BGer 6B_53/2012
 
BGer 6B_53/2012 vom 27.09.2012
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
{T 0/2}
6B_53/2012
Urteil vom 27. September 2012
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Schneider, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Schöbi,
Gerichtsschreiber Faga.
 
Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Johannes Michael Helbling,
Beschwerdeführer,
gegen
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Drohung; rechtliches Gehör etc.,
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts
des Kantons Aargau, Strafgericht, 2. Kammer,
vom 17. November 2011.
Sachverhalt:
A.
X.________ wird vorgeworfen, seiner Ehefrau anlässlich eines Streits im Juli 2008 gedroht zu haben, sie zu erschiessen. Dabei habe er ihr die Finger wie eine Pistole an den Kopf gehalten.
B.
Der Gerichtspräsident I des Bezirksgerichts Bremgarten sprach X.________ mit Urteil vom 23. Oktober 2009 der Drohung schuldig. Er bestrafte ihn mit einer bedingten Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu Fr. 100.-- bei einer Probezeit von zwei Jahren. Zudem auferlegte er ihm eine Busse in der Höhe von Fr. 400.--.
In Abweisung der Berufung von X.________ bestätigte das Obergericht des Kantons Aargau am 31. August 2010 das erstinstanzliche Urteil.
Mit Entscheid vom 14. März 2011 hiess das Bundesgericht die Beschwerde in Strafsachen von X.________ gut und wies die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurück (6B_937/2010).
Am 17. November 2011 wies das Obergericht die Berufung von X.________ erneut ab.
C.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau sei aufzuheben, und die Sache sei zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
D.
Das Obergericht des Kantons Aargau beantragt in seiner Vernehmlassung sinngemäss, die Beschwerde sei abzuweisen. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau hat auf Vernehmlassung verzichtet.
Erwägungen:
1.
Der Beschwerdeführer wirft der Vorinstanz unter Hinweis auf Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 EMRK die Verletzung des rechtlichen Gehörs vor.
1.1 Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) ergibt sich insbesondere das Recht der Betroffenen, sich vor Erlass eines Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst als Mitwirkungsrecht somit alle Befugnisse, die einer Partei einzuräumen sind, damit sie in einem Verfahren ihren Standpunkt wirksam zur Geltung bringen kann (BGE 138 V 125 E. 2.1 S. 127; 137 II 266 E. 3.2 S. 270; 136 I 265 E. 3.2 S. 272; je mit Hinweisen).
Die Rüge der Verletzung von Grundrechten (einschliesslich der willkürlichen Anwendung von kantonalem Recht und Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung) muss in der Beschwerde anhand des angefochtenen Entscheids präzise vorgebracht und substanziiert begründet werden, anderenfalls darauf nicht eingetreten wird (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 137 IV 1 E. 4.2.3 S. 5; 136 I 65 E. 1.3.1 S. 68; je mit Hinweisen).
1.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz sei am 14. März 2011 durch das Bundesgericht angewiesen worden, die Akten des Strafverfahrens gegen seine Ehefrau betreffend falsche Anschuldigung beizuziehen. Dieser Aufforderung sei die Vorinstanz am 26. Mai 2011 nachgekommen. Sie habe es jedoch unterlassen, den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme betreffend die neuen Akten einzuräumen, obwohl sie in ihrem Entscheid darauf abstelle (Beschwerde S. 7).
1.3 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung folgt das Recht der Parteien, Einsicht in die Akten eines hängigen Verfahrens zu nehmen und sich dazu zu äussern, aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren und dem rechtlichen Gehör (Art. 29 Abs. 1 und 2 BV; Art. 6 Ziff. 1 EMRK). Das Akteneinsichtsrecht bezieht sich auf sämtliche verfahrensbezogenen Akten, die geeignet sind, Grundlage des Entscheids zu bilden. Es ist demnach auch zu gewähren, wenn dadurch der Entscheid in der Sache nicht beeinflusst werden kann. Die Einsicht in die Akten, die für ein bestimmtes Verfahren erstellt oder beigezogen wurden, kann demnach nicht mit der Begründung verweigert werden, die betreffenden Dokumente seien für den Verfahrensausgang belanglos. Es muss dem Betroffenen selbst überlassen sein, die Relevanz der Akten zu beurteilen (BGE 132 V 387 E. 3.2 S. 389; Urteil 1C_88/2011 vom 15. Juni 2011 E. 3.4; je mit Hinweisen).
Grundsätzlich hat eine Partei ein Gesuch um Akteneinsicht zu stellen, damit die Einsichtnahme gewährt oder verweigert werden kann. Dies bedingt indes für Akten, welche die Parteien nicht kennen und auch nicht kennen können, eine entsprechende Information über die Aktenlage (BGE 132 V 387 E. 6.2 S. 391 mit Hinweisen). Werden im bestehenden Dossier ohne Wissen der Verfahrensbeteiligten neue Unterlagen beigezogen, so hat die Verfahrensleitung die Betroffenen darauf aufmerksam zu machen (MARKUS SCHMUTZ, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 2 zu Art. 102 StPO; vgl. HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Aufl. 2005, § 55 Rz. 17 f.).
1.4 Die Vorinstanz zog die Akten des Strafverfahrens betreffend falsche Anschuldigung mit Verfügung vom 26. Mai 2011 bei. Es stellt sich die Frage, ob der Beschwerdeführer deren Inhalt kannte respektive kennen konnte. Er hat das seiner Ehefrau vorgeworfene Verhalten am 4. Januar 2010 zur Anzeige gebracht und sich im besagten Verfahren als Privatkläger konstituiert. Mindestens über einen Teil der fraglichen Akten war er bereits vor dem Beizug am 26. Mai 2011 informiert (vgl. beispielsweise die Eingabe von Rechtsanwalt Johannes Helbling vom 5. Juli 2010). Er macht in der Beschwerde nicht ausdrücklich geltend, keine umfassende Aktenkenntnis gehabt zu haben. Selbst wenn er solches mit der Beanstandung, wonach ihm keine Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt worden sei, implizit vorbringen sollte, wäre die Rüge unbegründet. Der Beschwerdeführer wusste mit Blick auf den bundesgerichtlichen Rückweisungsentscheid vom 14. März 2011, dass die Vorinstanz die Dokumente des gegen seine Ehefrau geführten Strafverfahrens beiziehen würde. Zudem erfolgte der Aktenbeizug mit Verfügung der Vorinstanz vom 26. Mai 2011, welche auch dem Beschwerdeführer eröffnet wurde. Dass dieser die Vorinstanz um Akteneinsicht ersucht und das Gericht seinen Antrag abgewiesen hätte, macht er nicht geltend und geht aus den vorinstanzlichen Akten nicht hervor. Das Vorgehen der Vorinstanz ist nicht zu beanstanden, soweit der Anspruch auf Akteneinsicht überhaupt als verletzt gerügt wird.
1.5 Der Beschwerdeführer argumentiert, indem er sich zu den neu beigezogenen Akten nicht habe äussern können, habe die Vorinstanz sein rechtliches Gehör verletzt. Die Rüge ist begründet.
1.5.1 Das Bundesgericht erwog mit Urteil vom 14. März 2011, die Vorinstanz hätte dem beantragten Beizug der Akten im Verfahren gegen die Ehefrau des Beschwerdeführers nachkommen müssen. Es wies die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurück (Urteil 6B_937/2010 vom 14. März 2011). Mit Verfügung vom 8. April 2011 wurden die Parteien von der Vorinstanz aufgefordert, "gestützt auf das Urteil des Bundesgerichts vom 14. März 2011 [...] eine allfällige Stellungnahme abzugeben". Während die Staatsanwaltschaft Muri-Bremgarten und die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau auf eine Vernehmlassung verzichteten, reichte der Beschwerdeführer am 25. Mai 2011 eine Stellungnahme zum bundesgerichtlichen Rückweisungsentscheid ein. Am 26. Mai 2011 zog die Vorinstanz die fraglichen Verfahrensakten bei. Gleichzeitig forderte sie die Parteien auf mitzuteilen, ob sie auf eine mündliche Berufungsverhandlung verzichten würden. Sie erwog unter Hinweis auf Art. 406 Abs. 2 lit. a und b StPO, dass mit dem Einverständnis der Parteien das schriftliche Verfahren durchgeführt werden könne. Nachdem die Untersuchungsbehörde sowie der Beschwerdeführer auf eine mündliche Berufungsverhandlung verzichtet hatten, wies die Vorinstanz mit Urteil vom 17. November 2011 die Berufung des Beschwerdeführers ab.
1.5.2 Aus dem Verfahrensablauf geht hervor, dass die Vorinstanz den Parteien ein schriftliches Berufungsverfahren im Sinne von Art. 406 StPO in Aussicht gestellt hatte. In der Folge räumte sie ihnen aber keine Möglichkeit ein, zu den beigezogenen Akten Stellung zu nehmen. Daran ändert der Umstand nichts, dass die Parteien, worauf die Vorinstanz in ihrer Stellungnahme vom 12. Juli 2012 verweist, am 8. April 2011 eingeladen wurden, eine Vernehmlassung einzureichen. Weshalb die Vorinstanz ihnen in Bezug auf den bundesgerichtlichen Rückweisungsentscheid das rechtliche Gehör gewährte, ist nicht ohne Weiteres erkennbar. Selbst wenn der Beschwerdeführer bereits damals und mithin vor dem Aktenbeizug Kenntnis der einzelnen Akten im Verfahren gegen seine Ehefrau gehabt hätte, wäre er nicht gehalten gewesen, in seiner Eingabe vom 25. Mai 2011 auf diese Schriftstücke Bezug zu nehmen.
1.5.3 Die beigezogenen Akten sind geeignet, Grundlage des Entscheids zu bilden. Die Vorinstanz stellt ausdrücklich darauf ab. Sie erwägt unter anderem, die Ehefrau des Beschwerdeführers habe den Tatbestand der falschen Anschuldigung im Sinne von Art. 303 StGB objektiv erfüllt, jedoch habe sie sich über den Inhalt des von ihr verfassten Dokuments geirrt (Entscheid S. 12 f.; vgl. auch das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 17. November 2011, das den erstinstanzlichen Freispruch vom Vorwurf der falschen Anschuldigung bestätigt). Die Vorinstanz gelangt zur Überzeugung, dass die Ehefrau des Beschwerdeführers trotz der objektiv falschen Anschuldigung in der Lage war, selbst Erlebtes widerspruchsfrei, detailliert und wahrheitsgetreu wiederzugeben. Diesbezüglich nimmt sie insbesondere auf den erstinstanzlichen Entscheid vom 26. Januar 2011 respektive auf die fraglichen Akten Bezug, ohne dem Beschwerdeführer die Möglichkeit zu geben, sich dazu zu äussern. Indem sie dies unterlässt, verletzt sie dessen rechtliches Gehör. Daran ändert nichts, dass der Beschwerdeführer die Beschwerde vor Bundesgericht "in voller Kenntnis der Sachlage" erheben konnte (Vernehmlassung S. 2).
2.
2.1 Der Beschwerdeführer bringt vor, nachdem die Vorinstanz das schriftliche Verfahren angeordnet und die Akten beigezogen habe, hätte sie ihm Gelegenheit zur schriftlichen Berufungsbegründung einräumen müssen (Art. 406 Abs. 3 StPO). Zumindest hätte sie einen weiteren Schriftenwechsel anordnen müssen (Art. 406 Abs. 4 StPO und Art. 390 Abs. 3 StPO; Beschwerde S. 6 f.).
2.2 Im schriftlichen Berufungsverfahren setzt die Verfahrensleitung der Partei, welche die Berufung erklärt hat, Frist zur schriftlichen Begründung (Art. 406 Abs. 3 StPO). Nachdem die Rechtsmittelschrift den anderen Parteien und der Vorinstanz zur Stellungnahme zugestellt wurde, ordnet die Rechtsmittelinstanz wenn nötig einen zweiten Schriftenwechsel an (vgl. Art. 390 Abs. 3 StPO).
2.3 Der Beschwerdeführer erstattete die schriftliche Berufungsbegründung am 30. Januar 2010. Die Vorinstanz war nicht gehalten, ihm die entsprechende Frist neu anzusetzen. Hingegen hätte sie einen zweiten Schriftenwechsel anordnen müssen. Die aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör fliessenden Grundsätze (E. 1.1 hievor) werden in der Strafprozessordnung näher konkretisiert (vgl. beispielsweise Art. 100 ff. und 107 ff. StPO, welche nach Art. 379 StPO auch im Rechtsmittelverfahren zur Anwendung gelangen). Indem die Vorinstanz nach dem zusätzlichen Aktenbeizug ohne weitere Vorkehrungen den Berufungsentscheid fällt, verletzt sie Art. 390 Abs. 3 StPO.
3.
Das prozessuale Vorgehen der Vorinstanz hält vor dem Anspruch auf rechtliches Gehör nicht stand und ist verfassungs- sowie bundesrechtswidrig. Die Vorinstanz wird einen zweiten Schriftenwechsel anzuordnen und dem Beschwerdeführer das rechtliche Gehör betreffend die beigezogenen Akten zu gewähren haben. Damit erübrigt es sich, die weiteren Rügen (Beschwerde S. 7 f.) näher zu prüfen.
Für den Fall, dass die Vorinstanz in Abweisung der Berufung den erstinstanzlichen Schuldspruch der Drohung bestätigen sollte, ist im Hinblick auf die festzusetzende Geldstrafe (wie auch bei einer allfälligen Busse) aus prozessökonomischen Gründen Folgendes zu bemerken: Bei der Bemessung der Höhe des Tagessatzes stützt sich die Vorinstanz in ihrem Entscheid vom 17. November 2011 auf einen Eheschutzentscheid aus dem Jahre 2009 und damit (zumindest teilweise) auf Erhebungen aus den Jahren 2006 und 2007. Sie wird bei der Neubeurteilung zu beachten haben, dass die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers bis zum Zeitpunkt des Entscheids miteinzubeziehen sind.
4.
Die Beschwerde ist gutzuheissen, soweit darauf einzutreten ist. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 4 BGG), und der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 17. November 2011 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
2.
Es werden keine Kosten erhoben.
3.
Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 2. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 27. September 2012
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Schneider
Der Gerichtsschreiber: Faga