BGer 6S.370/2006
 
BGer 6S.370/2006 vom 26.09.2006
Tribunale federale
{T 0/2}
6S.370/2006 /hum
Urteil vom 26. September 2006
Kassationshof
Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Kolly, Zünd,
Gerichtsschreiberin Arquint Hill.
Parteien
Generalprokurator des Kantons Bern, 3001 Bern,
Beschwerdeführer,
gegen
X.________,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Fahrlässige Tötung und vorsätzliche schwere Körperverletzung (Baby-Shaking); Strafzumessung,
Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, 2. Strafkammer,
vom 9. August 2005.
Sachverhalt:
A.
X.________ wird vorgeworfen, in der Nacht vom 25./26. November 2000 seine am 19. Oktober 2000 geborene Tochter A.________ unter Inkaufnahme schwerer körperlicher Schädigungen heftig geschüttelt zu haben. Das Baby erlitt ein Schütteltrauma (Shaken Baby Syndrome), an dessen Folgen es am 28. November 2000 verstarb.
B.
Das Obergericht des Kantons Bern verurteilte X.________ im Berufungsverfahren am 9. August 2005 wegen fahrlässiger Tötung zu einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von vier Monaten bei einer Probezeit von zwei Jahren. Von der Anschuldigung der (eventual-)vorsätzlichen schweren Körperverletzung sprach es ihn frei.
C.
Gegen dieses Urteil erhebt der Generalprokurator des Kantons Bern eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht, mit welcher er die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Rückweisung der Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz beantragt.
D.
Das Obergericht beantragt in seinen Gegenbemerkungen die vollumfängliche Abweisung der Beschwerde. Weitere Stellungnahmen wurden nicht eingeholt.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Der Beschwerdeführer strebt nebst der Verurteilung des Beschwerdegegners wegen fahrlässiger Tötung einen Schuldspruch wegen eventualvorsätzlicher schwerer Körperverletzung im Sinne von Art. 122 StGB an und begründet dies damit, dass die Vorinstanz den Rechtsbegriff des Eventualvorsatzes unrichtig angewandt und dadurch Bundesrecht verletzt habe. Der Beschwerdegegner habe seine Tochter schütteln wollen und habe die Folgen seines Tuns durchaus einschätzen können. Gemäss seinen eigenen Angaben habe er gewusst, dass ein Kleinkind seinen Kopf, der im Verhältnis zum übrigen Körper viel grösser sei als bei einer erwachsenen Person, nicht ohne fremde Hilfe aufrechthalten könne. Trotz dieses Wissens habe der Beschwerdegegner seine Tochter bewusst heftig geschüttelt. Dass durch eine solche Behandlung das Gehirn eines Kleinkindes schweren Schaden nehmen könne, sei sogar für einen medizinischen Laien wie den Beschwerdegegner nachvollziehbar. Angesichts dieser bekannten Wahrscheinlichkeit schwerer Verletzungen nach heftigem Schütteln eines Babys erlange die von ihm bewusst begangene Sorgfaltspflichtverletzung ein derart eklatantes Ausmass, dass sein Verhalten nicht anders interpretiert werden könne, als dass er die lebensgefährlichen Verletzungen seines Kindes, um deren Entstehungsgefahr er gewusst habe, zumindest in Kauf genommen und damit eventualvorsätzlich verursacht habe.
1.2 Die Vorinstanz sprach den Beschwerdegegner von der Anschuldigung der eventualvorsätzlichen schweren Körperverletzung frei. In tatsächlicher Hinsicht geht sie davon aus, dass der Beschwerdegegner in der Nacht vom 25./26. November 2000 angesichts der Anspannungen und Belastungen der vorangegangenen rund sechs Wochen und des unüblichen Verhaltens seines damals fünfeinhalb Wochen alten Babys aufgrund einer möglicherweise selber nicht festgestellten Stress-, Überforderungs- oder Erschöpfungssituation kurzfristig die Nerven bzw. die Beherrschung verlor, so dass er seine Tochter derart heftig schüttelte, dass durch diese einmalige und nur äusserst kurze Zeit (höchstens Sekunden) dauernde Schüttelsequenz ein Schütteltrauma verursacht wurde, welches zum Tode des Babys führte. Zwar habe der Beschwerdegegner seine Tochter willentlich geschüttelt. Es sei ihm auch klar, dass das Schütteln eines Säuglings, dessen Verletzlichkeit generell manifest sei, zu schweren Verletzungen führen könne. Vor und während der sehr kurzen Zeit der Tatausführung habe er sich aber keine Gedanken über die Folgen seines Tuns gemacht und demzufolge kein entsprechendes Bewusstsein gehabt, obschon ihm als ansonsten fürsorglichen Vater hätte bewusst sein müssen, dass heftiges Schütteln eines Säuglings zu schwerwiegenden Schädigungen namentlich des Hirns führen könne. Damit liege in Bezug auf den eingetretenen Erfolg in rechtlicher Hinsicht unbewusste Fahrlässigkeit vor. Eventualvorsatz setze voraus, dass der Täter um die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung wisse. Dies treffe vorliegend nicht zu. Schon deshalb könne von einer Inkaufnahme des eingetretenen Erfolgs durch den Beschwerdegegner keine Rede sein. Der Vollständigkeit halber bleibe hinzuzufügen, dass der Beschwerdegegner an Körperverletzungen jedwelcher Art zum Nachteil seiner Tochter keinerlei Interesse gehabt und solche erst recht auch nicht gewollt habe. Ferner könne nicht davon ausgegangen werden, dass er gleich gehandelt hätte, wenn er vorausgesehen hätte, dass er durch sein Verhalten mindestens eine schwere Körperverletzung verursachen würde. Mangels des erforderlichen Bewusstseins bzw. Mitbewusstseins in Bezug auf die mögliche Verwirklichung des Straftatbestandes der schweren Körperverletzung könne deshalb nicht der Schluss gezogen werden, dass der Beschwerdegegner die Tatbestandsverwirklichung lebensgefährlicher Verletzungen so nahe vor sich gesehen bzw. sich ihm der Erfolg seines Tuns als so wahrscheinlich aufgedrängt habe, dass sein Verhalten vernünftigerweise nur als Inkaufnahme dieses Erfolgs gewertet werden könne.
1.3 Der schweren Körperverletzung im Sinne von Art. 122 StGB macht sich unter anderem schuldig, wer vorsätzlich einen Menschen lebensgefährlich verletzt (Art. 1). Gemäss Art. 18 Abs. 2 StGB verübt ein Verbrechen oder ein Vergehen vorsätzlich, wer die Tat mit Wissen und Willen verübt. Neben diesem direkten Vorsatz erfasst Art. 18 Abs. 2 StGB auch den Eventualvorsatz. Ein solcher liegt vor, wenn der Täter den Eintritt des Erfolgs bzw. die Tatbestandsverwirklichung für möglich hält, aber dennoch handelt, weil er den Erfolg für den Fall seines Eintritts in Kauf nimmt, sich mit ihm abfindet, mag er ihm auch unerwünscht sein. Der eventualvorsätzlich handelnde Täter weiss demnach einerseits um die Möglichkeit bzw. das Risiko der Tatbestandsverwirklichung und nimmt andererseits den Eintritt des als möglich erkannten Erfolgs ernst, rechnet mit ihm und findet sich mit ihm ab. Wer den Erfolg derart in Kauf nimmt, "will" ihn im Sinne von Art. 18 Abs. 2 StGB. Dazu ist insbesondere nicht erforderlich, dass der Täter den Erfolg "billigt" (BGE 130 IV 58 E. 8.2 und 8.3 mit zahlreichen Hinweisen). Auch der bewusst fahrlässig handelnde Täter gemäss Art. 18 Abs. 3 StGB weiss um das Risiko der Tatbestandsverwirklichung, doch vertraut er aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit darauf, dass der Erfolg nicht eintreten werde. Das gilt selbst für den Täter, der sich leichtfertig bzw. frivol (BGE 69 IV 75 E. 5) über die Möglichkeit der Tatbestandserfüllung hinwegsetzt und mit der Einstellung handelt, es werde schon nichts passieren (BGE 130 IV 58 E. 8.3; 125 IV 242 E. 3c). Demgegenüber bedenkt der unbewusst fahrlässig handelnde Täter die Gefahr der Tatbestandsverwirklichung nicht einmal (BGE 110 IV 74 E. 1).
1.4 Was der Täter wusste, wollte und in Kauf nahm, betrifft so genannte innere Tatsachen, ist damit Tatfrage (BGE 125 IV 242 E. 3c mit Hinweisen) und kann daher im Verfahren der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde nicht zur Entscheidung gestellt werden (Art. 273 Abs. 1 lit. b, Art. 277bis Abs. 1 BStP). Das gilt grundsätzlich auch, wenn bei Fehlen eines Geständnisses des Täters aus äusseren Umständen auf jene inneren Tatsachen geschlossen wird. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass sich insoweit Tat- und Rechtsfragen teilweise gewissermassen überschneiden (BGE 119 IV 1 E. 5a). Daher hat der Sachrichter die relevanten tatsächlichen Umstände möglichst erschöpfend darzustellen, damit erkennbar wird, aus welchen Umständen er auf Inkaufnahme der Tatbestandsverwirklichung geschlossen und damit auf Eventualvorsatz erkannt hat. Denn der Sinngehalt der zum Eventualdolus entwickelten Formeln lässt sich nur im Lichte der tatsächlichen Umstände des Falles prüfen, und das Bundesgericht kann daher in einem gewissen Ausmass die richtige Bewertung dieser Umstände im Hinblick auf den Rechtsbegriff des Eventualvorsatzes überprüfen (BGE 125 IV 242 E. 3c; 119 IV 242 E. 2c).
1.5 Wie die Vorinstanz in tatsächlicher Hinsicht verbindlich feststellt, hat sich der Beschwerdegegner in einer Überforderungs- oder Erschöpfungssituation zur Tat hinreissen lassen, ohne die Folgen seines Verhaltens selbst im Sinne eines sachgedanklichen Begleitwissens überhaupt zu bedenken bzw. ohne die Risiken im Hinblick auf die Tatbestandsverwirklichung der schweren Körperverletzung im Moment der Tatausführung zu erkennen, auch wenn ihm generell klar ist, dass das Schütteln eines Säuglings zu schweren Schädigungen namentlich des Hirns führen kann. Demnach war dem Beschwerdegegner nach den Feststellungen der Vorinstanz die Möglichkeit des Erfolgseintritts gemäss Art. 18 Abs. 2 i.V. m. Art. 122 StGB während der nur wenige Sekunden dauernden Tat nicht bewusst. Gegen diese verbindlichen Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz wendet sich der Beschwerdeführer bzw. entfernt sich davon, wenn er geltend macht, der Beschwerdegegner habe um die Entstehungsgefahr lebensgefährlicher Verletzungen im Sinne von Art. 122 StGB gewusst bzw. das Risiko der Tatbestandsverwirklichung für möglich gehalten. Darauf ist nicht einzutreten (Art. 273 Abs. 1 lit. b, Art. 277bis Abs. 1 BStP). Dass die Vorinstanz den Begriff des Eventualvorsatzes aber verkannt hätte, wird nicht dargelegt und ist auch nicht ersichtlich. Vielmehr hat sie zutreffend erwogen, der Beschwerdegegner habe die Tatbestandsverwirklichung deshalb nicht in Kauf nehmen können, weil er das Risiko einer solchen im Zeitpunkt der Tat gar nicht erkannt hat. Sie hat ferner festgestellt, dass der Beschwerdegegner sein Kind nicht schädigen wollte und nicht gleich gehandelt hätte, wenn er vorausgesehen hätte, dass sein Verhalten eine schwere Körperverletzung verursachen würde. Wenn sie unter diesen Umständen davon ausgeht, dass sich dem Beschwerdegegner aufgrund seines nicht vorhandenen Bewusstseins hinsichtlich der Tatfolgen die Risiken einer Tatbestandsverwirklichung nicht als so wahrscheinlich aufdrängten, als dass sein Verhalten vernünftigerweise nur als Inkaufnahme des Verletzungserfolgs ausgelegt werden könnte, verletzt sie kein Bundesrecht. Daran ändert entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nichts, dass das Bundesgericht die Verurteilung eines Vaters wegen einfacher eventualvorsätzlicher Körperverletzung im Sinne von Art. 123 Abs. 2 StGB im Rahmen eines "Shaken Baby Syndrome"-Falls bestätigt hat (Entscheid 6S.287/2005 vom 12. Oktober 2005). Denn anders als hier wurde im damaligen Fall in tatsächlicher Hinsicht verbindlich festgestellt, dass der Täter die Risiken seines folgenschweren Tuns, das mehrere Minuten andauerte, bedachte (und sich damit abfand). Die erhobene Rüge ist daher abzuweisen, soweit darauf überhaupt eingetreten werden kann.
2.
Wurde der Beschwerdegegner aber zu Recht von der Anschuldigung der schweren Körperverletzung im Sinne von Art. 122 StGB freigesprochen, gehen die weiteren Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach die Vorinstanz den Begriff der Idealkonkurrenz verkannt und Art. 68 StGB zu Unrecht nicht angewandt habe, an der Sache vorbei.
3.
Im Rahmen der Strafzumessung erachtet der Beschwerdeführer schliesslich die Anwendung von Art. 66bis StGB als bundesrechtswidrig. Zwar könne Art. 66bis StGB auch bei Vorsatztaten angewandt werden, allerdings nur bei eigentlichen Verzweiflungstaten. Vorliegend gehe es nicht um eine Verzweiflungstat oder um die Konstellation einer entschuldbaren grossen seelischen Belastung. Der Beschwerdegegner habe aus keiner Notsituation heraus gehandelt, sondern seine Tochter ohne entschuldbaren Grund bewusst und gewollt heftig geschüttelt. Durch den Tod des Kindes sei ihm deshalb kein grosser seelischer Schmerz entstanden, der für ihn nicht vorhersehbar gewesen sei. Diese Einwände gehen ins Leere, da der Beschwerdegegner sich entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht einer Vorsatztat schuldig gemacht hat. Inwiefern aber die Vorinstanz die schwere Betroffenheit des Beschwerdegegners im Sinne von Art. 66bis StGB zu stark strafmindernd berücksichtigt hätte (BGE 121 IV 162 E. 2d; 119 IV 280 E. 1a; Stefan Trechsel, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Auflage, Zürich 1997, Art. 66bis N. 4), legt der Beschwerdeführer nicht dar und ist im Übrigen auch nicht ersichtlich.
4.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde ist demnach abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Gemäss Art. 278 Abs. 2 BStP sind keine Kosten zu erheben.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Es werden keine Kosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 26. September 2006
Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: