BGer 6S.268/2005
 
BGer 6S.268/2005 vom 09.08.2005
Tribunale federale
{T 0/2}
6S.268/2005 /bri
Urteil vom 9. August 2005
Kassationshof
Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Zünd.
Gerichtsschreiber Näf.
Parteien
X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Markus Hitz,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn, Franziskanerhof, Barfüssergasse 28, Postfach 157, 4502 Solothurn.
Gegenstand
Vollendeter Versuch der vorsätzlichen Tötung (Art. 111 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB); unentschuldbarer Notwehrexzess (Art. 33 Abs. 2 Satz 1 StGB),
Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Kriminalgerichts des Kantons Solothurn vom 30. März/1. April 2005.
Sachverhalt:
A.
Das Kriminalgericht des Kantons Solothurn verurteilte X.________ am 30. März/1. April 2005 wegen vollendeten Versuchs der vorsätzlichen Tötung (in nicht entschuldbarem Notwehrexzess) und wegen verschiedener anderer Straftaten zu einer Zuchthausstrafe von 5 ½ Jahren und verwies ihn für 6 Jahre aus dem Gebiet der Schweiz. X.________ wird unter anderem vorgeworfen, er habe am Samstag, 5. Dezember 1998, um zirka 23.30 Uhr, vor dem Dancing "B.________" in C.________ durch Abgabe von mehreren Schüssen aus einer Faustfeuerwaffe aus kurzer Distanz versucht, A.________ zu töten.
B.
X.________ führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, des Urteil des Kriminalgerichts sei in Bezug auf den Schuldspruch wegen versuchter Tötung aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung in diesem Punkt sowie zur neuen Bemessung der Strafe an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zudem ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
C.
Das Kriminalgericht beantragt in seinen Gegenbemerkungen die Abweisung der Beschwerde.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn stellt in ihrer Vernehmlassung den Antrag, die Beschwerde abzuweisen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Gemäss den Feststellungen der Vorinstanz kam es am 5. Dezember 1998 vor dem Dancing "B.________" zunächst zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen dem Beschwerdeführer und A.________, an welcher auf Seiten des Beschwerdeführers weitere Personen teilnahmen. Danach entfernte sich A.________, der verletzt wurde, vom Ort des Geschehens. Der Beschwerdeführer, der aufgrund früherer Begegnungen das Aggressionspotential des A.________ kannte, war sich darüber im Klarem, dass dieser den Vorfall nicht auf sich beruhen lassen würde. Als A.________ etwas später in Begleitung einiger Personen wieder vor dem Dancing auftauchte, liess sich der Beschwerdeführer von einem Bekannten eine Schusswaffe geben. In der Folge standen sich der Beschwerdeführer und A.________ vor dem Dancing mit gezückten Schusswaffen gegenüber. Es kam zum Schusswechsel. Da nicht geklärt werden konnte, wer als Erster geschossen hatte, ging die Vorinstanz im vorliegenden Verfahren zu Gunsten des Beschwerdeführers davon aus, dass A.________ zuerst das Feuer eröffnet habe, worauf der Beschwerdeführer aus seiner Deckung heraus in Richtung von A.________ zurückgeschossen und diesen mit einer Kugel im Brustbereich getroffen habe (siehe zum Ganzen angefochtenes Urteil S. 13-15, 38). Die Vorinstanz hat dieses Verhalten des Beschwerdeführers als vollendeten Versuch der Tötung (Art. 111 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB) in nicht entschuldbarem Notwehrexzess (Art. 33 Abs. 2 Satz 1 StGB) qualifiziert (angefochtenes Urteil S. 16 oben).
2.
Der Beschwerdeführer macht im Wesentlichen geltend, es habe eine Notwehrsituation vorgelegen, da die Vorinstanz zurecht eine Absichtsprovokation verneint habe. Nachdem A.________ als Erster geschossen habe, habe er zurückschiessen dürfen. Dies sei eine den Umständen angemessene Abwehr gewesen. Somit habe er die Grenzen der Notwehr nicht überschritten. Daher liege kein Notwehrexzess im Sinne von Art. 33 Abs. 2 StGB vor. Vielmehr sei er in Anwendung von Art. 33 Abs. 1 StGB zufolge Notwehr vom Vorwurf des vollendeten Tötungsversuchs freizusprechen.
3.
Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht, so ist der Angegriffene und jeder andere berechtigt, den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren (Art. 33 Abs. 1 StGB). Überschreitet der Abwehrende die Grenzen der Notwehr, so mildert der Richter die Strafe nach freiem Ermessen. Überschreitet der Abwehrende die Grenzen der Notwehr in entschuldbarer Aufregung oder Bestürzung über den Angriff, so bleibt er straflos (Art. 33 Abs. 2 StGB).
3.1 Der Angegriffene kann sich nicht auf Notwehr berufen, wenn er die Notwehrsituation provoziert, mithin den Angriff absichtlich herbeigeführt hat, um den Angreifer gleichsam unter dem Deckmantel der Notwehr etwa zu töten oder zu verletzen. Bei dieser sog. Absichtsprovokation findet Art. 33 StGB keine Anwendung (vgl. BGE 102 IV 228, 230; 104 IV 53, 56; Günter Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I, 3. Aufl. 2005, § 10 N 80; Kurt Seelmann, Basler Kommentar, StGB I, 2003, Art. 33 N 14). Ist der Angriff nicht dergestalt provoziert, liegt grundsätzlich eine Notwehrsituation im Sinne von Art. 33 StGB vor. Hat der Angegriffene die Notwehrlage zwar nicht absichtlich provoziert, aber durch sein Verhalten doch mit verschuldet beziehungsweise verursacht, so hängt es von der Bewertung dieses Verhaltens ab, welche Folgen sich daraus für das Notwehrrecht ergeben. Je nach den Umständen kann das Notwehrrecht des Angegriffenen uneingeschränkt bestehen bleiben oder aber eingeschränkt sein. Ist es eingeschränkt, so ist die noch zulässige Abwehr im Vergleich zur sonst zulässigen begrenzt (siehe Stratenwerth, a.a.O., § 10 N 80) und kann daher eine bestimmte Abwehrhandlung, die bei uneingeschränktem Notwehrrecht noch angemessen wäre, unzulässig und damit als Notwehrexzess zu qualifizieren sein.
3.2 Der Beschwerdeführer war gegenüber A.________ nicht handgreiflich geworden, um diesen dazu zu provozieren, auf ihn zu schiessen. Die Vorinstanz hat daher eine die Anwendung von Art. 33 StGB ausschliessende Absichtsprovokation zurecht verneint. Zutreffend ist sie davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer aber die Notwehrsituation in einem Ausmass verschuldet hat, dass sein Abwehrrecht eingeschränkt war. Der Beschwerdeführer hatte zunächst mit einigen Kollegen A.________ tätlich angegriffen. Er wusste, dass A.________, dessen Aggressionspotential er kannte, diesen Vorfall nicht auf sich beruhen lassen würde. Gleichwohl unternahm er nichts, um einer weiteren, härteren Konfrontation, mit der zu rechnen war, auszuweichen. Im Gegenteil liess er sich von einem Kollegen eine Schusswaffe geben, als einige Zeit später A.________ mit Begleitern wieder vor dem Dancing auftauchte. Indem der Beschwerdeführer in dieser von ihm massgeblich mit verschuldeten Situation zurückschoss, nachdem A.________ auf ihn geschossen hatte, hat er nach der zutreffenden Auffassung der Vorinstanz im Sinne von Art. 33 Abs. 2 Satz 1 StGB die Grenzen der Notwehr überschritten. Die Vorinstanz hat ihn somit zurecht des vollendeten Versuchs der vorsätzlichen Tötung in nicht entschuldbarem Notwehrexzess (Art. 111 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 und Art. 33 Abs. 2 Satz 1 StGB) schuldig gesprochen.
4.
Der Beschwerdeführer, der durch den angefochtenen Entscheid wegen mehreren Taten verurteilt worden ist, weist darauf hin, dass der von ihm beantragte Freispruch zu einer angemessenen Herabsetzung der Strafe führen müsse. Dass die ausgefällte Strafe im Falle der Bestätigung des einzig angefochtenen Schuldspruchs unangemessen sei, macht er nicht geltend.
5.
Der Beschwerdeführer ersucht um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Das Gesuch ist abzuweisen, da die Nichtigkeitsbeschwerde von Anfang an aussichtslos war. Daher hat der Beschwerdeführer entsprechend dem Ausgang des Verfahrens die bundesgerichtlichen Kosten zu tragen. Seinen angespannten finanziellen Verhältnissen ist bei der Bemessung der Gerichtsgebühr Rechnung zu tragen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 800.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn und dem Kriminalgericht des Kantons Solothurn schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 9. August 2005
Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: