Vernachlässigung, physische und psychische Misshandlungen, insbesondere sexueller Missbrauch des Kindes in Betracht. Erforderlich ist sodann, dass dieser Bedrohung nicht durch geeignete andere Massnahmen begegnet werden kann, was aus dem Gebot der Verhältnismässigkeit folgt, dem Verweigerung oder Entziehung des persönlichen Verkehrs als Kindesschutzmassnahmen unterliegen. Der vollständige Entzug des Rechts auf persönlichen Verkehr bildet daher die "ultima ratio" und darf im Interesse des Kindes nur angeordnet werden, wenn die nachteiligen Auswirkungen des persönlichen Verkehrs sich nicht in für das Kind vertretbaren Grenzen halten lassen (BGE 122 III 404 E. 3b mit weiteren Hinweisen).
Können indessen die befürchteten nachteiligen Auswirkungen des persönlichen Verkehrs für das Kind durch die persönliche Anwesenheit einer Drittperson (sog. begleitetes Besuchsrecht) in Grenzen gehalten werden, so verbieten das Persönlichkeitsrecht des nicht obhutsberechtigten Elternteils, der Grundsatz der Verhältnismässigkeit, aber auch Sinn und Zweck des persönlichen Verkehrs dessen gänzliche Unterbindung. Wie Verweigerung oder Entzug nach Art. 274 Abs. 2 ZGB bedarf aber auch die Anordnung eines begleiteten Besuchsrechts konkreter Anhaltspunkte für die Gefährdung des Kindeswohls. Eine bloss abstrakte Gefahr einer möglichen ungünstigen Beeinflussung des Kindes reicht nicht aus, um den persönlichen Verkehr nur in begleiteter Form ausüben zu lassen. Denn ein Besuch unter Aufsicht einer Begleitperson hat nicht denselben Wert wie ein unbegleiteter, der in der Regel ungezwungener erfolgt. Sodann führt namentlich die gegen den Willen des berechtigten Elternteils angeordnete Begleitung nicht selten zur Verbitterung des Berechtigten, wodurch wiederum die reibungslose Abwicklung des Besuchsrechts und damit dieses selbst in Frage gestellt wird. Es ist daher eine gewisse Zurückhaltung bei der Anordnung dieser Massnahme am Platz. Auf jeden Fall darf die Eingriffsschwelle beim begleiteten Besuchsrecht nicht tiefer angesetzt werden, als wenn es um die Verweigerung oder den Entzug des Rechts auf persönlichen Verkehr überhaupt ginge. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass im letzteren Fall der Grund, der eine Gefahr für das Kindeswohl befürchten lässt, derart ist, dass die Gefährdung weder durch die Anordnung einer Begleitung noch durch andere Massnahmen ausgeschlossen werden kann (BGE 122 III 404 E. 3c mit weiteren Hinweisen).
2.2 Die Vormundschaftsbehörde und ihr folgend das kantonale Obergericht haben der Beschwerdeführerin lediglich ein begleitetes Besuchsrecht zugestanden. Sie begründen dies mit psychischen Auffälligkeiten, welche von den Kindern selber und den Nachbarn eindrücklich geschildert wurden, bisher aber nicht durch ein psychiatrisches Gutachten näher abgeklärt werden konnten, weil die Beschwerdeführerin sich einer Begutachtung nicht freiwillig unterzieht. Dabei hat das Obergericht nicht übersehen, dass der Hausarzt der Beschwerdeführerin, in dessen Praxis die Psychiatrie eine wichtige Rolle spielt, ohne dass er aber Fachpsychiater FMH wäre, eine konkrete Gefährdung klar verneint. Den Ausführungen des Hausarztes hat das Obergericht zwar Gewicht beigelegt, ihnen aber die Erlebnisse der Nachbarn in der realen Alltagssituation entgegen gehalten. Aufgrund der nach Auffassung des Obergerichts nicht hinreichend geklärten Sachlage erachtete dieses eine Begutachtung für erforderlich, hätte sich aber allenfalls auch damit begnügt, sich im Rahmen einer durch den obergerichtlichen Instruktionsrichter angeordneten einmaligen begleiteten Besuchsausübung Gewissheit zu verschaffen, dass die unbegleitete Besuchsausübung verantwortet werden kann. Die Beschwerdeführerin hat sich aber einer solchen begleiteten Besuchsausübung im Rahmen des obergerichtlichen Verfahrens verweigert, weil sie jede Form der Besuchsbegleitung als entehrend, diskriminierend und unrechtmässig ablehnt. Das Obergericht erachtete es unter diesen Umständen als erforderlich, das Ergebnis der Begutachtung abzuwarten, weil sich die Probleme im Zusammenhang mit der Besuchsrechtsausübung derzeit nicht schlüssig beurteilen liessen.
2.3 Die Beschwerdeführerin wirft dem Obergericht Willkür (Art. 9 BV) vor, weil es in einem klassischen "Zirkelschluss" die konkrete Gefährdung der Kinder daraus herleite, dass sich die Beschwerdeführerin der Besuchsbegleitung widersetze, ohne zu erkennen, dass die Beschwerdeführerin gerade die Voraussetzungen der Besuchsbegleitung bestreite. Die Logik des Obergerichts führe dazu, dass jede Bestreitung staatlicher Vorkehren den Beweis erbringe, dass die angefochtene Vorkehr mangels Einsicht doch nötig sei. Willkürlich sei aber auch die weitere Beweiswürdigung. Es werde nicht gewürdigt, dass die Kinder ein unbegleitetes Besuchsrecht befürworteten, den Wahrnehmungen der Nachbarn werde mehr Gewicht gegeben als der ausführlich begründeten Diagnose des Hausarztes und es werde unterschlagen, dass die Vormundschaftsbehörde (recte: das Sekretariat der Vormundschaftsbehörde) dem Stadtrat ein unbegleitetes Besuchsrecht vorgeschlagen habe. Darauf werde mit keinem Wort eingegangen, was auch eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) bedeute.
2.4 Zunächst ist festzuhalten, dass eine Gehörsverletzung nicht darin liegt, dass das Obergericht nicht ausdrücklich den Antrag des Sekretariats der Vormundschaftsbehörde in seine Würdigung einbezogen hat. Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör und der daraus folgenden Begründungspflicht ergibt sich nicht, dass im Entscheid zu jedwedem Argument der Parteien Stellung genommen wird. Vielmehr kann sich die Behörde auf die für den Entscheid wesentlichen Gesichtspunkte beschränken (BGE 126 I 97 E. 2b S. 103 f., mit Hinweisen). Der Umstand, dass das Sekretariat der Vormundschaftsbehörde ein unbegleitetes Besuchsrecht als verantwortbar erachtete und dem Stadtrat als Vormundschaftsbehörde zunächst einen solchen Antrag unterbreitete, musste im Entscheid des Obergerichts weder kommentiert noch erwähnt werden, denn zu überprüfen ist im Rechtsmittelverfahren einzig der von der zuständigen Behörde erlassene Entscheid.
2.5 Gemäss Art. 9 BV hat jede Person Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür behandelt zu werden. Willkürlich ist ein Entscheid, der zur tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft, wobei Willkür nur vorliegt, wenn nicht bloss die Begründung des Entscheides, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist. Namentlich genügt der Umstand, dass ein anderslautender Entscheid ebenso oder gar eher vertretbar wäre, noch nicht, um einen Entscheid als willkürlich hinzustellen (BGE 127 I 54 E. 2b S. 56; 123 I 1 E. 4a S. 5 mit Hinweisen).
Der mit staatsrechtlicher Beschwerde angefochtene Entscheid des Obergerichts, mit welchem vorerst nur ein begleitetes Besuchsrecht gestattet wurde, erging im Rahmen einer vorsorglichen Massnahme. Er schliesst das Verfahren nicht ab, sondern regelt das Besuchsrecht nur vorläufig bis die Ergebnisse einer Begutachtung über den psychischen Zustand der Beschwerdeführerin vorliegen. Das Obergericht durfte, ohne dass es dabei in Willkür verfallen wäre, annehmen, es lägen aufgrund der Schilderungen von Nachbarn und der Kinder selber Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindeswohls bei unbeaufsichtigter Ausübung des Besuchsrechts vor. Wohl verneint der Bericht des Hausarztes solche Bedenken, doch verbleiben Zweifel, die der Klärung bedürfen. Die einmalige Anordnung einer Ausübung des Besuchsrechts in Begleitung der Kinderbeiständin als Instruktionsmassnahme des Obergerichts hätte zum Zweck gehabt zu prüfen, ob nicht allenfalls doch noch vor Vorliegen eines psychiatrischen Gutachtens eine unbegleitete Besuchsausübung verantwortet werden kann. Die Haltung der Beschwerdeführerin führte dazu, dass dem Obergericht verwehrt blieb, sich ein hinreichend zuverlässiges Bild zu machen. Der Vorwurf des "Zirkelschlusses" geht an der Sache vorbei, denn nicht die Weigerung der Beschwerdeführerin, das Besuchsrecht (einmalig) in Begleitung der Kinderbeiständin wahrzunehmen, ist Grund für die vom Obergericht schliesslich geschützte Entscheidung, das Besuchsrecht vorerst nur begleitet zu gestatten, sondern die von der Beschwerdeführerin zu verantwortende fehlende Möglichkeit, sich noch vor Vorliegen des psychiatrischen Gutachtens ein hinreichend zuverlässiges Bild zu machen. Der Willkürvorwurf ist mithin unbegründet.
3.
Die staatsrechtliche Beschwerde ist demnach abzuweisen. Da die Beschwerde keine Aussicht auf Erfolg haben konnte, ist auch das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege abzuweisen (Art. 152 OG). Bei der Bemessung der Gerichtsgebühr kann aber den finanziellen Verhältnissen der Beschwerdeführerin Rechnung getragen werden (Art. 153a Abs. 1 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 800.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, als Beschwerdeinstanz nach EGZGB, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 21. Oktober 2003
Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: