BGer K 117/2003
 
BGer K 117/2003 vom 01.02.2005
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
K 117/03
Urteil vom 1. Februar 2005
IV. Kammer
Besetzung
Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung; Gerichtsschreiberin Kopp Käch
Parteien
R.________, 1956, Beschwerdeführerin,
gegen
Visana, Weltpoststrasse 19, 3000 Bern, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern
(Entscheid vom 3. September 2003)
Sachverhalt:
A.
Die 1956 geborene R.________ ist bei der Visana krankenversichert. Sie liess sich am 30. Mai 2002 durch Dr. med. Dr. med. dent. A.________ ihre unteren Weisheitszähne 38 und 48 entfernen. Die Versicherte reichte der Krankenkasse in der Folge zwei Rechnungen des Dr. med. Dr. med. dent. A.________ vom 28. Juni 2002 über Fr. 995.60 und vom 24. September 2002 über Fr. 546.50 sowie eine Rechnung des Labors X.________ AG vom 13. August 2002 über Fr. 90.90 ein. Die Visana leistete aus der Heilungskosten-Zusatzversicherung Ambulant einen Beitrag für Chirurgische Eingriffe, lehnte aber nach mehrmaligem Beizug des Vertrauenszahnarztes Dr. med. dent. B.________ mit Verfügung vom 4. Februar 2003 die Übernahme der Kosten der in der Zeit vom 6. Mai bis 19. August 2002 durchgeführten zahnärztlichen Behandlung sowie der Laborrechnung aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung ab. Mit Einspracheentscheid vom 1. Mai 2003 hielt die Krankenkasse nach Einholung einer Stellungnahme des Dr. med. Dr. med. dent. C.________, Leitender Arzt der Schädel-, Kiefer- und Gesichtschirurgie am Spital Y.________, an ihrem Standpunkt fest.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 3. September 2003 ab.
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt R.________ die vollumfängliche Rückerstattung der Zahnbehandlungskosten durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung. Zur Begründung verweist sie auf die Angaben des behandelnden Arztes Dr. med. Dr. med. dent. A.________.
Die Visana schliesst nach erneutem Beizug des Dr. med. Dr. med. dent. C.________ auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung, Abteilung Krankenversicherung (seit 1. Januar 2004 im Bundesamt für Gesundheit) verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Das kantonale Gericht hat die massgebenden gesetzlichen Grundlagen über den Anspruch auf Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für zahnärztliche Behandlungen (Art. 31 Abs. 1 KVG, Art. 33 Abs. 2 und 5 KVG in Verbindung mit Art. 33 lit. d KVV sowie Art. 17-19 KLV), namentlich für solche, die durch eine schwere nicht vermeidbare Erkrankung des Kausystems in Form verlagerter Zähne mit Krankheitswert (Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG in Verbindung mit Art. 17 lit. a Ziff. 2 KLV) bedingt sind, zutreffend dargelegt. Darauf kann verwiesen werden. Richtig sind auch die Ausführungen zur Rechtsprechung über das Erfordernis eines qualifizierten Krankheitswertes in Art. 17 KLV (BGE 130 V 467 Erw. 3.2 mit Hinweisen).
2.
2.1 Was die Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für zahnärztliche Behandlungen, die durch eine schwere nicht vermeidbare Erkrankung des Kausystems bedingt sind, anbelangt, unterscheidet Art. 17 lit. a Ziff. 2 KLV nicht zwischen der Behandlung von Weisheitszähnen und von anderen Zähnen. Die Behandlungskosten sind von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu übernehmen, wenn die Zähne verlagert sind und das Leiden Krankheitswert erreicht, wobei als Beispiele für einen solchen Krankheitswert in Klammern der Abszess und die Zyste genannt werden.
Die Leistungspflicht für die Behandlung von verlagerten Weisheitszähnen ist demzufolge bei Vorliegen des erforderlichen qualifizierten Krankheitswertes gleich zu beurteilen wie diejenige für die Behandlung anderer verlagerter Zähne. Dieser qualifizierte Krankheitswert beinhaltet im Wesentlichen zwei Elemente, nämlich einerseits die Pathologie mit einer Gefährdung des Lebens oder einer Beeinträchtigung der Gesundheit und andererseits die notwendigen Massnahmen, um die Gefährdung oder Beeinträchtigung zu beseitigen oder zumindest zu verringern (BGE 130 V 468 Erw. 4.1). So haben auch die Experten den qualifizierten Krankheitswert verneint, wenn ein pathologisches Geschehen mit einfachen Massnahmen behoben werden kann.
2.2 Im oben zitierten Urteil hat das Eidgenössische Versicherungsgericht dargelegt, dass verlagerte Weisheitszähne gemäss Ansicht der beigezogenen Experten gegenüber andern verlagerten oder überzähligen Zähnen insofern eine besondere Stellung einnehmen, als sie von ihrer topografischen Lage her besonders häufig Lage-Anomalien zeigen. Entwicklungsgeschichtlich hat dazu beigetragen, dass der Kiefer des Menschen kleiner, die Zähne grösser geworden sind, sodass der Platz auf dem Kieferknochen für die Zähne, namentlich für die hintersten, nicht mehr ausreicht. Neben der Abweichung von der Lage ist oft eine solche von der Achse festzustellen, wodurch Nachbarstrukturen geschädigt werden können. Aus diesen Gründen geben die Weisheitszähne häufig Anlass zu entzündlichen Komplikationen und Zystenbildungen, die wegen ihrer Lage schwerwiegende Folgen haben können wie einen Durchbruch von Abszessen in anatomischen Logen von vitaler Bedeutung oder eine Spontanfraktur des Unterkiefers infolge Schwächung durch grosse Zysten (BGE 130 V 469 Erw. 4.2 mit Hinweis).
2.3 Bei der Behandlung verlagerter Weisheitszähne ist zudem die Besonderheit zu berücksichtigen, dass diese entfernt werden, ohne dass an ihrer Stelle ein Ersatz (z.B. Implantat) als tunlich erscheint, während andere verlagerte Zähne nicht ersatzlos entfernt werden können, sondern durch zahnärztliche Massnahmen zu erhalten sind oder an ihrer Stelle eine Ersatzlösung zu suchen ist, um die Kaufunktion aufrechtzuerhalten.
2.4 Aufgrund der geschilderten Unterschiede kann demzufolge, wie das Eidgenössische Versicherungsgericht im zitierten BGE 130 V 464 dargelegt hat, bei verlagerten Weisheitszähnen und anderen verlagerten Zähnen bei identischer Pathologie der qualifizierte Krankheitswert im oben umschriebenen Sinn nicht gleich beurteilt werden. Um an die Übernahme der Kosten für die Behandlung verlagerter Weisheitszähne nicht geringere Anforderungen an die Schwere des Leidens zu stellen als für die Behandlung anderer verlagerter Zähne, kann bei Weisheitszähnen nicht jede Pathologie genügen, die bei andern verlagerten Zähnen die Übernahme rechtfertigt. Eine Pathologie wie beispielsweise eine Zyste oder ein Abszess, sofern ohne grossen Aufwand behandelbar, macht die Entfernung eines Weisheitszahnes nicht zur Behandlung einer schweren Erkrankung des Kausystems im Sinne von Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG in Verbindung mit Art. 17 KLV. Anders ist es zu halten, wenn entweder die Entfernung des verlagerten Weisheitszahnes wegen besonderer Verhältnisse oder die Behandlung der Pathologie schwierig und aufwändig ist (vgl. BGE 127 V 328; RKUV 2002 Nr. KV 202 S. 91, K 12/01).
2.5 Die versicherte Person und der sie behandelnde Arzt haben dem Krankenversicherer alle medizinischen Grundlagen dafür zu liefern, dass er die Voraussetzungen für die Leistungspflicht prüfen kann. Werden gleichzeitig mehrere Weisheitszähne entfernt, ist der Nachweis für jeden Weisheitszahn zu erbringen (BGE 130 V 470 Erw. 5 mit Hinweis).
3.
3.1 Der behandelnde Arzt diagnostizierte pericoronale Infekte und follikuläre Zysten mit leichter chronischer Entzündung bei verlagerten Weisheitszähnen 38 und 48. Er entfernte daher am 30. Mai 2002 die beiden unteren Weisheitszähne.
3.2 Nach mehrmaligem Beizug des Vertrauenszahnarztes Dr. med. dent. B.________ sowie des Dr. med. Dr. med. dent. C.________ lehnte die Visana eine Übernahme der Behandlungskosten aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für die unteren Weisheitszähne ab, im Wesentlichen mit der Begründung, es läge weder eine Verlagerung noch ein Krankheitswert vor.
3.3 Die Vorinstanz würdigte die verschiedenen medizinischen Berichte und kam zum Schluss, dass nicht von einer Verlagerung gesprochen werden könne. Selbst wenn eine Verlagerung zu bejahen wäre, würde der erforderliche Krankheitswert fehlen, weshalb keine Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung bestehe.
3.4 Bezüglich Verlagerung und Krankheitswert der Weisheitszähne 38 und 48 ergibt sich aus den Akten kein einheitliches Bild. Im fachärztlichen Zeugnis zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 18. September 2003 führte Dr. med. Dr. med. dent. A.________ aus, die Weisheitszähne 38 und 48 seien in Achse und Lage ausserhalb der Zahnreihe bzw. des Alveolarfortsatzes im Kieferwinkel verlagert gewesen. Sie hätten nicht mehr im Bereich der adhärenten Gingiva, sondern unter der beweglichen Schleimhaut des aufsteigenden Unterkieferastes gelegen. Der Krankheitswert eines pericoronalen Infektes beidseits sei durch die Verlagerung unter der beweglichen Schleimhaut mit Taschenbildung und Verbindung zur Mundhöhle vorgegeben gewesen, rechts in Form eines Abszesses in einer Parodontaltasche mit Verbindung zur Mundhöhle, links in Form einer chronischen Entzündung im Bereich des Zahnfollikels. Der Vertrauenszahnarzt Dr. med. dent. B.________ bezeichnete die Zähne 38 und 48 in seinem ersten Bericht vom 27. Juli 2002 als verlagert und retiniert, jedoch ohne Krankheitswert. Im Bericht vom 27. Dezember 2002 führte er aus, die Zähne seien zwar retiniert, wiesen indessen keinen schweren Krankheitswert auf, und im Bericht vom 28. Januar 2003 präzisierte er, die beiden Zähne seien retiniert, aber nicht verlagert; sie stünden in ordentlicher Achse und Position, seien aber nicht durchgebrochen. Es liege weder eine Verlagerung noch ein Krankheitswert im Sinne des Gesetzes vor. Dr. med. Dr. med. dent. C.________ schliesslich qualifizierte die Zähne 38 und 48 in seiner Stellungnahme vom 25. März 2003 als retiniert; ein weiterer Durchbruch sei nicht zu erwarten. Eine Behinderung einer geordneten Gebissentwicklung oder eine Resorption der Nachbarwurzeln sei weder eingetreten noch zu erwarten. Radiologisch lägen keine Anhaltspunkte für das Vorhandensein von follikulären Zysten vor. Potentiell vorhanden sei das Risiko einer chronisch-rezidivierenden Pericoronitis mit möglicher Abszessbildung. Im Bericht vom 25. November 2003 bestätigte er seine Äusserungen bezüglich Verlagerung und Zystenbildung und hielt fest, es fehle nach wie vor ein eindeutiger Krankheitswert.
Die erste Frage der Verlagerung der betroffenen Weisheitszähne 38 und 48 braucht unter den gegebenen Umständen nicht abschliessend beantwortet zu werden, weil die Pathologie einerseits und die notwendigen Massnahmen zu deren Beseitigung oder Verringerung andrerseits für das Vorliegen des erforderlichen qualifizierten Krankheitswertes nicht ausreichen. Die Behandlung bestand im Wesentlichen in der Entfernung der beiden Weisheitszähne. Zudem fanden eine Konsultation vor und vier Konsultationen nach dem Eingriff statt. Selbst wenn die vom behandelnden Arzt geltend gemachte Pathologie vorhanden war, hielt sie sich im üblichen Rahmen und konnte durch die Entfernung der Weisheitszähne behoben werden, ohne dass ein Ersatz der entfernten Zähne oder andere aufwändige Massnahmen notwendig geworden wären. Auch fehlen jegliche Anhaltspunkte für irgendwelche Schwierigkeiten oder besondere Komplikationen, sodass in Anbetracht der Rechtsprechung die Voraussetzungen für eine Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nicht erfüllt sind.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt.
Luzern, 1. Februar 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin:
i.V: