BGer 1C_253/2010
 
BGer 1C_253/2010 vom 08.11.2010
{T 1/2}
1C_253/2010
 
Urteil vom 8. November 2010
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Reeb, Fonjallaz, Eusebio,
Gerichtsschreiber Steinmann.
 
Verfahrensbeteiligte
Stephan  Müller, Beschwerdeführer,
gegen
Stadtrat Aarau, Rathausgasse 1, 5000 Aarau,
Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau, Generalsekretär,
Frey-Herosé-Strasse 12, 5001 Aarau.
Gegenstand
Einwohnerratswahlen vom 29. November 2009,
Beschwerde gegen das Urteil vom 26. März 2010 des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau, 2. Kammer.
 
Sachverhalt:
 
A.
Partei  
Anzahl Sitze
1
FDP
10
2
SP
11
3
SVP
12
4
CVP
3
5
ProAarau
3
6
Grüne
6
7
EVP/EW
2
8
JETZT!
1
9
GLP
2
10
Parteilos  
0
Total
50
 
B.
 
C.
 
Erwägungen:
 
1.
 
2.
2.1. Die Kantone sind in der Ausgestaltung ihres politischen Systems und des Wahlverfahrens weitgehend frei. Art. 39 Abs. 1 BV hält fest, dass die Kantone - entsprechend ihrer Organisationsautonomie - die Ausübung der politischen Rechte in kantonalen und kommunalen Angelegenheiten regeln. Diese Zuständigkeit wird ausgeübt im Rahmen der bundesverfassungsrechtlichen Garantie von Art. 34 BV sowie nach den Mindestanforderungen gemäss Art. 51 Abs. 1 BV (vgl. zum Ganzen zur Publikation bestimmtes Urteil 1C_541/2009 vom 7. Juli 2010 E. 2 mit Hinweisen).
2.2. In Bezug auf das Wahlsystem in den Kantonen genügen nach der Rechtsprechung im Grundsatz sowohl das Mehrheits- als auch das Verhältniswahlrecht den genannten verfassungsrechtlichen Anforderungen (BGE 131 I 85 E. 2.2 S. 87 mit Hinweisen). Soweit sich ein Kanton zum Proporzwahlverfahren bekennt, erlangt die Gewährleistung von Art. 34 Abs. 2 BV, wonach kein Wahlergebnis anerkannt werden soll, das nicht den freien Willen der Wählenden zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt, besondere Bedeutung. Ein Proporzverfahren zeichnet sich dadurch aus, dass es den verschiedenen Gruppierungen eine Vertretung ermöglicht, die weitgehend ihrem Wähleranteil entspricht. Soweit in einer Mehrzahl von Wahlkreisen gewählt wird, hängt die Realisierung des Verhältniswahlrechts u.a. von der Grösse der Wahlkreise und damit zusammenhängend vom natürlichen Quorum ab. Unterschiedlich grosse Wahlkreise bewirken zudem, dass im Vergleich unter den Wahlkreisen nicht jeder Wählerstimme das gleiche politische Gewicht zukommt. Genügt die Ausgestaltung eines Wahlsystems diesen Anforderungen nicht, so ist es - vorbehältlich von Gründen überkommener Gebietsorganisation - mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben von Art. 34 Abs. 2 BV nicht vereinbar (zum Ganzen zur Publikation bestimmtes Urteil 1C_541/2009 vom 7. Juli 2010 E. 3 mit Hinweisen).
2.3. Der Einwohnerrat der aargauischen Gemeinden wird nach dem Verhältniswahlrecht gewählt:
 
3.
3.1. Das für die Wahl des Einwohnerrates zur Anwendung gelangende Proporzverfahren ist in der Verordnung über die Wahl des Einwohnerrates näher ausgeführt. Es richtet sich nicht nach der weit verbreiteten Methode Hagenbach-Bischoff durch Auszählung in den einzelnen Wahlkreisen (vgl. BGE 129 I 185 E. 7.1.1 S. 197), sondern nach dem Zuteilungsverfahren Doppelter Pukelsheim (auch bi- oder doppeltproportionales Zuteilungsverfahren oder neues Zürcher Zuteilungsverfahren genannt).
3.2. Im Anschluss an das Urteil BGE 129 I 185 entwickelte der Mathematiker Friedrich Pukelsheim für den Kanton Zürich ein neues Zuteilungsverfahren. Dieses soll unter Beibehaltung der traditionellen, unterschiedlich grossen Wahlkreise eine parteiproportionale Sitzzuteilung ermöglichen und damit sowohl die Verhältnismässigkeit zwischen den Parteien als auch die Verhältnismässigkeit zwischen den Wahlkreisen wahren. Die Parteien mit ihren Listen wie auch die Wahlkreise werden proportional vertreten (vgl. zum Ganzen: Friedrich Pukelsheim/Christian Schuhmacher, Das neue Zürcher Zuteilungsverfahren für Parlamentswahlen, in: AJP 2004 S. 505, insbes. S. 511 ff.; Wikipedia: Doppelter Pukelsheim [besucht am 25. Oktober 2010]; Wikipedia: Sitzzuteilungsverfahren [besucht am 25. Oktober 2010]).
3.3. Dieses Sitzzuteilungsverfahren kommt im Kanton Aargau auch bei der Wahl des Einwohnerrates zur Anwendung, wenn, wie im vorliegenden Fall, das Wahlgebiet mehr als einen Wahlkreis aufweist. Ausgangspunkt bildet die Zuteilung der Mandate an die Wahlkreise (vgl. § 3a VO/ER). Bei der umstrittenen Wahl kommen dem Wahlkreis Rohr 9 Mandate, dem Wahlkreis Aarau 41 Mandate für den Einwohnerrat mit insgesamt 50 Mitgliedern zu.
§ 27 - Oberzuteilung auf die Listen bzw. Listengruppen
1.1. Bei Wahlen in Gemeinden mit einem Wahlkreis wird die Parteistimmenzahl einer Liste durch den Gemeinde-Wahlschlüssel geteilt und zur nächstgelegenen ganzen Zahl gerundet. Das Ergebnis bezeichnet die Zahl der Sitze der betreffenden Liste. Eine Unterzuteilung gemäss § 27a findet nicht statt.
1.2. Bei Wahlen in Gemeinden mit mehreren Wahlkreisen bilden die Listen mit gleicher Bezeichnung im Gemeindegebiet eine Listengruppe.
1.3. Bei Wahlen in Gemeinden mit mehreren Wahlkreisen wird die Parteistimmenzahl einer Liste durch die Zahl der im betreffenden Wahlkreis zu vergebenden Mandate geteilt und zur nächstgelegenen ganzen Zahl gerundet. Das Ergebnis heisst Wählerzahl der Liste. In jeder Listengruppe werden die Wählerzahlen der Listen zusammengezählt. Die Summe wird durch den Gemeinde-Wahlschlüssel geteilt und zur nächstgelegenen ganzen Zahl gerundet. Das Ergebnis bezeichnet die Zahl der Sitze der betreffenden Listengruppe.
1.4. Das Wahlbüro berechnet den Gemeinde-Wahlschlüssel so, dass sich beim Vorgehen nach Absatz 1 oder 3 genau die Zahl der in der Gemeinde zu vergebenden Sitze ergibt.
1.5. Kommt es zu gleichwertigen Rundungsmöglichkeiten, entscheidet das Los.
1. Bei Wahlen in Gemeinden mit mehreren Wahlkreisen wird die Parteistimmenzahl einer Liste durch den Wahlkreis-Divisor und den Listengruppen-Divisor geteilt und zur nächstgelegenen ganzen Zahl gerundet. Das Ergebnis bezeichnet die Zahl der Sitze dieser Liste.
2. Das Wahlbüro legt für jeden Wahlkreis einen Wahlkreis-Divisor und für jede Listengruppe einen Listengruppen-Divisor so fest, dass bei einem Vorgehen gemäss Absatz 1
a.a) jeder Wahlkreis die ihm vom Gemeinderat zugewiesene Zahl von Mandaten erhält,
a.b) jede Listengruppe die ihr gemäss Oberzuteilung zustehende Zahl von Sitzen erhält.
3.1. Kommt es zu gleichwertigen Rundungsmöglichkeiten, entscheidet das Los.
 
4.
4.1. Im Einzelnen beanstandet der Beschwerdeführer, dass die Wahlkreis-Wählerzahlen der Listen entsprechend § 27 Abs. 3 VO/ER gerundet werden, bevor sie zur Gesamt-Wählerzahl für das ganze Gemeindegebiet zusammengezählt werden. Er belegt mit einer selbst errechneten Liste, dass die Gruppe JETZT! durch die Rundung der Wählerzahlen auf eine ganze Zahl benachteiligt werde und dass sie einen zusätzlichen Sitz erhalten würde, wenn die Wählerzahlen der Listen ungerundet zur Gesamt-Wählerzahl zusammengezählt würden und erst diese Gesamt-Wählerzahl zur nächstgelegenen ganzen Zahl gerundet würde.
Das vom Beschwerdeführer erstellte Berechnungsblatt präsentiert sich wie folgt. Die Liste weist in Kolonne 2 die Parteistimmen in den beiden Wahlkreisen aus. In Kolonne 3 und 4 werden die Wählerzahlen der Listen in den beiden Wahlkreisen aufgeführt. Hierfür wird angegeben "exakt" bzw. "ger." (gerundet). Dabei bedeutet "gerundet", dass die aus der mathematischen Operation sich ergebende Zahl gemäss Verordnung auf eine ganze Zahl gerundet ist. "Exakt" bedeutet im vorliegenden Fall, dass mit einer Rundung auf zwei Stellen nach dem Komma eine exaktere und ungebrochene Zahl gebildet wird.
4.2. Zu der vom Beschwerdeführer beanstandeten Rundung bei der Berechnung der Wahlkreis-Wählerzahlen pro Liste führen Pukelsheim/Schuhmacher aus, diese mache die Wählerzahl zu einer ganzen Zahl und erlaube die Interpretation, dass eine bestimmte Zahl von Wählern hinter der Liste stehen. Sie räumen ein, dass auch mit gebrochenen Wählerzahlen weitergerechnet werden könnte. Doch sei es unschön, zu sagen, dass in einem Wahlkreis so und so viel Wählerbruchteile hinter einer Liste stehen. Zudem seien die durch die Rundung auftretenden Abweichungen äusserst gering und selten (Pukelsheim/Schuhmacher, a.a.O., S. 514 und Fn. 50).
4.3. Der Beschwerdeführer geht zur Begründung seiner Beschwerde vorerst davon aus, es gehöre zur Wahl- und Abstimmungsfreiheit gemäss Art. 34 Abs. 2 BV, dass Wahl- und Abstimmungsergebnisse sorgfältig und ordnungsgemäss ermittelt werden (vgl. BGE 131 I 442 E. 3.1 S. 447). Damit aber sei die beanstandete Rundung bei der Bestimmung der Wählerzahl nicht vereinbar. Damit lässt er ausser Acht, was Resultatsermittlung ist und was zur Resultatsauswertung gehört. Die eigentliche Ermittlung der Wahlresultate ist nicht umstritten. Es wird von keiner Seite in Frage gestellt, dass - wie die Aufstellung des Beschwerdeführers zeigt - die Grünen in Aarau 21'464 und in Rohr 716 Stimmen, die Gruppe JETZT! in den beiden Wahlkreisen 6'403 und 76 Stimmen erhalten haben. Die Bestimmung der Wählerzahlen, bei denen eine Rundung vorgenommen worden ist, gehört bereits zur Resultatsauswertung. Sie stellt, wie dargelegt, den ersten von mehreren Schritten dar, um zu einer Zuordnung von Mandaten zu Listen und Wahlkreisen zu gelangen. Es kann daher nicht gesagt werden, die angefochtenen Wahlresultate beruhten auf einer unsorgfältigen und ordnungswidrigen Ermittlung der Wählerstimmen. Vor diesem Hintergrund erweist sich auch der vom Beschwerdeführer gezogene Vergleich mit eidgenössischen Abstimmungen als unbehelflich.
4.4. Für die Beurteilung der vorgetragenen Beanstandung gilt es vorerst, den hierfür massgeblichen Massstab zu bestimmen. Es kann nicht darum gehen, die Rundungsbestimmung von § 27 Abs. 3 VO/ER rein mathematisch auf eine optimale Ausgestaltung hin zu prüfen. Hingegen kann sie einerseits am übergeordneten Gesetzesrecht, andererseits am Verfassungsrecht gemessen werden.
4.5. Es ist daher zu prüfen, ob die Anwendung von § 27 Abs. 3 VO/ER im vorliegenden Fall vor den verfassungsrechtlichen Garantien standhält, wie sie sich mit Blick auf das Proporzverfahren aus Art. 34 BV in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 BV ergeben.
 
5.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt:
2.1. Es werden keine Kosten erhoben.
2.2. Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen
3. Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Stadtrat Aarau, dem Departement Volkswirtschaft und Inneres sowie dem Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 2. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 8. November 2010
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Féraud
Der Gerichtsschreiber: Steinmann