BGer 1B_604/2011
 
BGer 1B_604/2011 vom 07.02.2012
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
{T 0/2}
1B_604/2011
Urteil vom 7. Februar 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Chaix,
Gerichtsschreiber Störi.
 
Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Felix Keller,
gegen
Y.________, Betreibungsbeamter von Altendorf,
vertreten durch Rechtsanwalt Paul Hollenstein,
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Schwyz, Archivgasse 1, Postfach 1201, 6431 Schwyz.
Gegenstand
Einstellung Strafverfahren,
Beschwerde gegen den Beschluss vom 14. September 2011 des Kantonsgerichts des Kantons Schwyz, Beschwerdekammer.
Sachverhalt:
A.
Am 15. Februar 2008 versuchte der Betreibungsbeamte Y.________, X.________ an dessen Wohnort in Lachen einen Zahlungsbefehl zuzustellen. X.________ verweigerte die Annahme des Zahlungsbefehls, worauf es zu einer Auseinandersetzung kam. Nach Darstellung des Betreibungsbeamten versuchte er, den Zahlungsbefehl durch die geöffnete Wohnungstüre in den Innenraum der Wohnung zu legen bzw. flattern zu lassen, worauf ihn der (körperlich überlegene) X.________ grob weggestossen und mit der Faust an den Hinterkopf geschlagen habe. Nach Darstellung von X.________ hat ihm Y.________ entgegen seinem Wunsch und in der Absicht, ihn zu provozieren, einen Zahlungsbefehl von Fr. 120.-- zugestellt und ihm gedroht, ihn verhaften zu lassen, wenn er nicht unterschreibe. Nachdem er sich abgedreht habe, um die Türe zu schliessen, habe er einen Tritt in die linke Wade erhalten; Y.________ habe mit der rechten Schulter an die Haustür geschlagen und versucht, ihn wieder aus dem Haus zu reissen, worauf er den Betreibungsbeamten weggestossen habe. Die Kontrahenten reichten wechselseitig Strafanzeigen bzw. -anträge ein.
Das Bezirksgericht March verurteilte X.________ am 22. November 2010 u.a. wegen einfacher Körperverletzung sowie Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte zu einer bedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen. Das Urteil ist in Rechtskraft erwachsen.
B.
Das Verhöramt Schwyz eröffnete gegen Y.________ am 10. Juni 2008 keine Strafuntersuchung wegen Amtsmissbrauchs und falscher Anschuldigung und leitete die Akten zur Verfolgung allfälliger weiterer Straftaten zuständigkeitshalber dem Bezirksamt March weiter.
Die Staatsanwaltschaft (das frühere Bezirksamt) March stellte am 18. Juli 2011 das Strafverfahren gegen Y.________ wegen Tätlichkeiten, Drohung, Hausfriedensbruchs und Amtsanmassung ein.
Das Kantonsgericht Schwyz wies die Beschwerde von X.________ gegen diese staatsanwaltschaftliche Verfügung am 14. September 2011 ab.
C.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, diesen kantonsgerichtlichen Beschluss aufzuheben und die Staatsanwaltschaft March anzuweisen, die Strafuntersuchung gegen Y.________ zu ergänzen, zum ordentlichen Abschluss zu bringen und Anklage zu erheben. Eventuell sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen.
D.
Das Kantonsgericht beantragt in seiner Vernehmlassung, auf die Beschwerde nicht einzutreten oder sie eventuell abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Die Oberstaatsanwaltschaft verzichtet auf Vernehmlassung.
X.________ hält in seiner Replik an der Beschwerde fest.
Erwägungen:
1.
Der angefochtene Entscheid bestätigt, dass das vom Beschwerdeführer angestrebte Strafverfahren eingestellt bleibt. Er schliesst damit das Verfahren ab. Es handelt sich um den Endentscheid einer letzten kantonalen Instanz in einer Strafsache, gegen den die Beschwerde in Strafsachen zulässig ist (Art. 78 Abs. 1, Art. 80 Abs. 1, Art. 90 BGG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde einzutreten ist, wenn und soweit der Beschwerdeführer befugt war, sie zu erheben.
1.1 Der Beschwerdeführer war als Privatkläger am kantonalen Verfahren beteiligt und ist damit zur Beschwerde legitimiert, wenn sich der angefochtene Entscheid auf seine Zivilansprüche auswirken kann (Art. 81 Abs. 1 lit. a und lit. b Ziff. 5 BGG). Ob er auch Opfer im Sinn von Art. 1 Abs. 1 OHG bzw. Art. 116 Abs. 1 StPO ist, erscheint zwar eher fraglich, kann aber offen bleiben, da er daraus in Bezug auf die Beschwerdelegitimation keine zusätzlichen Rechte ableiten könnte, die ihm nicht schon als Privatkläger zustehen.
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kann sich der angefochtene Entscheid offensichtlich nicht auf allfällige Zivilansprüche auswirken. Die hier zur Diskussion stehenden Vorwürfe an den Betreibungsbeamten laufen alle darauf hinaus, dass er sich nicht ohne Weiteres mit der (ungerechtfertigten) Weigerung des Beschwerdeführers abfand, den Zahlungsbefehl entgegenzunehmen. Beim Versuch, ihn trotzdem zuzustellen, soll er nach Darstellung und Auffassung des Beschwerdeführers zu weit gegangen sein und sich dabei strafbar gemacht haben. Falls der Beschwerdeführer aus diesem Vorfall Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche geltend machen will, was er bisher noch nicht getan hat, so stünden ihm von vornherein einzig öffentlich-rechtliche Haftungsansprüche gegen den Kanton Schwyz zu (Art. 5 Abs. 1 SchKG). Zivilrechtliche Ansprüche gegen den Betreibungsbeamten sind ausgeschlossen (Art. 5 Abs. 2 SchKG; Marco Levante in: DANIEL HUNKELER (Hrsg.), Kurzkommentar zum SchKG, Basel 2009, N. 16 zu Art. 5). Der Beschwerdeführer ist somit grundsätzlich nicht zur Beschwerde befugt.
1.2 Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, sein Strafantragsrecht als solches sei beeinträchtigt worden, womit er auch aus Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 6. BGG nichts für seine Beschwerdebefugnis ableiten kann. Ob das Strafverfahren in der Folge korrekt geführt wurde oder nicht, ist eine andere Frage. Die Legitimation nach dieser Bestimmung kann nicht mit dem Argument begründet werden, durch die willkürliche Einstellung des Strafverfahrens sei das Strafantragsrecht ausgehöhlt und verletzt worden.
1.3 Trotz fehlender Legitimation in der Sache kann der Beschwerdeführer in jedem Fall die auf eine formelle Rechtsverweigerung hinauslaufende Verletzung von Parteirechten rügen ("Star-Praxis"; BGE 133 I 185 E. 6.2 S. 198). Unzulässig sind allerdings Rügen, deren Beurteilung von der Prüfung in der Sache nicht getrennt werden kann und die im Ergebnis auf eine materielle Überprüfung des angefochtenen Entscheids abzielen. Darunter fällt etwa der Vorwurf, die Begründung des angefochtenen Entscheids sei unvollständig oder zu wenig differenziert ausgefallen oder setze sich nicht mit sämtlichen von der Partei vorgetragenen Argumenten auseinander bzw. würdige die Parteivorbringen unzureichend. Ebenso wenig kann beanstandet werden, der Sachverhalt sei unvollständig abgeklärt oder sonst wie willkürlich ermittelt bzw. Beweisanträgen sei wegen willkürlicher antizipierter Beweiswürdigung keine Folge gegeben worden (BGE 135 II 430 E. 3.2; 129 I 217 E. 1.4; je mit Hinweisen).
2.
2.1 Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung seines Akteneinsichtsrechts geltend. Er sei von der Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 4. Mai 2011 darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass sie das Strafverfahren einzustellen gedenke. Gleichzeitig sei ihm eine 10-tägige Frist angesetzt worden, um Akteneinsicht zu verlangen und allfällige Beweisanträge zu stellen. Er habe fristgerecht Akteneinsicht verlangt, Beweisanträge gestellt und sich weitere Beweisanträge vorbehalten. Ohne dass ihm zuvor Akteneinsicht gewährt worden wäre, sei ihm dann die Einstellungsverfügung vom 18. Juli 2011 zugestellt worden.
2.2 Das Kantonsgericht hält im angefochtenen Entscheid dazu fest, der Verteidiger des Beschwerdeführers habe im Januar 2010 vollumfänglich Einsicht in die Akten beider Strafverfahren genommen. Dazu habe er sich weitere Beweisanträge lediglich vorbehalten, ohne um die für deren Einreichung erforderliche Fristerstreckung nachzusuchen. Unter diesen Umständen habe die Vorinstanz seinen Gehörsanspruch nicht verletzt, indem sie ihm die Akten mit der Einstellungsverfügung zusammen zugestellt habe.
2.3 Diese Gehörsverweigerungsrüge ist nach der dargestellten "Star-Praxis" zulässig. Sie ist zudem begründet. Wenn die Staatsanwaltschaft dem Beschwerdeführer eine Frist von 10 Tagen ansetzt, um Beweisanträge zu stellen und um Akteneinsicht zu ersuchen, so ist sie an ihre eigene Verfügung gebunden und dementsprechend verpflichtet, einem rechtzeitig erfolgten Akteneinsichtsgesuch zu entsprechen. Da die Akteneinsicht von vornherein sinn- und zwecklos ist, wenn der Beschwerdeführer anschliessend keine Möglichkeit mehr hat, Beweisanträge zu stellen, ist sie nach Treu und Glauben zudem verpflichtet, ihm eine kurze Frist einzuräumen, um nach erfolgter Einsichtnahme allfällige weitere Beweisanträge zu stellen. Die Auffassung des Kantonsgerichts, der Beschwerdeführer hätte bereits mit dem Gesuch um Akteneinsicht eine Fristverlängerung für allfällige weitere Beweisanträge verlangen müssen, erscheint überspitzt formalistisch, weil sich aus der Akteneinsichtnahme erst ergeben kann, ob er weitere Beweismassnahmen beantragen will. Die Staatsanwaltschaft kann ein solch zweistufiges und damit aufwändiges Verfahren im Übrigen zudem leicht vermeiden, zum Beispiel indem sie dem Angeschuldigten eine kurze Frist ansetzt, um Akteneinsicht zu nehmen (nicht nur zu verlangen) und eine etwas längere, um Beweisanträge zu stellen. Indem die Staatsanwaltschaft auf das fristgerechte Akteneinsichtsgesuch nicht reagierte, sondern das Verfahren ohne Weiterungen einstellte, hat sie eine formelle Rechtsverweigerung begangen. Denselben Vorwurf trifft das Kantonsgericht, das dieses Vorgehen schützte. Angesichts der formellen Natur des rechtlichen Gehörs ist damit der angefochtene Entscheid ohne Weiteres aufzuheben; auch wenn das Kantonsgericht als Beschwerdeinstanz nach Art. 393 Abs. 2 StPO ein breite Überprüfungsbefugnis (Rechtsverletzungen, unrichtige und unvollständige Sachverhaltsfeststellungen, Unangemessenheit) hat, so ist sie jedenfalls enger als die umfassende Entscheidungskompetenz der erstinstanzlich verfügenden Staatsanwaltschaft, womit eine Heilung des Verfahrensmangels durch das Kantonsgericht in dieser Konstellation ausser Betracht fällt (vgl. BGE 134 I 331 E. 3.1; 126 I 68 E. 2; 125 I 209 E. 9). Damit ist der angefochtene Entscheid aufzuheben, ohne dass die weiteren Rügen zu prüfen wären.
3.
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 3 BGG). Ausserdem hat der Kanton Schwyz dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid des Kantonsgerichts Schwyz vom 14. September 2011 aufgehoben.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Der Kanton Schwyz hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.-- zu bezahlen.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, Y.________ sowie der Oberstaatsanwaltschaft und dem Kantonsgericht des Kantons Schwyz schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 7. Februar 2012
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Fonjallaz
Der Gerichtsschreiber: Störi