BGer 8C_120/2012
 
BGer 8C_120/2012 vom 11.06.2012
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
{T 0/2}
8C_120/2012
Urteil vom 11. Juni 2012
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Niquille, Bundesrichter Maillard,
Gerichtsschreiberin Polla.
 
Verfahrensbeteiligte
Firma X.________ AG,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Jakob Rhyner,
Beschwerdeführerin,
gegen
Amt für Arbeit des Kantons St. Gallen, Unterstrasse 22, 9000 St. Gallen,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Arbeitslosenversicherung (Kurzarbeitsentschädigung),
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 21. Dezember 2011.
Sachverhalt:
A.
Die kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen richtete der Firma X.________ AG für die Monate Januar bis Dezember 2009 Kurzarbeitsentschädigung aus. Nach Überprüfung der Rechtmässigkeit dieser Leistungen verfügte das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) am 8. Juni 2010 die Rückforderung unrechtmässig bezogener Versicherungsleistungen in der Höhe von Fr. 208'649.85, da die wirtschaftlich bedingten Ausfallstunden nicht überprüfbar seien. Daran hielt es auf Einsprache hin fest (rechtskräftiger Einspracheentscheid vom 22. Juni 2010).
Das Amt für Arbeit des Kantons St. Gallen lehnte verfügungsweise am 27. August 2010 ein Gesuch der Firma X.________ AG um Erlass der Rückerstattung mangels guten Glaubens ab, was es mit Einspracheentscheid vom 14. März 2011 bestätigte.
B.
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wies die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 21. Dezember 2011 ab.
C.
Die Firma X.________ AG lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, in Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides sei die Sache zur Beurteilung der grossen Härte an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Amt für Arbeit des Kantons St. Gallen, das kantonale Versicherungsgericht sowie das SECO haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Erwägungen:
1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 132 II 257 E. 2.5 S. 262; 130 III 136 E. 1.4 S. 140).
1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG; Ausnahme: Beschwerden gemäss Art. 97 Abs. 2 BGG [Art. 105 Abs. 3 BGG]).
2.
2.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zu den Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit die Rückerstattung zu Unrecht bezogener Leistungen ganz oder teilweise erlassen werden kann, nämlich die Gutgläubigkeit beim Leistungsbezug einerseits und - kumulativ - die grosse Härte der Rückerstattung andererseits (Art. 25 Abs. 1 ATSG [anwendbar gemäss Art. 95 Abs. 1 AVIG] in Verbindung mit Art. 4 ATSV) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
2.2 Gemäss der vor Inkrafttreten des BGG ergangenen und weiterhin gültigen Rechtsprechung ist bei der Frage nach der Gutgläubigkeit beim Leistungsbezug hinsichtlich der Überprüfungsbefugnis des Gerichts zu unterscheiden zwischen dem guten Glauben als fehlendem Unrechtsbewusstsein und der Frage, ob sich jemand unter den gegebenen Umständen auf den guten Glauben berufen kann oder ob er bei zumutbarer Aufmerksamkeit den bestehenden Rechtsmangel hätte erkennen sollen. Die Frage nach dem Unrechtsbewusstsein gehört zum inneren Tatbestand und wird daher als Tatfrage nach Massgabe von Art. 105 Abs 1 BGG von der Vorinstanz für das Bundesgericht verbindlich beurteilt. Demgegenüber gilt die Frage nach der gebotenen Aufmerksamkeit als frei überprüfbare Rechtsfrage, soweit es darum geht, festzustellen, ob sich jemand angesichts der jeweiligen tatsächlichen Verhältnisse auf den guten Glauben berufen kann (BGE 122 V 221 E. 3 S. 223).
3.
3.1 Die Vorinstanz traf zum Vorliegen des Unrechtsbewusstsein keine ausdrücklichen Feststellungen. Es besteht jedoch kein Grund zur Annahme, dass dem Verantwortlichen der Firma die ungenügende Arbeitszeitkontrolle bewusst war. Es ist daher vorliegend zu prüfen, ob die Vorinstanz zu Recht zum Schluss gelangte, die Firma X.________ AG könne sich nicht auf den guten Glauben berufen mit der Begründung, sie hätte bei der gebotenen Aufmerksamkeit Anlass gehabt, Zweifel an der genügenden Kontrollierbarkeit ihrer Zeiterfassung zu hegen, zumal die Voraussetzungen aus der Informationsbroschüre des SECO für Arbeitgeber "Info-Service Kurzarbeitsentschädigung", und dem Formular "Antrag auf Kurzarbeitsentschädigung", Titel "2. Anspruchsvoraussetzungen" hervorgingen. Sie hätte sich bei der Verwaltung erkundigen müssen, ob ihr Kontrollsystem den Anforderungen an eine genügende betriebliche Arbeitszeitkontrolle entspreche.
3.2
3.2.1 Fest steht, dass Dr. W.________ als Inhaber und verantwortlicher Leiter der Firma jeweils Montagnachmittag einen wöchentlichen Arbeitszeitplan festlegte, den er auf einem handgeschriebenen A4-Blatt eintrug und dessen Einhaltung er täglich kontrollierte. Diese Kontrolle erfasste jeweils einen ganzen Monat, welche Daten auf das Formular "Rapport KAE" übertragen, nach Monatsabschluss allenfalls bereinigt und von den betroffenen sechs Mitarbeitern unterschrieben wurden. Es steht dabei ausser Frage, dass Dr. W.________ als verantwortliches Organ der Beschwerdeführerin auf Grund der Angaben im "Antragsformular für Kurzarbeitsentschädigung" und der abgegebenen Informationsschrift "Kurzarbeitsentschädigung" Kenntnis davon hatte (oder bei hinreichender Aufmerksamkeit hätte haben müssen), dass die für den Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung erforderliche ausreichende Kontrollierbarkeit der Arbeitszeit ein betriebsinternes Zeiterfassungssystem (wie Stempelkarten, Stundenrapporte etc.) voraussetzt und die entsprechenden Unterlagen im Hinblick auf spätere Kontrollen aufzubewahren sind.
3.2.2 Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie sei der Überzeugung gewesen, dass dieses manuelle, täglich kontrollierte und monatlich auf das Formular "Rapport KAE" übertragene Zeiterfassungssystem diesen Anforderungen genügen würde. Dass die Handnotizen im Nachgang zur Übertragung auf das amtliche Formular "Rapport KAE" fortgeworfen worden seien, sei weder bös- noch mutwillig erfolgt. Sie sei der Überzeugung gewesen, dass das ausgefüllte Formular zur Kontrolle mehr als nur ausreichen würde. Wenn überhaupt, sei dem Verantwortlichen der Unternehmung höchstens eine den guten Glauben nicht ausschliessende, leichte Nachlässigkeit vorzuwerfen.
3.3 Praxisgemäss obliegt es im Zweifelsfall der Antrag stellenden Firma, sich zu erkundigen, ob ihr Zeiterfassungssystem eine im Hinblick auf die Anspruchsberechtigung ausreichende Kontrolle gewährleistet (ARV 2002 S. 253, C 370/99 E. 4b), wie die Vorinstanz bereits festhielt. Dr. W.________ hielt anlässlich der von der Arbeitslosenkasse mit Schreiben vom 18. Februar 2009 eingeforderten Unterlagen für die Abrechnung von Kurzarbeit mit Antwortschreiben vom 23. Februar 2009 fest, er habe aufgrund der per E-mail vom 20. Februar 2009 zugesandten Formulare einen vervollständigten Antrag auf Kurzarbeitsentschädigung mit neu erstellter Abrechnung eingereicht und hoffe, dass diese Angaben ausreichend seien. Dem Antrag auf Kurzarbeitsentschädigung für den Monat Februar 2009 fügte Dr. W.________ nochmals hinzu, er hoffe, dass die revidierte Abrechnung vom 23. Februar 2009 für die erste Abrechnungsperiode (Januar 2009) korrekt ausgefallen sei (Schreiben vom 2. März 2009). Eine entsprechende Rückmeldung seitens der Arbeitslosenkasse zu diesen Anfragen in dem Sinne, dass die vom Kleinbetrieb gewählte Erfassung der Arbeitszeiten der sechs betroffenen Mitarbeiter dem gesetzlichen Erfordernis der Bestimm- und Kontrollierbarkeit des Arbeitszeitausfalls entsprechend Art. 46b AVIV nicht genügen würde, erfolgte zu keinem Zeitpunkt. Ob die Beschwerdeführerin damit dieser Pflicht zur Nachfrage, ob ihr System den behördlichen Anforderungen an die betriebliche Arbeitszeitkontrolle genüge, nachgekommen ist, kann offen bleiben.
3.4 Auch wenn bei der im Rahmen des Erlassverfahrens zu beurteilenden Frage des guten Glaubens aufgrund der geschilderten Umstände anzunehmen wäre, dass die Arbeitslosenkasse die geleistete Arbeitszeit der einzelnen Mitarbeiter aufgrund der geführten Wocheneinsatzpläne als genügend kontrollierbar angesehen hat, worauf sich die Beschwerdeführerin allenfalls hätte verlassen dürfen, ist ihr spätestens bei der Vernichtung der erstellten Handnotizen nach dem Übertrag der Angaben auf das amtliche Formular "Rapport KAE" eine grobe Nachlässigkeit vorzuwerfen, die die Bejahung des guten Glaubens nicht mehr zulässt. Mit der Abgabe der Informationsbroschüre "Kurzarbeitsentschädigung", Ausgabe 2009, erhielt sie die hinreichende Information (zur allgemeinen und permanenten Aufklärungspflicht der Versicherungsträger und Durchführungsorgane nach. Art. 27 Abs. 1 ATSG siehe BGE 131 V 472 E. 4.1 S. 476), dass die Arbeitgeber alle betrieblichen Unterlagen während fünf Jahren aufzubewahren und auf Verlangen der Ausgleichsstelle vorzulegen haben. Es liegt in erster Line am jeweiligen Gesuchsteller, die Informationsbroschüre (und das Antragsformular für Kurzarbeitsentschädigung) mit der gebotenen Sorgfalt zu lesen und bei Zweifeln mit konkreten Fragen an die zuständigen Stellen zu gelangen. Verzichtet er darauf, trägt er die damit verbundenen Nachteile (Urteile C 115/06 vom 4. September 2006 E. 3; C 82/04 vom 30. Dezember 2004 E. 4 und C 269/03 vom 25. Mai 2004 E. 3.2). Eine bezüglich der Aufbewahrung der Unterlagen ungenügende oder fehlende Wahrnehmung der Beratungspflicht des Versicherungsträgers im Sinne von Art. 27 Abs. 2 ATSG, die allenfalls einen öffentlich-rechtlichen Vertrauensschutz begründen könnte (BGE 124 V 215 E. 2b/aa S. 221; 131 V 472 E. 5 S. 481) ist überdies nicht auszumachen und wird auch nicht geltend gemacht. Ist das Wegwerfen der Dokumente zur Arbeitszeitkontrolle nach dem Gesagten nicht mehr als leichte Nachlässigkeit zu werten, entfällt eine erfolgreiche Berufung auf den guten Glauben, weshalb die Rückerstattung - auch wenn eine grosse Härte vorliegen sollte - nicht erlassen werden kann.
4.
Die Gerichtskosten werden der Beschwerdeführerin als unterliegender Partei auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 7000.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 11. Juni 2012
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Ursprung
Die Gerichtsschreiberin: Polla