BGer U 332/2005
 
BGer U 332/2005 vom 17.03.2006
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
U 332/05
Urteil vom 17. März 2006
II. Kammer
Besetzung
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Seiler; Gerichtsschreiber Fessler
Parteien
M.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Alex Beeler, Frankenstrasse 3, 6003 Luzern,
gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, Luzern
(Entscheid vom 19. Juli 2005)
Sachverhalt:
A.
Der 1941 geborene M.________ arbeitete seit 16. August 1995 als Operateur in der Firma L.________ AG einem der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) unterstellten Betrieb. Am 14. Dezember 2001 verunfallte M.________ bei der Arbeit. Beim Bedienen der Pre-Pack-Anlage verdrehte es ihm den rechten Arm. Der Hausarzt Dr. med. F.________, Allgemeine Medizin FMH, verordnete Physiotherapie und Analgetika. Am 24. Januar 2002 nahm M.________ die Arbeit zu 50 % wieder auf. Ein Arbeitsversuch bei vollem Pensum am 28. Februar 2002 scheiterte. Im ärztlichen Zwischenbericht vom 2. März 2002 stellte Dr. med. F.________ die Diagnose eines Status nach Aussenrotations-Hyperabduktionstrauma der Schulter rechts. Am 2. April 2002 wurde M.________ kreisärztlich untersucht. Am 22. Mai 2002 nach Arthrographie vom Vortag wurde ein MRI und wegen der anhaltenden Schmerzen am 19. Juli 2002 ein Arthro-MRI des Schultergelenks rechts durchgeführt. Gestützt darauf stellte Dr. med. Z.________, Orthopädische Chirurgie FMH, im Bericht vom 16. Oktober 2002 folgende Diagnosen: «St. n. Schulterdistorsion rechts vom 14.12.01. Inkompletter Riss Infraspinatussehne. Tendinopathie Supraspinatus mit Impingement-Symptomatik. Partialriss Subscapularissehne. Partieller Einriss vorderes Labrum. Beginnende Omarthrose. AC-Gelenksarthrose». Am 20. November 2002 wurde M.________ von Kreisarzt-Stellvertreter Dr. med. H.________, FMH für orthopädische Chirurgie, untersucht. Der Facharzt empfahl die Zuweisung leidensangepasster Arbeiten, und er schlug eine diagnostische Schulterarthroskopie, allenfalls mit subacromialer oder sogar offener Defilée-Erweiterung und Manschettenrevision vor. In der Folge konnte sich M.________ nicht für einen operativen Eingriff entscheiden. Am 8. September 2003 wurde ein Arthro-MRT des Schultergelenks rechts durchgeführt. Gestützt darauf stellte Dr. med. Z.________ im Bericht vom 13. Oktober 2003 die Diagnose einer inkompletten Ruptur supraspinatus und infraspinatus Schulter rechts, Labrumläsion sowie beginnende Omarthrose. Im Rahmen der Abschlussuntersuchung vom 24. November 2003 umschrieb Kreisarzt Dr. med. D.________ die noch zumutbaren Tätigkeiten, und er nahm eine Beurteilung des Integritätsschadens («Beginnende Omarthrose rechts mit Labrumläsion und nicht durchgehender Supra- und Infraspinatussehnenläsion») vor.
Mit Verfügung vom 29. März 2004 sprach die SUVA M.________ ab 1. Mai 2004 eine Rente von Fr. 540.- (Invaliditätsgrad: 15 % ) sowie eine Integritätsentschädigung von Fr. 10'680.- (Integritätseinbusse: 10 %) zu. Daran hielt sie nach Einholung der Stellungnahme des Dr. med. S.________, FMH für Chirurgie, von der Abteilung Versicherungsmedizin vom 25. August 2004 mit Einspracheentscheid vom 2. September 2004 fest.
B.
Die Beschwerde des M.________ wies die Sozialversicherungsrechtliche Abteilung des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern mit Entscheid vom 19. Juli 2005 ab.
C.
M.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben und es sei ihm eine Rente bei einer Invalidität von mindestens 52 % sowie eine Integritätsentschädigung bei einer Einbusse von mindestens 35 % auszurichten; eventualiter sei die Sache an die SUVA zwecks Einholung eines orthopädischen Gutachtens bei einem Schulterspezialisten zurückzuweisen.
Kantonales Gericht und SUVA beantragen je die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
D.
Die IV-Stelle Luzern hat M.________ mit Einspracheentscheid vom 24. Februar 2006 ab 1. Dezember 2002 bei einem Invaliditätsgrad von 100 % eine ganze Rente zugesprochen.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Das kantonale Gericht hat die Leistungszusprechung der SUVA gemäss Einspracheentscheid vom 2. September 2004 für die gesundheitlichen und erwerblichen Folgen des Unfalls vom 14. Dezember 2001 (Invalidenrente ab 1. Mai 2004 und Integritätsentschädigung auf der Grundlage einer Erwerbsunfähigkeit von 15 % sowie einer Integritätseinbusse von 10 %) bestätigt. Zu der in diesem Verfahren hauptsächlich umstrittenen Arbeitsfähigkeit als einem wesentlichen Faktor für die Bestimmung des trotz der unfallbedingten Bewegungseinschränkung des Schultergelenks rechts zumutbarerweise noch erzielbaren Erwerbseinkommens im Besonderen hat die Vorinstanz erwogen, gemäss Kreisarzt-Stellvertreter Dr. med. H.________ sei eine leichte Arbeit mit Gewichten bis 5 kg nicht über Brusthöhe, welche möglichst stammnahe vor sich sitzend/stehend oder sitzend kombiniert verrichtet werden könnte, ideal (Bericht vom 20. November 2002). Laut Kreisarzt Dr. med. D.________ seien leichte Arbeiten mit Armbewegungen bis Brusthöhe ganztägig uneingeschränkt zumutbar. Eingeschränkt zumutbar seien das Heben und Tragen auf gelegentlich 5 kg mit der rechten Extremität bis Brusthöhe. Über-Kopf-Arbeiten seien zu unterlassen. Ebenso zu vermeiden seien Einflüsse hämmernder, schlagender oder vibrierender Art sowie werfende und ausladende Bewegungen mit dem rechten Arm (Bericht vom 24. November 2003). Auf die kreisärztlichen Zumutbarkeitsbeurteilungen könne abgestellt werden. Sie stimmten inhaltlich gut überein und seien nicht widersprüchlich. Es dürfe auch berücksichtigt werden, dass Dr. med. H.________ und Dr. med. D.________ über eine mehrjährige Erfahrung bei der Beurteilung von Unfallfolgen verfügten und dass sie die Funktionalität der Schulter und der Arme untersucht hätten. Die abweichende Einschätzung des Hausarztes Dr. med. F.________ vermöge die Beweiskraft der Aussagen der Kreisärzte nicht herabzusetzen.
In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird die Schlüssigkeit der kreisärztlichen Berichte vom 20. November 2002 und 24. November 2003 bestritten. Insbesondere stimmten die Beurteilungen der noch zumutbaren Arbeitsfähigkeit der Dres. med. D.________ und H.________ inhaltlich nicht überein.
2.
2.1 Nach der Rechtsprechung ist es dem Sozialversicherungsgericht nicht verwehrt, gestützt auf Beweisgrundlagen zu urteilen, die im Wesentlichen oder ausschliesslich aus dem Verfahren vor dem am Recht stehenden Versicherungsträger stammen. In solchen Fällen sind an die Beweiswürdigung jedoch strenge Anforderungen zu stellen in dem Sinne, dass bei auch nur geringen Zweifeln an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der ärztlichen Feststellungen ergänzende Abklärungen vorzunehmen sind (BGE 122 V 162 Erw. 1d; RKUV 1999 Nr. U 332 S. 194 Erw. 2a/bb, 1997 Nr. U 281 S. 282 Erw. 1a; vgl. auch BGE 125 V 353 f. Erw. 3b/ee). Allerdings genügt die Tatsache allein, dass eine abweichende (selbst fach-)ärztliche Meinung besteht, nicht, um im dargelegten Sinne die Aussagekraft und damit den Beweiswert eines medizinischen Berichts in Frage zu stellen (Urteil X. vom 25. November 2002 [U 380/00] Erw. 3.2 mit Hinweis). So verhält es sich vorliegend in Bezug auf den hausärztlichen Bericht vom 29. Mai 2004, wie das kantonale Gericht insoweit richtig festhält.
2.2
2.2.1 Die Kreisärzte umschreiben die trotz der Unfallfolgen noch zumutbaren Tätigkeiten nicht wesentlich verschieden. Fallen im Besonderen nach Dr. med. H.________ lediglich «möglichst stammnahe vor sich» zu verrichtende Arbeiten in Betracht, sind gemäss Dr. med. D.________ werfende und ausladende Bewegungen mit dem rechten Arm zu vermeiden (Berichte vom 20. November 2002 und 24. November 2003). Darin kann keine erhebliche Diskrepanz in der Beurteilung des Ausmasses der Beweglichkeit nach vorn des Schultergelenks rechts erblickt werden. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers bestehen somit nicht rechtsgenügliche Zweifel an der Schlüssigkeit der kreisärztlichen Berichte vom 20. November 2002 und 24. November 2003, welche in Bezug auf Art und Umfang der unfallbedingt noch zumutbaren Arbeitsfähigkeit weitere Abklärungen erforderten.
2.2.2 Die Ermittlung des Invaliditätsgrades von 15 % durch die Vorinstanz wird abgesehen von der Höhe des Abzugs vom Tabellenlohn im Sinne von BGE 126 V 75 ausdrücklich nicht beanstandet. Es besteht kein Anlass zu einer näheren Prüfung von Amtes wegen (BGE 110 V 53). Die Zusprechung einer ganzen Rente der Invalidenversicherung ab 1. Dezember 2002 gemäss der nach Abschluss des Schriftenwechsels eingereichten Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 24. Februar 2006 ist im Übrigen unbeachtlich. Der Invaliditätsgrad von 100 % erfolgte ausdrücklich im Hinblick auf das fortgeschrittene Alter des Versicherten (61 Jahre bei Leistungsbeginn). Demgegenüber kommt hier Art. 28 Abs. 4 UVV zum Zuge. Danach sind für die Bestimmung des Invaliditätsgrades die Erwerbseinkommen massgebend, die ein Versicherter im mittleren Alter bei einer entsprechenden Gesundheitsschädigung erzielen könnte, wenn er nach dem Unfall die Erwerbstätigkeit altershalber nicht mehr aufnimmt oder wenn sich das vorgerückte Alter erheblich als Ursache der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit auswirkt. Nach der Rechtsprechung liegt das mittlere Alter bei etwa 42 Jahren oder zwischen 40 und 45 Jahren und das vorgerückte Alter im Bereich von rund 60 Jahren bei Rentenbeginn (BGE 122 V 419 Erw. 1b und 427 oben).
Das kantonale Gericht hat den Abzug vom Tabellenlohn auf 15 % festgesetzt. Entgegen den Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde lassen weder das Alter und der Ausländer-Status noch das Fehlen einer abgeschlossenen Ausbildung diese Bemessung als gesetzwidrig erscheinen.
2.3 Im Weitern stellen eine Omarthrose (glenohumeral) in mässiger Form und eine Schulterbeweglichkeit maximal bis 30° über der Horizontale je für sich genommen einen Integritätsschaden im Sinne von Art. 24 Abs. 1 UVG von 5 %-10 % und 10 % dar (vgl. SUVA-Tabellen 1 und 5 «Integritätsschaden bei Funktionsstörungen obere Extremitäten» sowie «Integritätsschaden bei Arthrosen»). Davon ausgehend bezifferte Dr. med. D.________ im vorliegenden Fall den Integritätsschaden unter Berücksichtigung einer teilweisen Verschlimmerung der Omarthrose sowie des Bewegungsumfangdefizites auf 10 %. Dies bedarf der näheren Begründung. Dazu genügt nicht, wenn Dr. med. S.________ in seiner Stellungnahme vom 25. August 2004 ausführt, radiologische (Arthrose) und klinische Befunde dürften nicht einfach addiert werden. Dies gilt umso mehr, als er im Unterschied zum Kreisarzt eine zukünftige Verschlimmerung, weil nicht zuverlässig voraussehbar, nicht berücksichtigte (vgl. Art. 36 Abs. 4 UVV). Es kommt dazu, dass in Bezug auf den Schweregrad der Omarthrose und auch hinsichtlich des Ausmasses der Bewegungseinschränkung des Schultergelenks rechts nach vorne Unklarheit besteht. Zeigte das Arthro-MRI vom 17. Juli 2002 lediglich eine leichte Omarthrose, ergab das Arthro-MRT vom 8. September 2003 als Befund eine Omarthrose. Eine Verschlechterung des Zustandes des Schultergelenks rechts im Zeitraum Juli 2002 bis September 2003 lässt sich umso weniger ohne weiteres verneinen, als laut Dr. med. D.________ das Risiko für eine Verschlimmerung der Arthrose glenohumeral erhöht ist. Damit kontrastiert, wenn der Kreisarzt die Diagnose einer beginnenden Omarthrose stellt (Bericht vom 24. November 2003). Unter diesen Umständen kann die Angemessenheit eines Integritätsschadens von 10 % nicht in zuverlässiger Weise beurteilt werden.
Die SUVA wird ein versicherungsexternes orthopädisches Gutachten einzuholen haben, welches zur Schwere des Integritätsschadens Stellung zu nehmen hat. Danach wird der Unfallversicherer über den Anspruch auf Integritätsentschädigung neu verfügen.
3.
Der Beschwerdeführer hat nach Massgabe seines Obsiegens Anspruch auf eine u.a. nach dem anwaltlichen Vertretungsaufwand bemessene Parteientschädigung (Art. 159 OG in Verbindung mit Art. 135 OG, Art. 2 Abs. 1 des Tarifs über die Entschädigungen an die Gegenpartei für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht und Art. 160 OG).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 19. Juli 2005 und der Einspracheentscheid vom 2. September 2004, soweit sie die Integritätsentschädigung betreffen, aufgehoben und die Sache wird an die SUVA zurückgewiesen, damit sie im Sinne von Erwägung 2.2 in fine verfahre. Im Übrigen wird die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Die SUVA hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung (einschliesslich Mehrwertsteuer) von Fr. 1000.- zu bezahlen.
4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern hat die Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses festzusetzen.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 17. März 2006
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: