BGer 9C_798/2013
 
BGer 9C_798/2013 vom 21.01.2014
{T 0/2}
9C_798/2013
 
Urteil vom 21. Januar 2014
 
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber Furrer.
 
Verfahrensbeteiligte
H.________,
handelnd durch seine Mutter, und diese vertreten
durch den Rechtsdienst Integration Handicap,
Beschwerdeführer,
gegen
IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung
(Hilflosenentschädigung für Minderjährige),
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
vom 9. September 2013.
 
Sachverhalt:
A. Der am 8. April 2011 geborene H.________ leidet an einer kongenitalen myotonen Dystrophie Typ 1 (Curschmann-Steinert-Syndrom) mit generalisierter Muskelhypotonie und Spreizfussstellung beidseits (Ziff. 184 GgV-Anhang). Am 20. April 2011 wurde der Knabe bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Die IV-Stelle des Kantons Zürich übernahm die Behandlung dieses Geburtsgebrechens (sowie weiterer Geburtsgebrechen), die ärztlich verordneten Behandlungsgeräte und ambulante Physiotherapie, in der Folge zudem Reisekosten und Hilfsmittel.
Am 19. Oktober 2011 beantragten die Eltern des H.________ die Zusprechung einer Hilflosenentschädigung und am 11. November 2011 die Gewährung eines Intensivpflegezuschlags. Die IV-Stelle veranlasste nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens eine Abklärung vor Ort (Bericht vom 23. Januar 2012) und verneinte mit Verfügung vom 26. Januar 2012 einen Leistungsanspruch.
B. Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 9. September 2013 ab.
C. H.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides sowie der Verfügung vom 26. Januar 2012 die Zusprechung einer Hilflosenentschädigung leichten Grades ab Oktober 2011 und mittleren Grades ab September 2012 beantragen.
 
Erwägungen:
 
1.
1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
1.2. Die richtige Auslegung und Anwendung des Rechtsbegriffs der Hilflosigkeit, die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG sowie der Anforderungen an den Beweiswert von Abklärungsberichten an Ort und Stelle beschlagen Rechtsfragen, die vom Bundesgericht frei zu prüfen sind (Art. 95 lit. a BGG). Die auf medizinische Abklärungen und auf einen Abklärungsbericht vor Ort gestützten gerichtlichen Feststellungen über Einschränkungen der versicherten Person in bestimmten Lebensverrichtungen betreffen demgegenüber Sachverhaltsfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398 f.; Urteil 9C_410/2009 vom 1. April 2010 E. 3, in: SVR 2011 IV Nr. 11 S. 29). Tatsächlicher Natur ist auch die konkrete Beweiswürdigung (Urteil 9C_204/2009 vom 6. Juli 2009 E. 4.1, nicht publ. in: BGE 135 V 254, aber in: SVR 2009 IV Nr. 53 S. 164).
2. Streitig ist der Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung ab 1. Oktober 2011. Soweit der Beschwerdeführer die Zusprechung einer Hilflosenentschädigung mittleren Grades ab September 2012 beantragt, kann auf die Beschwerde nicht eingetreten werden, weil in der Verwaltungsverfügung vom 26. Januar 2012 und im vorinstanzlichen Entscheid nur über den Zeitraum bis zum Verfügungszeitpunkt befunden wurde und es darüber hinaus an einem Anfechtungsgegenstand und somit an einer Sachurteilsvoraussetzung fehlt (BGE 131 V 164 E. 2.1 S. 164; 125 V 413 E. 1a S. 414 mit Hinweisen). Zu prüfen ist daher nur der Anspruch für die Zeit bis zum 26. Januar 2012.
3. Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über die Hilflosigkeit (Art. 9 ATSG), den Anspruch auf Hilflosenentschädigung und die für deren Höhe wesentliche Unterscheidung dreier Hilflosigkeitsgrade (Art. 42 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 37 Abs. 1 bis 3 IVV), die massgebenden sechs alltäglichen Lebensverrichtungen (Ankleiden, Auskleiden; Aufstehen, Absitzen, Abliegen; Essen; Körperpflege; Verrichtung der Notdurft; Fortbewegung [im oder ausser Haus], Kontaktaufnahme; BGE 133 V 450 E. 7.2 S. 463) sowie den Anspruch auf einen Intensivpflegezuschlag (Art. 42ter Abs. 3 IVG und Art. 39 IVV) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
 
4.
4.1. Die Vorinstanz erwog, gemäss Abklärungsbericht vom 23. Januar 2012 sei nur bei der Lebensverrichtung Ankleiden, Auskleiden ein Mehrbedarf an Hilfeleistung im Vergleich zu Minderjährigen gleichen Alters ausgewiesen, womit eine Hilflosigkeit im Sinne von Art. 37 Abs. 3 lit. a zu verneinen sei. Ebenfalls zu verneinen sei eine Hilflosigkeit im Sinne von Art. 37 Abs. 3 lit. b bzw. lit. c IVV.
4.2. Der Beschwerdeführer rügt eine offensichtlich falsche Sachverhaltsfeststellung dergestalt, als die Hilflosigkeit beim Essen sowie beim Sitzen verneint worden sei. Richtigerweise bestehe beim Essen eine Hilfsbedürftigkeit bereits seit den ersten Lebensmonaten, womit der Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung leichten Grades per Oktober 2011 - mit dem Eintritt der Hilflosigkeit beim Ankleiden - entstanden sei.
 
5.
5.1. Zu prüfen ist einzig, ob der Beschwerdeführer hilflos im Sinne von Art. 37 Abs. 3 lit. a IVV ist. Bei den Lebensverrichtungen Körperpflege, Verrichtung der Notdurft, Fortbewegung und Kontaktaufnahme besteht (zum massgebenden Zeitpunkt) unbestritten keine Hilflosigkeit, wogegen die Hilflosigkeit beim Ankleiden, Auskleiden ausgewiesen ist. Streitig ist die Hilfsbedürftigkeit in den Bereichen Essen und Aufstehen, Absitzen, Abliegen.
5.1.1. Bei Minderjährigen ist nur der Mehrbedarf an Hilfeleistung und persönlicher Überwachung im Vergleich zu nicht behinderten Minderjährigen gleichen Alters zu berücksichtigen (Art. 37 Abs. 4 IVV). Diese Sonderregelung trägt dem Umstand Rechnung, dass bei Kleinkindern eine gewisse Hilfs- und Überwachungsbedürftigkeit auch bei voller Gesundheit besteht. Massgebend für die Bemessung der Hilflosigkeit bei diesen Versicherten ist daher der Mehraufwand an Hilfeleistung und persönlicher Überwachung im Vergleich zu einem nicht invaliden Minderjährigen gleichen Alters. Laut den Richtlinien zur Bemessung der massgebenden Hilflosigkeit bei Minderjährigen in Anhang III des vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) herausgegebenen Kreisschreibens über die Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH, in der ab 1. Januar 2012 gültigen Fassung) besteht ein allfälliger Mehraufwand an Hilfeleistung und persönlicher Überwachung verglichen mit einem nicht invaliden Minderjährigen gleichen Alters vor allem in den ersten sechs Lebensjahren (BGE 137 V 424 E. 3.3.3.2 S. 431 f.).
5.1.2. Gemäss Abklärungsbericht vom 23. Januar 2012, welcher auf einer Abklärung vor Ort und den Angaben der Eltern des Beschwerdeführers basiert, trinke der Beschwerdeführer den Schoppen zügig leer. Hierbei müsse seine Mutter die Wangen noch leicht stützen, spezieller Druck sei nicht mehr notwendig. Die Abklärungsperson führte aus, das Kind könne altersmässig (mit normal zubereiteten Mahlzeiten) gefüttert werden (am Morgen und Abend mit Schoppen, am Mittag mit Gemüse und Fleisch und am Nachmittag mit Getreidebrei und Früchten). Dass beim Schoppen geben eine Handunterstützung benötigt werde, könne nicht als erhebliche Hilfestellung gewertet werden. Der Zeitaufwand für die Mahlzeitenabgabe liege im altersgemässen Durchschnitt eher im unteren Bereich. Die Vorinstanz stellte hierzu fest, im Bericht des Kinderspitals X._______ vom 12. Juli 2012 werde zwar erwähnt, aufgrund der ausgeprägten fascialen Schwäche sei der Mundschluss schlecht, die Fütterung schwierig, es brauche eine spezielle Stimulation, um das Saugen zu ermöglichen. Eine solche Stimulation, soweit sie über die Hilfestellung in Form des leichten Stützens der Wangen hinausgehe, sei mit Blick auf den Abklärungsbericht indes nicht dargetan. Die Handunterstützung, welche offenbar ohne nennenswerte körperliche Anstrengung erbracht werde, könne nicht als massgebliche Hilfestellung bezeichnet werden. Ferner sei kein erhöhter Zeitaufwand ausgewiesen, denn auch bei einem nicht behinderten Kind erfolge das Trinken des Schoppens gewöhnlich in Gegenwart einer Obhutsperson. Andere Mehraufwendungen in Bezug auf das Essen seien nicht ersichtlich. Der Beschwerdeführer hält dagegen, das leichte Stützen der Wangen beim Trinken sei nicht üblich bei einem 9 ½ Monate alten Kind. Kinder in diesem Alter könnten einen Schoppen in der Regel selber halten und auch selbstständig leer trinken. Der Hilfsbedarf an sich, unabhängig davon, ob hierfür eine nennenswerte Kraftanstrengung notwendig sei, begründe die Hilflosigkeit.
Die Einwendungen des Beschwerdeführers dringen nicht durch. Insbesondere findet sich die hier erbrachte Hilfestellung (das leichte Stützen der Wangen beim Trinken) nicht in der Aufzählung derjenigen Umstände, welche bei der Lebensverrichtung Essen gemäss Anhang III KSIH Ziffer 3 als relevanter Mehraufwand anerkannt sind (u.a. vermehrte Mahlzeiten, Sondenernährung, pürierte Nahrung/Breinahrung, wenn nicht altersgemäss). Sodann erscheint die Hilfestellung auch nicht vergleichbar mit diesen, zumal kein zeitlicher Mehraufwand erforderlich ist und sie auch in qualitativer Hinsicht nicht als erheblich bezeichnet werden kann. Daher erscheint die vorinstanzliche Feststellung, wonach das leichte Stützen der Wangen im Alter von 9 ½ Monaten nicht als erheblicher Mehraufwand beim Trinken zu qualifizieren sei, nicht als offensichtlich unrichtig.
5.1.3. Betreffend die Lebensverrichtung Aufstehen, Absitzen, Abliegen führte die Abklärungsperson aus, die Kopfkontrolle sei genügend ausgebildet, auch könne sich der Beschwerdeführer beidseitig in Seitenlage bringen. Sitzen könne er jedoch noch nicht, da die notwendige Rumpfstabilität nicht gegeben sei. Indes könne dies gemäss Anhang III KSIH erst im Alter von 10 Monaten berücksichtigt werden, d.h. ab Februar 2012. Das kantonale Gericht erwog, es möge zutreffen, dass die Unfähigkeit zum freien Sitzen im Alter von 10 Monaten bereits im Rahmen des Abklärungsverfahrens absehbar gewesen sei. Indes schlössen die inzwischen von der IV abgegebenen Hilfsmittel (Spioweste, Sitzschale), welche eine Rumpfstabilität im Hochstuhl bzw. das freie Sitzen ermöglichten, eine Hilflosigkeit aus. Deshalb könne von einer voraussichtlich mehr als zwölf Monate dauernden Hilflosigkeit gemäss Art. 42 Abs. 3 IVG keine Rede sein.
Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, vermag am Ergebnis nichts zu ändern. Namentlich legt er keine überzeugenden Gründe dar, weshalb die Hilflosigkeit beim Sitzen - in Abweichung des KSIH - bereits vor Erreichen des Alters von 10 Monaten hätte berücksichtigt werden sollen. Nicht stichhaltig ist sein Einwand, indem die Verwaltung wenige Tage vor dem Alter von 10 Monaten verfügt habe, habe sie in unzulässiger Weise seinen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung im ersten Lebensjahr (vgl. Art. 42bis Abs. 3 IVG und Rz. 8094 KSIH, wonach im ersten Lebensjahr keine Karenzfrist zu erfüllen ist) vereitelt. Denn wie der Beschwerdeführer selbst darlegt, anerkannte die IV-Stelle - nach einer weiteren Abklärung - eine Hilfsbedürftigkeit bei dieser Lebensverrichtung offenbar per Februar 2012, mithin noch im ersten Lebensjahr. Folglich ist, weil das Unvermögen, frei zu Sitzen, erst ab dem Alter von 10 Monaten zu berücksichtigen ist (und damit erst im Zeitraum nach dem Verfügungserlass), die Verneinung der Hilflosigkeit nicht bundesrechtswidrig. Unter diesen Umständen ist auf die Frage, ob die Hilfsbedürftigkeit - wie vom kantonalen Gericht angenommen - durch die Abgabe von Hilfsmitteln tatsächlich aufgehoben wurde, nicht näher einzugehen.
5.1.4. Nach dem Gesagten liegt bis zum Verfügungszeitpunkt weder eine Hilflosigkeit im Bereich Essen noch in der Lebensverrichtung Aufstehen, Absitzen, Abliegen vor. Damit hält der vorinstanzliche Entscheid vor Bundesrecht stand.
6. Der unterliegende Beschwerdeführer trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 21. Januar 2014
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Kernen
Der Gerichtsschreiber: Furrer