BGer 8C_602/2011
 
BGer 8C_602/2011 vom 30.09.2011
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
{T 0/2}
8C_602/2011
Urteil vom 30. September 2011
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterinnen Leuzinger, Niquille,
Gerichtsschreiberin Hofer.
 
Verfahrensbeteiligte
V.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Franz Fischer,
Beschwerdeführer,
gegen
IV-Stelle Luzern,
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern
vom 28. Juli 2011.
Sachverhalt:
A.
V.________ meldete sich am 30. September 2006 unter Hinweis auf Rückenprobleme (Diskushernie) bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Luzern verfügte am 23. Juli 2009 die Abweisung des Leistungsbegehrens. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit Entscheid vom 18. März 2010 ab. Mit Urteil vom 7. Februar 2011 wies das Bundesgericht die von V.________ gegen diesen Entscheid eingereichte Beschwerde ab (8C_370/2010).
B.
Am 28. März 2011 reichte V.________ beim kantonalen Verwaltungsgericht, sozialversicherungsrechtliche Abteilung, ein Gesuch um Revision des Entscheids vom 18. März 2010 ein. Dieses wurde mit bei den Rückenoperationen vom 13. September und 17. November 2010 gewonnenen Erkenntnissen über die Ursache des Schmerzzustandes begründet. Die nunmehr nachgewiesene vollständige Zerstörung der beiden Zwischenwirbelräume L5/S1 sei gemäss Stellungnahme des Dr. med. B.________ vom 23. März 2011 für die Leistungseinschränkung verantwortlich. Mit Entscheid vom 28. Juli 2011 trat das kantonale Gericht auf das Revisionsgesuch nicht ein.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt V.________ beantragen, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben, und es sei die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit dieses auf das Revisionsgesuch eintrete und dieses prüfe. Überdies wird um unentgeltliche Rechtspflege ersucht.
Es wurden keine Vernehmlassungen eingeholt.
Erwägungen:
1.
1.1 Gemäss Art. 123 Abs. 2 lit. a BGG kann in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten die Revision verlangt werden, wenn die ersuchende Partei nachträglich erhebliche Tatsachen erfährt oder entscheidende Beweismittel auffindet, die sie im früheren Verfahren nicht beibringen konnte, unter Ausschluss der Tatsachen und Beweismittel, die erst nach dem Entscheid entstanden sind.
Laut § 175 Abs. 1 des Gesetzes des Kantons Luzern über die Verwaltungsrechtspflege vom 3. Juli 1972 (VRG; SRL 040) zieht die Behörde ihren rechtskräftigen Entscheid auf Gesuch hin in Revision, wenn nachträglich neue erhebliche Tatsachen oder Beweismittel vorgebracht werden.
1.2 In seiner früheren, zum Bundesrechtspflegegesetz (aOG) ergangenen Rechtsprechung ging das Bundesgericht davon aus, wenn es eine staatsrechtliche Beschwerde abweise oder als unzulässig erkläre oder auf eine Berufung nicht eintrete, ersetze sein Urteil den angefochtenen Entscheid nicht. Der kantonale Entscheid blieb weiterhin in Rechtskraft und unterlag der Revision nach Massgabe des kantonalen Verfahrensrechts. Die erheblichen Tatsachen und entscheidenden Beweismittel, die schon bestanden, als im (kantonalen) Hauptverfahren Tatsachenvorbringen und Beweisanträge noch zulässig waren, die der Gesuchsteller aber trotz aller Sorgfalt nicht kannte und von denen er erst nach dem Entscheid des Bundesgerichts erfuhr, konnten folglich vor der letzten mit der Sache selbst befassten kantonalen Instanz Gegenstand eines kantonalen Revisionsverfahrens bilden (BGE 134 III 45 E. 2.2 und 2.3 S. 47 f., 669 E. 2.2 S. 670 f., je mit Hinweis). Darin kommt der allgemeine Grundsatz zum Ausdruck, dass diejenige Instanz sich mit der Revision befassen soll, welche in der Sache entschieden hat (Urteile 2F_2/2009 vom 23. September 2009 E. 2.2; 2C_810/2009 vom 26. Mai 2010 E. 3.1).
Wenn hingegen das Bundesgericht auf der Grundlage des im angefochtenen kantonalen Entscheid festgestellten Sachverhalts in der Sache selbst entschied und die Berufung guthiess oder abwies, so trat sein Urteil an die Stelle des angefochtenen (kantonalen) Entscheids und ersetzte diesen. Das bundesgerichtliche Urteil stellte damit den einzigen rechtskräftigen Entscheid dar, der aus den in Art. 137 lit. b aOG genannten Gründen revidiert werden konnte (BGE 134 III 669 E. 2.2 S. 670 f.).
1.3 Da es sich bei der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten um ein reformatorisches Rechtsmittel handelt (Art. 107 Abs. 2 BGG), führt dessen Gutheissung oder Abweisung auf der Grundlage der im angefochtenen Entscheid festgestellten Tatsachen dazu, dass der Entscheid des Bundesgerichts an die Stelle des angefochtenen tritt. In solchen Fällen kann ein Revisionsgesuch lediglich noch beim Bundesgericht gestellt werden, da das Urteil des Bundesgerichts den einzigen in Rechtskraft erwachsenen (Art. 61 BGG) Entscheid darstellt, der in diesem Zeitpunkt der Revision zugänglich ist (BGE 134 III 669 E. 2.2 S. 670 f.; YVES DONZALLAZ, Loi sur le Tribunal fédéral, Bern 2008, N. 4645 S. 1671; NICOLAS VON WERDT, Bundesgerichtsgesetz, Bern 2007, N. 13 zu Art. 123 BGG; ELISABETH ESCHER, Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2008, N. 3 zu Art. 125 BGG). Soweit jedoch auf die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nicht eingetreten wurde oder ausschliesslich Aspekte aufgegriffen werden, die vor Bundesgericht nicht (mehr) Streitgegenstand bildeten, ist das Revisionsgesuch bei der betreffenden kantonalen Instanz zu stellen (Urteile 8C_775/2010 vom 14. April 2011 E. 4.2.1; 2C_810/2009 vom 26. Mai 2010 E. 3.1.2; 2F_2/2009 vom 23. September 2009 E. 2.2 und 2.3; vgl. zudem Urteil 4F_8/2010 vom 18. April 2011 E. 1.1).
1.4 Die gegen den Entscheid des kantonalen Verwaltungsgerichts vom 18. März 2010 erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wurde mit Urteil des Bundesgerichts vom 7. Februar 2011 abgewiesen. Dieses hat materiell entschieden, so dass der Beschwerdeführer, unabhängig von der Frage der Fristwahrung, kein Revisionsgesuch mehr beim kantonalen Gericht einreichen konnte. Der vorinstanzliche Nichteintretensentscheid ist somit zu bestätigen.
2.
Was die Revision des bundesgerichtlichen Urteils vom 7. Februar 2011 betrifft, wird eine solche vom Beschwerdeführer nicht verlangt, da er davon ausgeht, dass die entsprechenden Voraussetzungen nicht erfüllt sind, weil die geltend gemachten Noven vor dessen Ausfällen bereits bekannt waren. Ob die Revision des Bundesgerichtsurteils bei diesen Gegebenheiten mit Blick auf Art. 125 BGG in Verbindung mit Art. 61 lit. i ATSG zulässig gewesen wäre, braucht daher nicht beurteilt zu werden.
3.
Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne der vorläufigen Befreiung von den Gerichtskosten und der unentgeltlichen Verbeiständung) kann entsprochen werden, da die Bedürftigkeit ausgewiesen ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung durch einen Rechtsanwalt geboten war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.
4.
Rechtsanwalt Franz Fischer wird als unentgeltlicher Anwalt des Beschwerdeführers bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 30. September 2011
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Ursprung
Die Gerichtsschreiberin: Hofer