BGer 6P.123/2006
 
BGer 6P.123/2006 vom 08.09.2006
Tribunale federale
{T 0/2}
6P.123/2006
6S.267/2006 /hum
Urteil vom 8. September 2006
Kassationshof
Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Kolly, Zünd,
Gerichtsschreiber Weissenberger.
Parteien
X.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Fäh,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Schützengasse 15, 9001 St. Gallen,
Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer,
Klosterhof 1, 9001 St. Gallen.
Gegenstand
6P.123/2006
Strafverfahren, Willkür, rechtliches Gehör,
6S.267/2006
Mehrfache sexuelle Handlungen mit einem Kind
(Art. 187 StGB), Vorsatz (Art. 18 Abs. 1 StGB), psychiatrisches Gutachten (Art. 13 StGB), Strafzumessung (Art. 63 StGB),
Staatsrechtliche Beschwerde (6P.123/2006) und Nichtigkeitsbeschwerde (6S.267/2006) gegen den Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen, Strafkammer, vom 13. Februar 2006.
Sachverhalt:
A.
Mit Entscheid vom 11. Juni 2004 sprach das Kreisgericht Rorschach X.________ der mehrfachen sexuellen Handlungen mit einem Kind schuldig und verurteilte ihn zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von 13 Monaten.
Die von X.________ dagegen erhobene Berufung wies das Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer, am 13. Februar 2006 ab.
B.
X.________ führt staatsrechtliche Beschwerde und eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde je mit dem Antrag, den erwähnten Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
C.
Das Kantonsgericht St. Gallen hat auf Gegenbemerkungen zu den Beschwerden verzichtet. Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen ersucht um deren Abweisung.
D.
Mit Verfügung vom 4. Juli 2006 hat der Präsident des Kassationshofes den Beschwerden die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
I. Staatsrechtliche Beschwerde
1.
Der Beschwerdeführer rügt, der psychiatrische Gutachter habe auf eine leicht bis mittelgradige Verminderung der Zurechnungsfähigkeit erkannt, weshalb es willkürlich sei, wenn das Kantonsgericht nur eine leichte Verminderung annehme (Beschwerde, S. 5 ff.).
Der Beschwerdeführer hat seine Rüge vor Kantonsgericht weder ausdrücklich noch sinngemäss vorgebracht, obschon bereits das Kreisgericht Rorschach eine (nur) leichte Verminderung der Zurechnungsfähigkeit berücksichtigt hatte. Bei Willkürrügen verlangt das Eintretenserfordernis der Letztinstanzlichkeit des angefochtenen Urteils (Art. 86 Abs. 1 OG) in Konstellationen wie hier, dass die erhobenen Rügen auch inhaltlich den Instanzenzug durchlaufen haben (vgl. nur BGE 119 Ia 88 E. 1a mit Hinweisen). Auf die Rüge des Beschwerdeführers ist somit mangels Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzugs nicht einzutreten.
Im Übrigen ist anzumerken, dass es eine vom Richter zu beurteilende Rechtsfrage ist, ob und inwieweit ein gutachterlicher Befund (eine ärztliche Tatsachenfeststellung und Diagnose) eine verminderte Zurechnungsfähigkeit im Rechtssinne darstellt und welche Rechtsfolge diesem Befund zu geben ist.
2.
Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend. Das Kantonsgericht habe die Frage, ob er vorsätzlich gehandelt habe, nicht behandelt.
Sowohl aus den Erwägungen im Urteil des Kreisgerichts, auf die das Kantonsgericht weitgehend verweist, als auch aus dem angefochtenen Entscheid geht hervor, dass sich die beiden Instanzen mit der subjektiven Tatbestandsseite auseinandergesetzt haben (vgl. nur Urteil Kreisgericht, S. 17; angefochtener Entscheid, S. 11). Der Beschwerdeführer bezeichnet sich selbst als pädophil. Gestützt auf diese Veranlagung und seine einschlägigen Vorstrafen legt das Kantonsgericht im Einzelnen dar, dass und weshalb die angeklagten Handlungen nicht nur objektiv betrachtet sexualbezogen waren, sondern der sexuellen Lustbefriedigung des Beschwerdeführers dienten (Urteil Kreisgericht, S. 12 - 16; angefochtener Entscheid, S. 8 - 11) und dieser sich der Grenzüberschreitung bewusst sein musste (angefochtener Entscheid, S. 11). Damit hat das Kantonsgericht die für die Beurteilung des Vorsatzes notwendigen tatsächlichen Feststellungen getroffen. Bei dieser Sachlage ist nicht ersichtlich, inwiefern das Kantonsgericht ihre verfassungsmässige Begründungspflicht und damit das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers verletzt haben soll. Die Beschwerde erweist sich in diesem Punkt als unbegründet.
3.
Die staatsrechtliche Beschwerde ist nach dem Gesagten abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Ausgang hat der Beschwerdeführer die Kosten des Verfahrens zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG).
II. Nichtigkeitsbeschwerde
4.
Der Beschwerdeführer bringt vor, die Vorinstanz habe sich zur subjektiven Tatbestandsseite nicht geäussert und damit Art. 18 Abs. 1 und Art. 187 StGB verletzt.
4.1 Der Tatbestand der sexuellen Handlungen mit Kindern gemäss Art. 187 StGB setzt Vorsatz voraus (Art. 18 Abs. 1 StGB). Eventualvorsatz genügt.
4.2 Der Beschwerdeführer ist einschlägig vorbestraft, und es sind mehrere Strafverfahren gegen ihn geführt worden (angefochtener Entscheid, S. 3). Sein Opfer war zur Tatzeit knapp zehn Jahre alt, er selbst war 66-jährig. Der Beschwerdeführer bezeichnet sich selbst als pädophil. Gestützt auf diese Veranlagung und seine einschlägigen Vorstrafen legt das Kantonsgericht im Einzelnen dar, dass und weshalb die angeklagten Handlungen nicht nur objektiv betrachtet sexualbezogen waren, sondern der sexuellen Lustbefriedigung des Beschwerdeführers dienten, dieser allein aus sexuellen Motiven heraus handelte (Urteil Kreisgericht, S. 12 - 16; angefochtener Entscheid, S. 8-11) und sich der Grenzüberschreitung bewusst sein musste (angefochtener Entscheid, S. 11).
4.3 Angesichts des zur Tatzeit noch nicht 10-jährigen Opfers erübrigten sich Ausführungen zum Wissen des Beschwerdeführers darüber, dass es im Schutzalter war. Was die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Tathandlungen betrifft (gemeinsames Duschen und Einseifen, "Schleckspiel" sowie Kitzeln und Streicheln beim Einschlafen), durfte die Vorinstanz ausgehend von den oben (E. 4.2) dargelegten verbindlichen tatsächlichen Feststellungen (Art. 277bis Abs. 1 BStP) ohne weitere Begründung annehmen, der Beschwerdeführer habe auch hinsichtlich des sexuellen Charakters der Handlungen mit Vorsatz gehandelt. Eine Verletzung von Bundesrecht liegt nicht vor.
5.
Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung von Art. 13 StGB geltend. Die Vorinstanz habe sich auf ein psychiatrisches Gutachten aus dem Jahr 1968 abgestützt, das ihm für ähnlich gelagerte Straftaten eine leicht bis mittelgradig verminderte Zurechnungsfähigkeit attestiert habe. Eine neue Begutachtung hätte allein schon aufgrund des Zeitablaufs von 35 Jahren durch die Vorinstanzen angeordnet werden müssen. Zudem weiche die Vorinstanz ohne Begründung vom Gutachten ab und werte die Verminderung der Zurechnungsfähigkeit nur als leicht. Es sprächen aber gute Gründe dafür, dass sich sein Zustand verschlechtert habe und nunmehr sogar von einer in schwerem Grad verminderten Zurechnungsfähigkeit auszugehen sei. Schliesslich seien auch die Untersuchungsbehörden verpflichtet gewesen, eine neue psychiatrische Begutachtung anzuordnen, da sie ihn im Zusammenhang mit einem Strafverfahren im Jahre 1997 und der Haftentlassung verpflichtet hätten, sich bis zum Abschluss des Verfahrens beim sozialpsychiatrischen Dienst Rorschach zu regelmässigen therapeutischen Gesprächen einzufinden. Die Staatsanwaltschaft habe somit bereits im Jahre 1997 erkannt, dass er fachärztlicher Behandlung bedürfe, womit ernsthafte Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit hätten aufkommen müssen (Beschwerde, S. 5 ff.).
5.1 Ob die Vorinstanz eine Begutachtung des Beschwerdeführers hätte anordnen sollen, ist eine Frage des Bundesstrafrechts, die mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde aufgeworfen werden kann (BGE 116 IV 273 E. 4a).
5.2 Der Beschwerdeführer hat durch einen Rechtsanwalt im Verfahren vor der Vorinstanz keine neue Begutachtung verlangt. Er hat mit seiner Berufung vor der Vorinstanz jedoch einen Freispruch von Schuld und Strafe beantragt. Die Vorinstanz hatte mit voller Kognition deshalb über Schuld und Strafe insgesamt neu zu befinden und war verpflichtet, neue Beweise abzunehmen, soweit sie für die Beurteilung erforderlich waren (dazu Art. 245 Strafprozessgesetz St. Gallen vom 1. Juli 1999, sGS 962.1). In solchen Fällen können Rechtsfragen, welche die letzte kantonale Instanz nach dem kantonalen Prozessrecht auch ohne ausdrücklichen Antrag prüfen durfte oder musste, mit der Nichtigkeitsbeschwerde neu vorgetragen werden, selbst wenn sie der Beschwerdeführer im kantonalen Verfahren nicht aufgeworfen hatte (BGE 120 IV 98 E. 2b S. 105). Die Frage der Zurechnungsfähigkeit betrifft auch nicht der Sache nach die Art der Beweisführung, weshalb die von der Rechtsprechung aufgestellte Ausnahme von der Zulässigkeit neuer Vorbringen (vgl. BGE 122 IV 285 E. 1f) nicht einschlägig ist. Auf den Einwand des Beschwerdeführers ist deshalb einzutreten.
5.3 Gemäss Art. 13 StGB ist eine Untersuchung des Beschuldigten anzuordnen, wenn Zweifel an dessen Zurechnungsfähigkeit bestehen. Der Richter soll seine Zweifel nicht selber etwa mit Hilfe psychiatrischer Fachliteratur beseitigen, sondern Sachverständige beiziehen. Art. 13 StGB gilt nicht nur, wenn der Richter tatsächlich Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit hegt, sondern auch, wenn er nach den Umständen des Falles Zweifel haben sollte. Art. 13 StGB gebietet, auch den Grad der Herabsetzung begutachten zu lassen (BGE 119 IV 120 E. 2d). Die Bestimmung ist auch anwendbar für die Beantwortung der Frage, wann ein neues Gutachten einzuholen ist, wenn der Beschuldigte bereits einmal - in einem früheren Strafverfahren - begutachtet wurde und seither längere Zeit verstrichen ist (BGE 88 IV 51; 116 IV 273 E. 4a).
Bei der Prüfung dieser Zweifel ist zu berücksichtigen, dass nicht jede geringfügige Herabsetzung der Fähigkeit, sich zu beherrschen, genügt, um verminderte Zurechnungsfähigkeit anzunehmen. Der Betroffene muss vielmehr, zumal der Begriff des normalen Menschen nicht eng zu fassen ist, in hohem Masse in den Bereich des Abnormen fallen, seine Geistesverfassung nach Art und Grad stark vom Durchschnitt nicht bloss der Rechts-, sondern auch der Verbrechensgenossen abweichen (BGE 116 IV 273 E. 4b). Zeigt das Verhalten des Täters vor, während und nach der Tat, dass ein Realitätsbezug erhalten war, dass er sich an wechselnde Erfordernisse der Situation anpassen, auf eine Gelegenheit zur Tat warten oder diese gar "konstellieren" konnte, so hat eine schwere Beeinträchtigung nicht vorgelegen (vgl. Volker Dittmann, Psychothrope Substanzen, Delinquenz und Zurechnungsfähigkeit, Schweizerische Rundschau für Medizin, Praxis 85/1996 S. 109, 111).
5.4 Die Vorinstanzen haben auf das psychiatrische Gutachten von Dr. med. A.________ vom 30. Januar 1968 abgestellt, obschon das Kreisgericht dieses als nicht mehr aktuell bezeichnet (Entscheid Kreisgericht Rorschach, S. 20). In aller Regel haben derart weit zurück liegende Gutachten keine hinreichende Aussagekraft mehr. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Begutachtete in mehreren Jahrzehnten eine die Urteilsfähigkeit, die Rückfallprognose und die Massnahmebedürftigkeit (vgl. Art. 13 Abs. 2 StGB) berührende persönliche Entwicklung durchgemacht hat, erweist sich als zu gross. Dies gilt ungeachtet des Umstandes, ob konkrete Anhaltspunkte für eine massgebende Veränderung beim Begutachteten vorliegen oder nicht. Zu beachten gilt ferner insoweit, dass die Frage der Zurechnungsfähigkeit vom Gutachter nicht abstrakt beantwortet, sondern nur in Bezug auf die dem Beschwerdeführer vor rund 38 Jahren zur Last gelegten Straftaten geprüft wurde. Zudem pflegen sich auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden über einen derart langen Zeitraum zu ändern.
Die Vorinstanz hat eine leicht verminderte Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers zu den Tatzeiten bejaht und damit Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit zum Ausdruck gebracht. Sie hat sich ohne Begründung auf das damals 38 Jahre alte psychiatrische Gutachten abgestützt. Wie dargelegt, durfte sie dies nicht, ohne eingehend darzulegen, weshalb das Gutachten trotz seines Alters nach wie vor aktuell sei. Indem sich die Vorinstanz dazu ausschweigt, entzieht sie dem Bundesgericht die Möglichkeit der Überprüfung der Gesetzesanwendung.
6.
Die Beschwerde ist somit in Bezug auf die Frage der Anordnung einer neuen psychiatrischen Begutachtung des Beschwerdeführers gemäss Art. 277 BStP teilweise gutzuheissen und im weiteren beurteilten Punkt abzuweisen. Soweit sich die Beschwerde gegen die Strafzumessung richtet, wird sie mit der teilweisen Gutheissung gegenstandslos.
Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Kosten zu erheben und ist dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung aus der Bundesgerichtskasse auszurichten (Art. 278 Abs. 2 und 3 BStP).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- für das staatsrechtliche Beschwerdeverfahren wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
3.
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gemäss Art. 277 BStP teilweise gutgeheissen, soweit sie nicht gegenstandslos geworden ist, das Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen, Strafkammer, vom 13. Februar 2006 aufgehoben, und die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.
4.
Für das Verfahren der Nichtigkeitsbeschwerde werden keine Kosten erhoben.
5.
Dem Beschwerdeführer wird für das Verfahren der Nichtigkeitsbeschwerde eine Entschädigung von Fr. 3'000.-- aus der Bundesgerichtskasse ausgerichtet.
6.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen und dem Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 8. September 2006
Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: