BGer 1P.702/2005
 
BGer 1P.702/2005 vom 22.12.2005
Tribunale federale
{T 0/2}
1P.702/2005 /rom
Urteil vom 22. Dezember 2005
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Haag.
Parteien
A.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Thomas Wüthrich,
gegen
Amtsstatthalteramt Luzern, Eichwilstrasse 2,
Postfach, 6011 Kriens,
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Zentralstrasse 28, 6002 Luzern,
Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, Hirschengraben 16, 6002 Luzern.
Gegenstand
Haftbeschwerde,
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Luzern, II. Kammer, vom 21. Oktober 2005.
Sachverhalt:
A.
A.________ wurde am 6. Oktober 2005 aufgrund einer Haftverfügung des Amtsstatthalters von Luzern wegen Verdachts auf unrechtmässige Einreise und Aufenthalt in der Schweiz sowie illegale Erwerbstätigkeit in Untersuchungshaft versetzt. Als besondere Haftgründe nannte der Amtsstatthalter die Kollusions- und die Fluchtgefahr. Das Obergericht des Kantons Luzern wies einen Rekurs von A.________ gegen die Haftverfügung mit Entscheid vom 21. Oktober 2005 ab, soweit es auf das Rechtsmittel eintreten konnte (Ziff. 1 des obergerichtlichen Entscheids). In Ziff. 2 seines Entscheids auferlegte das Obergericht dem Rekurrenten die Gerichtskosten von Fr. 800.-- und setzte die Entschädigung seines Verteidigers für den Fall, dass er vom Amtsstatthalter zum amtlichen Verteidiger bestellt werde, auf Fr. 517.-- fest.
B.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 26. Oktober 2005 beantragt A.________, die Ziff. 1 und 2 des Entscheids des Obergerichts seien aufzuheben, und die Sache sei an das Obergericht zurückzuweisen. Eventuell sei er aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Zudem ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege; über dieses Gesuch sei vorab zu entscheiden.
C.
Am 30. Oktober 2005 wurde der Beschwerdeführer aus der Untersuchungshaft entlassen und in administrative Ausschaffungshaft versetzt.
D.
Das Obergericht beantragt, die Beschwerde sei im Kostenpunkt abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden könne. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern und das Amtsstatthalteramt Luzern schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Zu den Kostenfolgen des bundesgerichtlichen Verfahrens äussern sich die kantonalen Behörden nicht. Der Beschwerdeführer replizierte am 24. November 2005.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 88 OG muss ein Beschwerdeführer grundsätzlich ein aktuelles praktisches Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Entscheids bzw. an der Überprüfung der erhobenen Rügen haben; dieses Rechtsschutzinteresse muss auch noch im Zeitpunkt der Urteilsfällung vorliegen (BGE 125 1 394 E. 4a S. 397; 120 la 165 E. la). Ein aktuelles Rechtsschutzinteresse fehlt insbesondere dann, wenn der Nachteil auch bei Gutheissung der Beschwerde nicht mehr behoben werden könnte (BGE 125 II 86 E. 5a S. 96; 118 la 488 E. la). Vom Erfordernis des aktuellen praktischen Interesses wird allerdings dann abgesehen, wenn sich die aufgeworfene Frage jederzeit unter gleichen oder ähnlichen Umständen wieder stellen könnte, an ihrer Beantwortung wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung ein hinreichendes öffentliches Interesse besteht und eine rechtzeitige verfassungsgerichtliche Überprüfung im Einzelfall kaum je möglich wäre (BGE 127 1 164 E. la S. 166; 125 1 394 E. 4b S. 397 mit Hinweisen).
An diesen Voraussetzungen fehlt es bei der Mehrzahl der Beschwerden, mit denen die Verfassungs- und Konventionswidrigkeit der Anordnung oder Erstreckung einer inzwischen dahingefallenen Untersuchungshaft gerügt wird. Die damit aufgeworfenen Fragen können sich in der Regel nicht mehr unter gleichen oder ähnlichen Umständen stellen. Vielmehr ist das Vorliegen von Haftgründen im Einzelfall zu prüfen. Das Bundesgericht ist demnach auch nur ganz ausnahmsweise auf Beschwerden eingetreten, bei welchen das aktuelle praktische Interesse an der Haftprüfung dahingefallen war (BGE 125 1 394 E. 4b S. 397 f. mit Hinweisen). lm vorliegenden Fall stellen sich keine Fragen von grundsätzlicher Bedeutung, die sofort höchstrichterlich beantwortet werden müssten. Es steht vielmehr der Einzelfall im Vordergrund mit den Fragen, ob die Weiterführung der Haft im Einzelnen gerechtfertigt war und vor der Verfassung und der Menschenrechtskonvention standhielt. Entsprechende Fragen können sich bei jeder Haftanordnung stellen und lassen sich im Normalfall durch Haftbeschwerden bei den kantonalen Instanzen gerichtlich beurteilen.
Das Verfahren ist somit in Bezug auf die Zulässigkeit der Untersuchungshaft nach Art. 40 OG in Verbindung mit Art. 72 BZP wegen des nachträglichen Wegfalls des Rechtsschutzinteresses als erledigt abzuschreiben (vgl. BGE 118 la 488 E. 1a S. 490 und E. 3c S. 494).
1.2 Art. 72 BZP bestimmt, dass bei diesem Verfahrensausgang über die Prozesskosten mit summarischer Begründung auf Grund der Sachlage vor Eintritt des Erledigungsgrundes zu entscheiden ist. Bei der Beurteilung der Kosten- und Entschädigungsfolgen ist somit in erster Linie auf den mutmasslichen Ausgang des Verfahrens abzustellen. Lässt sich dieser im konkreten Fall nicht feststellen, so sind allgemeine prozessrechtliche Kriterien heranzuziehen. Danach wird jene Partei kosten- und entschädigungspflichtig, welche das gegenstandslos gewordene Verfahren veranlasst hat oder bei welcher die Gründe eingetreten sind, die dazu geführt haben, dass der Prozess gegenstandslos geworden ist. Die Regelung bezweckt, denjenigen, der in guten Treuen Beschwerde erhoben hat, nicht im Kostenpunkt dafür zu bestrafen, dass die Beschwerde infolge nachträglicher Änderung der Umstände abzuschreiben ist, ohne dass ihm dies anzulasten wäre (BGE 118 lb 488 E. 4a S. 494 f.).
Eine summarische Prüfung der Lage vor dem Hinfall des aktuellen Rechtsschutzinteresses ergibt Folgendes: lm angefochtenen Entscheid des Obergerichts vom 21. Oktober 2005 wird die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft mit dem Vorliegen von Kollusionsgefahr begründet. Die vom Beschwerdeführer verlangten weniger einschneidenden Massnahmen wurden mit Hinweis auf den noch wenig gesicherten Untersuchungsstand abgelehnt. Die Beschwerdeerhebung beim Bundesgericht erfolgte am 26. Oktober 2005. Am 30. Oktober 2005 wurde der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen, ohne dass ersichtlich wäre, dass sich die rechtserheblichen Verhältnisse in Bezug auf den Haftgrund der Kollusionsgefahr seit dem Entscheid des Obergericht verändert hätten. Bereits daraus ergibt sich, dass der Beschwerdeführer begründeten Anlass zur Erhebung der staatsrechtlichen Beschwerde hatte, und es ist anzunehmen, dass die Beschwerde erfolgreich gewesen wäre.
Unter diesen Umständen ist es gerechtfertigt, den Kanton Luzern zu verpflichten, dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung auszurichten. Zum selben Ergebnis führt die Tatsache, dass die Gründe, die zur Gegenstandslosigkeit des Verfahrens geführt haben, von den kantonalen Behörden verursacht wurden.
2.
Weiter beanstandet der Beschwerdeführer in seiner staatsrechtlichen Beschwerde die Regelung der Kostenfolgen in Ziff. 2 des angefochtenen Entscheids. Diesbezüglich ist das bundesgerichtliche Verfahren mit der Aufhebung der Untersuchungshaft nicht gegenstandslos geworden. Indessen kann das Bundesgericht nach Art. 157 und 159 Abs. 6 OG sowie der einschlägigen Rechtsprechung den kantonalen Kosten- und Entschädigungsentscheid nur abändern, wenn es auch den Entscheid in der Sache selbst ändert (BGE 91 II 146 E. 3 S. 150). Das ist, wenn wie hier die Sache gegenstandslos geworden ist, nicht der Fall. Auf den entsprechenden Antrag kann daher nicht eingetreten werden. Dem Umstand, dass der Beschwerdeführer im kantonalen Verfahren mit Kosten belastet bleibt, von denen nicht feststeht, ob sie auch bei materieller Behandlung der Beschwerde noch von ihm zu tragen gewesen wären, kann im Rahmen der Billigkeit beim bundesgerichtlichen Kostenentscheid Rechnung getragen werden (Urteil des Bundesgerichts 5P.467/2000 vom 13. März 2001, E. 2b).
lm Übrigen entspricht die Begründung der vorliegenden Beschwerde in Bezug auf die dem Beschwerdeführer auferlegten Verfahrenskosten nicht den Anforderungen von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG (vgl. BGE 130 I 258 E. 1.3 S. 261 f.; 129 I 185 E. 1.6 S. 189; 127 I 38 E. 3c S. 43; 117 la 393 E. 1c S. 395, je mit Hinweisen). In Bezug auf die Entschädigung des amtlichen Verteidigers wird im Dispositiv des angefochtenen Entscheids zudem vorausgesetzt, dass der Verteidiger vom Amtsstatthalter zum amtlichen Verteidiger bestellt wird. Solange diese Bedingung nicht erfüllt ist, Iiegt in dieser Frage erst ein Zwischenentscheid im Sinne von Art. 87 OG vor, gegen den die staatsrechtliche Beschwerde nach Art. 87 Abs. 2 OG nur zulässig ist, soweit er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann. Dies ist hier nicht der Fall, da die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege selbst gar nicht umstritten ist, sondern Iediglich die Höhe der Entschädigung des amtlichen Verteidigers im Haftverfahren (vgl. BGE 129 I 129 E. 1.1 S. 131). lm Übrigen erscheinen die Erwägungen, welche das Obergericht zu einer Kürzung der anwaltlichen Kostennote für das Rekursverfahren bewogen haben, nicht geradezu unhaltbar. Auf die staatsrechtliche Beschwerde kann somit nicht eingetreten werden, soweit sie sich gegen Ziff. 2 des Dispositivs des angefochtenen Entscheids richtet.
3.
Es ergibt sich somit, dass auf die staatsrechtliche Beschwerde auch nicht eingetreten werden kann, soweit sie nicht gegenstandslos geworden ist. Auf die Erhebung einer Gerichtsgebühr kann unter Beachtung der Umstände des vorliegenden Verfahrens verzichtet werden (Art. 156 OG). Soweit die Angelegenheit gegenstandslos geworden ist, hat der Kanton Luzern den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (E. 1.2 hiervor). Der vom unentgeltlichen Rechtsvertreter in Rechnung gestellte Zeitaufwand erweist sich indessen als übersetzt, die Beschwerdeschrift als weitschweifig und über weite Strecken appellatorisch. Insgesamt erscheint eine Parteientschädigung von (pauschal) Fr. 1'500.-- als tarifkonform und angemessen (vgl. Art. 6 Abs. 2 und Art. 8 Abs. 1 des Tarifs über die Entschädigungen an die Gegenpartei für das Verfahren vor dem Bundesgericht [SR 173.119.1]). lm Übrigen ist das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege abzuweisen, da auf die zu Ziff. 2 des angefochtenen Entscheids gestellten Rechtsbegehren nicht eingetreten werden kann und die Beschwerde diesbezüglich als aussichtslos zu bezeichnen ist (Art. 152 0G).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Auf die staatsrechtliche Beschwerde wird nicht eingetreten, soweit sie nicht gegenstandslos geworden ist.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Der Kanton Luzern hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.-- zu bezahlen.
4.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Amtsstatthalteramt Luzern sowie der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 22. Dezember 2005
Im Namen der I. Öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: