BGer K 50/2004
 
BGer K 50/2004 vom 31.03.2005
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
K 50/04
Urteil vom 31. März 2005
IV. Kammer
Besetzung
Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung; Gerichtsschreiberin Kopp Käch
Parteien
SWICA Gesundheitsorganisation, Rechtsdienst, Römerstrasse 38, 8401 Winterthur, Beschwerdeführerin,
gegen
M.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Dr. med. Dr. med. dent. R.________
Vorinstanz
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
(Entscheid vom 26. Februar 2004)
Sachverhalt:
A.
Die 1955 geborene M.________ ist bei der SWICA Gesundheitsorganisation (nachfolgend SWICA) krankenversichert. Am 10. Februar 2000 entfernte Dr. med. dent. S.________ bei der Versicherten den Zahn 22 und überwies sie zur weiteren Behandlung an Dr. med. Dr. med. dent. R.________. Am 19. Oktober 2000 ersuchte Dr. med. Dr. med. dent. R.________ die SWICA um Kostengutsprache für eine Kammaugmentation in Regio 22 in Narkose und für die Versorgung der Lücke mit einem Implantat im Betrag von Fr. 10'109.70. Nach Beizug ihres Vertrauenszahnarztes Dr. med. dent. C.________ verneinte die SWICA mit Verfügung vom 18. Januar 2002 eine Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung. Im Rahmen des Einspracheverfahrens holte die Krankenkasse bei Frau Dr. med. dent. G.________, Klinik für Kieferorthopädie und Kinderzahnmedizin des Spitals X.________, den Bericht vom 13. Juli 2002 ein. Dazu nahm Dr. med. Dr. med. dent. R.________ am 7. Oktober 2002 Stellung. Mit Einspracheentscheid vom 25. November 2002 hielt die SWICA an der verfügten Ablehnung der Kostenübernahme der zahnärztlichen Behandlung aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung fest.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 26. Februar 2004 in dem Sinne gut, dass es den angefochtenen Einspracheentscheid aufhob und die Sache an die SWICA zurückwies, damit sie nach weiteren Abklärungen über den Anspruch von M.________ auf Übernahme der Kosten der zahnärztlichen Behandlung neu befinde.
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die SWICA die Aufhebung des Entscheids des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 26. Februar 2004 und die Bestätigung des Einspracheentscheids vom 25. November 2002, eventualiter die Rückweisung an das kantonale Gericht zur Durchführung weiterer Abklärungen, insbesondere zur Anordnung eines gerichtlichen Ober- bzw. Ergänzungsgutachtens, subeventualiter die Abänderung des Rückweisungsentscheids durch Streichung der Auflagen des kantonalen Gerichts gemäss Erw. 4.2.8. M.________ lässt sinngemäss auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Mit Eingabe vom 21. Juli 2004 weist die SWICA auf die neue Rechtsprechung zur Kostenübernahme zahnärztlicher Behandlungen, die durch ein Geburtsgebrechen bedingt sind, gemäss Art. 19a KLV hin. Diese Eingabe ist M.________ zur Kenntnisnahme zugestellt worden.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Das kantonale Gericht hat zunächst richtig ausgeführt, dass für die Beurteilung des vorliegenden Falles in materiellrechtlicher Hinsicht nicht die Bestimmungen des am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000, sondern die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar sind (BGE 129 V 4 Erw. 1.2). Zutreffend dargelegt hat es sodann die massgebenden gesetzlichen Bestimmungen über den Anspruch auf Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für zahnärztliche Behandlungen, die durch ein Geburtsgebrechen, namentlich durch eine Prognathia inferior congenita bedingt sind (Art. 27 und Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG, Art. 33 Abs. 2 und 5 KVG in Verbindung mit Art. 33 lit. d KVV sowie Art. 19a Abs. 1 lit. a und Abs. 2 Ziff. 22 KLV). Darauf kann verwiesen werden.
1.2 Wie die Vorinstanz ausführt, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in BGE 129 V 80 entschieden, dass zahnärztliche Behandlungen, die durch ein Geburtsgebrechen bedingt sind, nur dann in den Leistungsbereich der obligatorischen Krankenpflegeversicherung fallen, wenn die Voraussetzungen von Art. 31 Abs. 1 KVG erfüllt sind. Das Geburtsgebrechen Prognathia inferior congenita gemäss Art. 19a Abs. 2 Ziff. 22 KLV hat es einer schweren Erkrankung des Kausystems im Sinne von Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG gleichgestellt und diesbezüglich die Gesetzmässigkeit der Verordnungsbestimmung bejaht. Zu ergänzen ist, dass das Eidgenössische Versicherungsgericht diese Rechtsprechung in BGE 130 V 294, bestätigt in BGE 130 V 459, präzisiert hat, indem es sich vertieft mit dem in Art. 19a Abs. 1 lit. a KLV vorgesehenen Erfordernis der Notwendigkeit der Behandlung nach dem 20. Lebensjahr auseinandergesetzt hat. Demzufolge sind Behandlungen nach dem 20. Lebensjahr notwendig im Sinne der erwähnten Verordnungsbestimmung, wenn sie aus medizinischen Gründen einen Eingriff erst in diesem Zeitpunkt erfordern.
2.
Streitig und zu prüfen ist, ob die obligatorische Krankenpflegeversicherung für die zahnärztliche Behandlung der Beschwerdegegnerin aufzukommen hat.
2.1 Die Beschwerdegegnerin beantragte die Kostenübernahme im Wesentlichen mit der Begründung, sie leide an einer Malokklusion wegen einer Retromaxillie mit einem ANB-Winkel von -2,7°. Die Korrektur dieser Retromaxillie stelle eine Pflichtleistung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung dar. Im Zusammenhang mit der durch die Retromaxillie verursachten Malokklusion sei eine Traumatisierung der Oberkieferfrontzähne aufgetreten, so dass die Zähne 12, 11, 21, 22 und 23 überkront und der Zahn 22 extrahiert werden mussten. Die Retromaxillie und die Malokklusion müssten mittels einer kieferorthopädischen Vorkoordination der Zahnbögen und durch Vorbringen des Oberkiefers mittels einer Le Fort I-Osteotomie korrigiert werden. Sie wünsche jedoch keine Korrektur der Retromaxillie, sondern lediglich die Versorgung der Lücke 22.
2.2 Die Krankenkasse verneinte in ihrer Verfügung vom 18. Januar 2002 eine Leistungspflicht mit der Begründung, bei erstmaliger Feststellung einer Malokklusion und eines ANB-Winkels von -2,7° im Alter von 46 Jahren liege keine IV-Pflichtigkeit und keine Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung vor. Nach Einholung einer Stellungnahme der Frau Dr. med. dent. G.________ stellte sich die Beschwerdeführerin im Einspracheentscheid vom 25. November 2002 auf den Standpunkt, die in Frage stehende zahnärztliche Behandlung könne nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf ein Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 19a Abs. 2 Ziff. 22 KLV zurückgeführt werden, weshalb sie bereits aus diesem Grund keine Pflichtleistung nach KVG darstelle.
2.3 Die Vorinstanz würdigte die verschiedenen medizinischen Berichte und kam zum Schluss, angesichts der widersprüchlichen Standpunkte und der beiderseits fachmännisch vorgetragenen Argumente seien zusätzliche Abklärungen nötig. Sie wies daher die Sache an die Krankenkasse zurück, damit sie einerseits abkläre, ob die vor Jahren durchgeführte Überkronung der Zähne 12, 11, 21, 22 und 23 im Zusammenhang mit der Malokklusion gestanden hätte und andrerseits den Zahnstatus sowie die tatsächlichen Befunde der Zustände der Parodontien in den verschiedenen Behandlungsphasen festhalte, gegebenenfalls eine klinische Funktionsanalyse veranlasse und das Ausmass der Fehlbelastung des Zahnes 22 abkläre. Für den Fall, dass sich aufgrund der Begutachtung ergebe, dass die Versicherte den Zahn 22 aufgrund ihrer Prognathia inferior congenita verloren und dies die zahnärztliche Behandlung durch Dr. med. Dr. med. dent. R.________ bedingt habe, seien die Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit dieser Behandlung abzuklären.
2.4 In ihrer Verwaltungsgerichtsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die in ihren Augen in mehrfacher Hinsicht unzutreffende Beweiswürdigung durch die Vorinstanz. Aus prozessökonomischen Gründen und um das Verfahren zu beschleunigen, so die Krankenkasse, habe sie zudem weitere Abklärungen beim damaligen Zahnarzt noch innerhalb der Rechtsmittelfrist eingeholt und das Ergebnis Frau Dr. med. dent. G.________ zur Stellungnahme unterbreitet. Diese habe an ihrem bisherigen Standpunkt festgehalten, wonach die zahnärztliche Behandlung nicht durch das Geburtsgebrechen bedingt, sondern "stark überwiegend (90%) auf andere Ursachen" zurückzuführen sei. In ihrer Eingabe vom 21. Juli 2004 weist die Beschwerdeführerin auf die seit Erlass des vorinstanzlichen Urteils ergangene Rechtsprechung hin und stellt sich auf den Standpunkt, dass weitere Abklärungen demzufolge nicht notwendig seien, da selbst im Falle eines nachweisbaren Kausalzusammenhanges zwischen Geburtsgebrechen und Zahnbehandlung eine Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für die erst im Alter von 45 Jahren vorgenommenen Zahnbehandlungen verneint werden müsste.
2.5 Aus den Akten ersichtlich und unbestritten ist, dass die Beschwerdegegnerin am Geburtsgebrechen Prognathia inferior congenita mit einem ANB-Winkel von -2,7° leidet und dass mit der in Frage stehenden Behandlung nicht das diagnostizierte Leiden an sich behandelt, sondern die bestehende Zahnlücke 22 versorgt worden ist. Im bisherigen Verfahren wurde im Wesentlichen die Frage geprüft, ob der Verlust des Zahnes 22 und die Versorgung der Lücke auf das Geburtsgebrechen, namentlich auf eine Traumatisierung der Oberkieferfrontzähne aufgrund der Retromaxillie und Malokklusion, zurückzuführen seien. Die Vorinstanz hat die Sache denn auch zu diesbezüglichen näheren Abklärungen an die Krankenkasse zurückgewiesen. Angesichts der in Erw. 1.2 zitierten jüngsten Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts braucht indessen dieser Frage nicht weiter nachgegangen zu werden. Selbst wenn nämlich im heutigen Zeitpunkt noch mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden könnte, dass der Verlust des Zahnes 22 und die Versorgung der Lücke auf das Geburtsgebrechen Prognathia inferior congenita zurückzuführen sind, bestünde für die von Dr. med. Dr. med. dent. R.________ durchgeführte zahnärztliche Behandlung keine Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung. Im Zeitpunkt der Behandlung war die Beschwerdegegnerin 45-jährig. Wie das kantonale Gericht zutreffend erwogen hat, ist eine Leistungspflicht für zahnärztliche Behandlungen nicht nur unter der Voraussetzung gegeben, dass das Geburtsgebrechen geheilt oder gelindert wird, sondern u.a. vielmehr auch dann, wenn die zahnärztliche Behandlung durch das Geburtsgebrechen bedingt ist. Eine Behandlung im Alter von 45 Jahren kann jedoch keinesfalls mehr als "durch ein Geburtsgebrechen bedingte nach dem 20. Lebensjahr notwendige zahnärztliche Behandlung" im Sinne von Art. 19a Abs. 1 lit. a KLV bezeichnet werden. Sinn und Zweck dieser Bestimmung ist es nämlich, zu ermöglichen, dass Behandlungen unter dem Gesichtspunkt der Wirksamkeit im aus medizinischer Sicht richtigen Zeitpunkt vorgenommen werden können. Wie den Materialien zu entnehmen ist, sollen Behandlungen von Geburtsgebrechen im Kiefer- und Gesichtsbereich grundsätzlich so geplant und durchgeführt werden, dass sie bis zur Vollendung des 20. Altersjahres und somit bis zum Ende der Leistungspflicht der Invalidenversicherung abgeschlossen werden können. In einem Teil der Fälle kollidiert aber diese Altersgrenze mit medizinischen Erfordernissen wie auch mit dem minimal vorausgesetzten Entwicklungsstand bezüglich Skelettwachstum und/oder Zahnentwicklung als Vorbedingung für gewisse Massnahmen. So können gerade bei der Prognathia inferior congenita die skelettal begründeten Kieferstellungsanomalien erst dann mit Aussicht auf bleibenden Erfolg korrigiert werden, wenn der pubertäre Wachstumsschub abgeschlossen ist. Sind diese Voraussetzungen einmal erfüllt, liegt dann aber von der medizinischen Indikation her der richtige Zeitpunkt für die Durchführung und für den Abschluss der zahnärztlichen oder kieferchirurgischen Behandlung vor (BGE 130 V 463 Erw. 3 mit Hinweisen auf Materialien). Im vorliegenden Fall wurde das Geburtsgebrechen nie behandelt und es soll nach wie vor nicht angegangen werden. War aber die Behandlung des Geburtsgebrechens bis zum 20. Altersjahr nicht geplant und - vorbehältlich einer Verschiebung zur Durchführung aus medizinischen Gründen - durchgeführt worden, fallen Jahre oder gar Jahrzehnte später weder die Behandlung des Geburtsgebrechens an sich noch Kosten für zahnärztliche Behandlungen von allfälligen Folgen des Geburtsgebrechens unter die Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für eine durch ein Geburtsgebrechen bedingte zahnärztliche Behandlung.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 26. Februar 2004 aufgehoben.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt.
Luzern, 31. März 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: