BGer 1P.534/2005 |
BGer 1P.534/2005 vom 15.11.2005 |
Tribunale federale
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{T 0/2}
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1P.534/2005 /ggs
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Urteil vom 15. November 2005
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I. Öffentlichrechtliche Abteilung
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Besetzung
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Bundesrichter Féraud, Präsident,
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Bundesrichter Aemisegger, Nay,
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Gerichtsschreiber Störi.
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Parteien
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X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Robert Goldmann,
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gegen
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Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
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Frey-Herosé-Strasse 12, 5001 Aarau,
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Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen,
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Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau.
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Gegenstand
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Kostenauflage bei Einstellung der Strafuntersuchung,
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Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 1. Juni 2005.
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Sachverhalt:
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A.
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Y.________ wurde im April 2004 bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt und in der Folge auf der Intensivpflegestation des Kantonsspitals Aarau behandelt. Der Assistenzarzt Z.________ teilte X.________, dem Vater des Verunfallten, in zwei Gesprächen am 1. und am 2. Juni 2004 mit, dass sein Sohn auf die normale Pflegestation verlegt werde. X.________ war mit dieser Verlegung nicht einverstanden und soll Z.________ mit den Worten, "er werde ihn schon noch sehen" und den Ausführungen, mit dieser Verlegung habe er die Ehre seines Sohnes verletzt, bedroht haben. Auf Nachfrage des Arztes habe X.________ bestätigt, dies sei als Drohung zu verstehen. Nach spitalinternen Beratungen über das weitere Vorgehen reichte Dr. Z.________ am 7. Juni 2004 Strafantrag wegen Drohung ein. X.________ wurde gleichentags verhaftet und in Untersuchungshaft versetzt; aus dieser wurde er am 29. Juni 2004 mit Auflagen entlassen.
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Am 14. September 2004 zog Dr. Z.________ seinen Strafantrag zurück.
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Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau stellte das Strafverfahren gegen X.________ am 4. Februar 2005 ein (Dispositiv-Ziffer 1) und auferlegte ihm unter Verweis auf § 139 Abs. 3 der Aargauer Strafprozessordnung vom 11. November 1958 (StPO) die Verfahrenskosten von Fr. 4'675.70 (Dispositiv-Ziffer 2).
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Die Beschwerdekammer des Obergerichts des Kantons Aargau wies die Beschwerde von X.________ gegen die Kostenauflage am 1. Juni 2005 ab (Dispositiv-Ziffer 1) und auferlegte ihm die Verfahrenskosten (Dispositiv-Ziffer 2). Sie kam zum Schluss, dieser habe mit seiner Drohung die Persönlichkeitsrechte von Dr. Z.________ schuldhaft in schwerer Weise verletzt und dadurch die Durchführung des Strafverfahrens adäquat-kausal verursacht; sein Verhalten sei krass widerrechtlich gewesen und die Drohungen seien zu Recht ernst genommen worden. Er habe damit die Strafuntersuchung gegen ihn durch "verwerfliches oder leichtfertiges Verhalten" verschuldet, was nach § 139 Abs. 3 StPO die Kostenauflage rechtfertige.
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B.
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Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 30. August 2005 beantragt X.________, die Dispositiv-Ziffern 1 und 2 des obergerichtlichen Entscheides aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eventuell seien die Dispositiv-Ziffern 1 und 2 des obergerichtlichen Entscheides und Dispositiv-Ziffer 2 der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft aufzuheben und zu entscheiden, die Kosten seien auf die Staatskasse zu nehmen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung sowie um aufschiebende Wirkung für seine Beschwerde.
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Obergericht und Staatsanwaltschaft verzichten auf Vernehmlassung.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
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1.
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Beim angefochtenen Entscheid der Beschwerdekammer handelt es sich um einen letztinstanzlichen kantonalen Endentscheid (Art. 86 Abs. 1 OG). Der Beschwerdeführer ist durch die Auferlegung von Verfahrenskosten in seinen rechtlich geschützten Interessen berührt (Art. 88 OG), und er macht die Verletzung verfassungsmässiger Rechte geltend (Art. 84 Abs. 1 lit. a OG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, sodass auf die Beschwerde, unter dem Vorbehalt gehörig begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; 125 I 492 E. 1b; 122 I 70 E. 1c), grundsätzlich einzutreten ist.
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Nicht einzutreten ist auf die Beschwerde allerdings insoweit, als sie sich gegen den erstinstanzlichen Entscheid der Staatsanwaltschaft richtet (Art. 86 Abs. 1 OG) und mehr verlangt als die Aufhebung des angefochtenen Entscheids der Beschwerdekammer, was an der kassatorischen Natur der staatsrechtlichen Beschwerde (BGE 123 I 112 E. 2b) scheitert.
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2.
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Der Beschwerdeführer wirft dem Obergericht eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör von Art. 29 Abs. 2 BV vor. Die Staatsanwaltschaft habe ihre verfassungsrechtliche Begründungspflicht verletzt, indem sie die Kostenauflage einzig mit einem Verweis auf die anwendbare Bestimmung - § 139 Abs. 3 StPO - begründet habe. Er habe dies in seiner Beschwerde ans Obergericht als Gehörsverweigerung gerügt und einen zweiten Schriftenwechsel beantragt, um der Staatsanwaltschaft die Möglichkeit zu geben, in der Beschwerdeantwort ihren Entscheid zu begründen. Auf diese Weise hätte er dann im zweiten Schriftenwechsel dazu Stellung nehmen können, wodurch die erstinstanzliche Gehörsverweigerung hätte geheilt werden können, wie dies in Bezug auf die Höhe und die Zusammensetzung der ihm auferlegten Kosten der Fall gewesen sei, die ihm von der Staatsanwaltschaft erst nach Erlass der Einstellungsverfügung, aber immerhin vor Ablauf seiner Beschwerdefrist bekannt gegeben worden seien.
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Die Beschwerdekammer führt dazu im angefochtenen Entscheid aus, die Staatsanwaltschaft habe ihren Entscheid mit dem Hinweis auf § 139 Abs. 3 StPO "nur sehr knapp" begründet. Es sei indessen "offensichtlich", dass dem Beschwerdeführer vorgeworfen werde, mit seinen Äusserungen gegenüber Dr. Z.________ verwerflich oder leichtfertig gehandelt und dadurch adäquat-kausal die Untersuchung und deren Kosten verursacht zu haben. Der Vorwurf der Verletzung der Begründungspflicht durch die Staatsanwaltschaft sei daher nicht gerechtfertigt, und auch der Eventualantrag auf Durchführung eines zweiten Schriftenwechsels sei abzuweisen.
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3.
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3.1 Aus dem aus Art. 29 Abs. 2 BV abgeleiteten Anspruch auf rechtliches Gehör ergibt sich für den Richter die Pflicht, seinen Entscheid zu begründen. Er muss wenigstens kurz die wesentlichen Überlegungen darlegen, von denen er sich dabei hat leiten lassen, sodass der Betroffene den Entscheid in voller Kenntnis der Sache anfechten kann. Dabei muss sich der Richter nicht mit allen tatsächlichen Behauptungen und rechtlichen Einwänden auseinandersetzen. Er kann sich vielmehr auf die für seinen Entscheid erheblichen Gesichtspunkte beschränken (BGE 126 I 97 E. 2b; 123 I 31 E. 2c; 122 IV 8 E. 2c; 121 I 54 E. 2c je mit Hinweisen).
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3.2 Eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs führt zwar in der Regel ohne weiteres zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Der Verfahrensmangel kann indessen geheilt werden, wenn die Kognition des Bundesgerichts gegenüber derjenigen der letzten kantonalen Instanz nicht eingeschränkt ist und dem Beschwerdeführer kein Nachteil erwächst (BGE 125 I 209 E. 9; 107 Ia 1 E. 1). Die Heilung des Verfahrensmangels ist ausgeschlossen, wenn es sich um eine besonders schwerwiegende Verletzung der Parteirechte handelt, und sie soll die Ausnahme bleiben (BGE 126 I 68 E. 2; 124 V 180 E. 4a).
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4.
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Nach dem einschlägigen § 139 StPO entscheidet die Staatsanwaltschaft bei der Einstellung der Untersuchung über die Verfahrenskosten (Abs. 1). Diese trägt in der Regel der Staat (Abs. 2). Sie können ganz oder teilweise dem Beschuldigten auferlegt werden, wenn er die Untersuchung durch ein verwerfliches oder leichtfertiges Verhalten verschuldet oder deren Durchführung erschwert hat (Abs. 3). Dem Anzeiger können sie auferlegt werden, wenn er absichtlich oder grobfahrlässig falsche Angaben gemacht hat (Abs. 4).
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Darüber hinaus sind die aus der in Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK verankerten Unschuldsvermutung abgeleiteten Garantien zu beachten. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts dazu dürfen einem Angeschuldigten bei Einstellung des Verfahrens nur dann Kosten auferlegt werden, wenn er durch ein unter rechtlichen Gesichtspunkten vorwerfbares Verhalten die Einleitung des Strafverfahrens veranlasst oder dessen Durchführung erschwert hat. Bei der Kostenpflicht des aus dem Verfahren entlassenen Angeschuldigten handelt es sich nicht um eine Haftung für ein strafrechtliches Verschulden, sondern um eine zivilrechtlichen Grundsätzen angenäherte Haftung für ein fehlerhaftes Verhalten, durch das die Einleitung oder Erschwerung des Prozesses verursacht wurde. Gemäss Art. 41 Abs. 1 OR ist zum Ersatz verpflichtet, wer einem anderen widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit. Im Zivilrecht wird demnach eine Haftung dann ausgelöst, wenn jemandem durch ein widerrechtliches und - abgesehen von den Fällen der Kausalhaftung - schuldhaftes Verhalten ein Schaden zugefügt wird. Widerrechtlich im Sinne von Art. 41 Abs. 1 OR ist ein Verhalten dann, wenn es gegen Normen verstösst, die direkt oder indirekt Schädigungen untersagen bzw. ein Schädigungen vermeidendes Verhalten vorschreiben. Solche Verhaltensnormen ergeben sich aus der Gesamtheit der schweizerischen Rechtsordnung, unter anderem aus Privat-, Verwaltungs- und Strafrecht, gleichgültig, ob es sich um eidgenössisches oder kantonales, geschriebenes oder ungeschriebenes Recht handelt. Es ist mit der in Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK festgelegten Unschuldsvermutung vereinbar einem nicht verurteilten Angeschuldigten die Kosten dann zu überbinden, wenn er in zivilrechtlich vorwerfbarer Weise gegen eine solche Verhaltensnorm klar verstossen und dadurch das Strafverfahren veranlasst oder dessen Durchführung erschwert hat (BGE 119 Ia 332 E. 1b mit Hinweisen). Unzulässig ist es dagegen, die Kostenauflage damit zu begründen, der Angeschuldigte habe sich strafbar gemacht bzw. ihn treffe ein strafrechtliches Verschulden (BGE 116 Ia 162 E. 2e S. 175; 1P.372/2000 in ZBl 102/2001 S. 141 E. 3b).
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5.
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5.1 Die Staatsanwaltschaft hat die Verfahrenskosten dem Beschwerdeführer überbunden und dies einzig mit einem Hinweis auf § 139 Abs. 3 StPO begründet. Es mag zwar Fälle geben, in denen der blosse Verweis auf eine Rechtsnorm den Begründungsanforderungen genügt, etwa bei der Verurteilung der unterliegenden Partei zur Bezahlung der Verfahrenskosten der Hinweis auf die Verfahrensbestimmung, die die Kostenverteilung nach dem Unterliegerprinzip festlegt. Aus den vorstehend in E. 4 wiedergegebenen, (hohen) Anforderungen der Unschuldsvermutung, denen eine Kostenauflage an einen Nicht-Verurteilten genügen muss, ergibt sich indessen ohne weiteres, dass eine solche entsprechend eingehend begründet werden muss. Ohne eine wenigstens rudimentäre Feststellung des Sachverhalts und einer rechtlichen Würdigung desselben ist es für den Betroffenen schlechterdings weder nachvollziehbar noch überprüfbar, ob die Kostenauflage § 139 StPO sowie den verfassungs- und konventionsrechtlichen Anforderungen genügt. Die Beschwerdekammer hat denn auch im angefochtenen Entscheid über sechs Seiten für die keineswegs besonders weitschweifige Begründung der Kostenauflage aufgewendet und setzt sich daher selber in einen gewissen Widerspruch zu ihrer Aussage, die Staatsanwaltschaft habe die Begründungspflicht nicht verletzt. Dies ist vielmehr der Fall, der Beschwerdeführer hat in der kantonalen Beschwerde zu Recht eine Verletzung der Begründungspflicht gerügt.
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5.2 Die Beschwerdekammer hätte somit entweder die Gehörsverweigerungsrüge gutheissen und die Sache an die Staatsanwaltschaft zur Verbesserung des Mangels zurückweisen können, oder aber versuchen müssen, den Mangel zu heilen. Dies hat der Beschwerdeführer sogar beantragt, indem er die Durchführung eines zweiten Schriftenwechsels verlangte, sodass die Staatsanwaltschaft im ersten eine Begründung hätte nachschieben und er im zweiten Schriftenwechsel dazu hätte Stellung nehmen können. Indem die Beschwerdekammer weder das eine noch das andere tat, sondern die - offensichtlich begründete - Gehörsverweigerungsrüge abwies, verletzte sie das rechtliche Gehörs des Beschwerdeführers, die Rüge ist begründet.
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5.3 Damit stellt sich nach der in E. 3.2 angeführten Rechtsprechung die Frage, ob der Verfahrensmangel im bundesgerichtlichen Verfahren geheilt werden kann. Dies ist indessen schon deswegen ausgeschlossen, weil das Bundesgericht im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde eine engere Kognition hat als die Beschwerdekammer. Dies betrifft insbesondere die Sachverhaltsfeststellungen der Beschwerdekammer - in concreto geht es dabei um die Frage, ob der Beschwerdeführer Dr. Z.________ ernsthaft bedroht hat - und die Anwendung des kantonalen Verfahrensrechts, die das Bundesgericht nur auf Willkür prüft. Eine Heilung fällt damit ausser Betracht, weshalb der angefochtene Entscheid wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs aufzuheben ist, ohne dass die weiteren Rügen zu prüfen wären.
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6.
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Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 OG), und der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 159 OG). Damit erweist sich sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung als gegenstandslos. Mit dem Entscheid in der Sache gilt dies auch für sein Gesuch um aufschiebende Wirkung.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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1.
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Die staatsrechtliche Beschwerde wird, soweit darauf einzutreten ist, gutgeheissen und der angefochtene Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 1. Juni 2005 aufgehoben.
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2.
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Es werden keine Kosten erhoben.
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3.
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Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen.
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4.
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Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 15. November 2005
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Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
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