BGer 2C_611/2013
 
BGer 2C_611/2013 vom 13.10.2014
{T 0/2}
2C_611/2013
 
Urteil vom 13. Oktober 2014
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Zünd, Präsident,
Bundesrichter Stadelmann,
Bundesrichter Kneubühler,
Gerichtsschreiberin Dubs.
 
Verfahrensbeteiligte
A.B.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwältin Ariane Bessire,
gegen
Departement des Innern des Kantons Solothurn, Migration und Schweizer Ausweise.
Gegenstand
Widerruf der Niederlassungsbewilligung,
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn vom 27. Mai 2013.
 
Sachverhalt:
 
A.
A.a. Der italienische Staatsangehörige A.B.________ wurde am 8. August 1976 in der Schweiz geboren. Als Einjähriger ist er mit seiner Familie nach Sizilien zurückgekehrt und hat dort gelebt, bis er mit seiner Mutter und den Geschwistern am 1. September 1990, d. h. im Alter von 14 Jahren zum Vater in die Schweiz zog. Am 18. Februar 1991 wurde ihm die Niederlassungsbewilligung erteilt. Aufgrund mangelnder Schulleistung und bereits früher Drogensucht (als 14-Jähriger) ist es A.B.________ nicht gelungen, eine Lehre abzuschliessen. Er hat aber immer wieder temporär gearbeitet und hat zuletzt während mehreren Jahren bis 2007 über eine feste Anstellung als Lagerist verfügt.
A.b. A.B.________ wurde in der Schweiz wiederholt straffällig und daher wie folgt verurteilt:
- Strafverfügung vom 19. August 2008 wegen Übertretung des Transportgesetzes: Busse von Fr. 50.--.
A.c. Die Ehefrau verstarb am 3. Juli 2009 an einer Überdosis Heroin. Seit 2009 besteht über den Sohn eine Beistandschaft. A.B.________ verfügt über das Sorgerecht und die Obhut für seinen Sohn, dieser ist aber in einer Grossfamilie in Neuendorf/SO untergebracht. Er besucht alle zwei Wochen seine Grosseltern väterlicherseits in Gerlafingen/SO. Bis zu seinem Rückfall im Sommer 2012 und der darauf verfügten Einschränkung des Besuchsrechts besuchte A.B.________ seinen Sohn wöchentlich. Zudem hat er mehrmals in der Woche telefonischen Kontakt mit ihm.
 
B.
Mit Strafbefehl vom 1. Oktober 2012 wurde A.B.________ wegen mehrfacher Übertretung des BetmG und eines geringfügigen Vermögensdelikts (Diebstahl) zu einer Busse von Fr. 1'000.-- verurteilt. Infolge der Rückfälligkeit wurde das Besuchsrecht betreffend seinen Sohn eingeschränkt. Im März 2013 begab sich A.B.________ erneut in eine stationäre Therapie im psychiatrischen Dienst des Kantons Solothurn.
 
C.
 
D.
 
E.
 
Erwägungen:
 
1.
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen den kantonal letztinstanzlichen Endentscheid betreffend Widerruf der Niederlassungsbewilligung ist zulässig (Art. 82 lit. a, Art. 86 Abs. 1 lit. d und Art. 90 BGG), da auf den Fortbestand dieser Bewilligung ein Rechtsanspruch besteht (Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG; BGE 135 II 1 E. 1.2.1 S. 4).
1.2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 und Art. 96 BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht - mit Ausnahme der Verletzung von Grundrechten (vgl. Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 136 II 304 E. 2.5 S. 314) - von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist daher weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen, und es kann eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 139 II 404 E. 3 S. 415). Allerdings prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; vgl. BGE 134 II 244 E. 2.1 S. 245 f.), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 140 III 115 E. 2 S. 116; 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).
1.3. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig, d.h. willkürlich (BGE 140 III 115 E. 2 S. 116), ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinn von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
2.
2.1. Die Niederlassungsbewilligung kann widerrufen werden, wenn der Ausländer zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe, d.h. zu einer solchen von mehr als einem Jahr (BGE 139 I 145 E. 2.1 S. 147), verurteilt worden ist oder wenn er in schwerwiegender Weise gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung verstossen hat oder diese gefährdet (Art. 63 Abs. 1 lit. a [i.V.m. Art. 62 lit. b] und lit. b AuG [SR 142.20]; BGE 137 II 297 E. 2 S. 299 ff.; 135 II 377 E. 4.2 S. 381). Diese Widerrufsgründe kommen auch bei ausländischen Personen, die sich seit mehr als 15 Jahren ununterbrochen und ordnungsgemäss in der Schweiz aufhalten, zur Anwendung (Art. 63 Abs. 2 AuG).
2.2. Nach der Praxis des Bundesgerichts, welche sich sowohl auf Art. 96 AuG als auch auf Art. 8 EMRK stützt, muss der Widerruf der Niederlassungsbewilligung verhältnismässig sein. Dabei sind namentlich die Schwere des Delikts und des Verschuldens des Betroffenen, der seit der Tat vergangene Zeitraum, das Verhalten des Ausländers während diesem, der Grad seiner Integration bzw. die Dauer der bisherigen Anwesenheit sowie die ihm und seiner Familie drohenden Nachteile zu berücksichtigen (BGE 139 I 145 E. 2.4 S. 149; 135 II 377 E. 4.3 S. 381 f.; vgl. auch das Urteil des EGMR 
2.3. Der Beschwerdeführer verfügt über eine Niederlassungsbewilligung EU/EFTA. Er kann sich daher grundsätzlich auf das Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA; SR 0.142.112.681) berufen. Der Widerruf von Bewilligungen ist im FZA nicht geregelt; Art. 23 Abs. 2 der Verordnung vom 22. Mai 2002 über die Einführung des freien Personenverkehrs (VEP; SR 142.203) bestimmt, dass für den Widerruf der Niederlassungsbewilligung EU/EFTA Art. 63 AuG gilt. Ist einer der in Art. 63 AuG vorgesehenen Widerrufsgründe erfüllt und ist die Massnahme verhältnismässig im Sinn von Art. 96 Abs. 1 AuG und Art. 8 Ziff. 2 EMRK, ist in einem nächsten Schritt zu prüfen, inwiefern das Freizügigkeitsabkommen zusätzliche Schranken auferlegt (Urteile 2C_236/2013 vom 19. August 2013 E. 4; 2C_221/2012 vom 19. Juni 2012 E. 3.2 mit Hinweis auf BGE 130 II 176 E. 3.2 S. 181).
 
3.
3.1. Die Vorinstanz hat festgestellt, dass der Beschwerdeführer insgesamt eine Vielzahl von Delikten begangen hat, welche zwar einzeln betrachtet nicht von erheblicher Schwere sind, aber in ihrer Gesamtheit erkennen liessen, dass sich der Beschwerdeführer von strafrechtlichen Sanktionen nicht beeindrucken lasse. Bereits mit Urteil des Amtsgerichts von Bucheggberg-Wasseramt vom 17. März 2008 wurde er wegen Straftaten in Zusammenhang mit seiner Drogensucht zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 12 Monaten verurteilt. Am 29. April 2008 wurde er daher ausländerrechtlich verwarnt. Danach musste er wissen, dass bei erneuter Straffälligkeit der Entzug der Bewilligung drohte. Da der Beschwerdeführer im Jahre 2010 zu einer Freiheitsstrafe von 14 Monaten und im Herbst 2012 zu einer Busse verurteilte wurde, schloss die Vorinstanz aufgrund der Vielzahl der begangenen Delikte, dem verwerflichen Verhalten des Beschwerdeführers, der Rückfallgefahr und den persönlichen Schulden des Beschwerdeführers auf ein erhebliches öffentliches Interesse am Widerruf der Niederlassungsbewilligung und der damit verbundenen Entfernung des Beschwerdeführers aus der Schweiz.
 
3.2.
3.2.1. Der Beschwerdeführer ist zwar in der Schweiz geboren, hat dann aber in Italien gelebt, bis er im September 1990 im Alter von 14 Jahren mit seiner Mutter und seinen Geschwistern zum Vater in die Schweiz zog. Der Beschwerdeführer geriet bereits als Jugendlicher in Kontakt mit Drogen und hat keine Berufsausbildung absolviert. Er hat aber immer wieder temporär gearbeitet und zuletzt während mehreren Jahren bis 2007 über eine feste Anstellung als Lagerist verfügt. Im Zeitpunkt des vorinstanzlichen Entscheids war er arbeitslos und war auf Sozialhilfe angewiesen. Er kann somit nicht als beruflich gut integriert betrachtet werden, was hauptsächlich auf seine Drogensucht zurückzuführen ist. Da der Beschwerdeführer die ersten Schuljahre in Italien verbracht hat, geht die Vorinstanz davon aus, dass ihm die Sprache, Kultur und Gepflogenheiten seines Heimatlandes nach wie vor bekannt sind und eine Rückkehr dorthin als zumutbar erscheint. Dies ist an sich nicht zu beanstanden, wobei sich jedoch eine soziale und berufliche Integration des Beschwerdeführers in Italien, solange er seine Drogensucht nicht definitiv überwunden hat, schwierig gestalten dürfte. Ob er im Heimatland über ein tragfähiges Beziehungsnetz verfügt, ist fraglich, lebt er doch wie seine Eltern und Geschwister seit über 20 Jahren in der Schweiz. Seine Ausreise nach Italien könnte daher unter Umständen auch das bisher mittels Therapien und persönlichem Engagement betreffend drogenfreies Leben bereits Erarbeitete wieder in Frage stellen.
3.2.2. Die italienische Ehegattin des Beschwerdeführers, mit der er einen am 9. Februar 2005 geborenen Sohn hat, ist am 3. Juli 2009 an einer Überdosis Heroin gestorben. Der Beschwerdeführer befand sich damals im Entzug und hat diesen trotz dieses Schicksalsschlags fortgeführt. Über den Sohn besteht eine Beistandschaft. Der Beschwerdeführer verfügt indessen weiterhin über das elterliche Sorgerecht und die Obhut für seinen Sohn, wobei dieser aber seit 2009 in einer Grossfamilie in Neuendorf/SO untergebracht ist. Der Sohn besucht alle zwei Wochen seine Grosseltern väterlicherseits in Gerlafingen/SO, wo er häufig auch den Beschwerdeführer trifft. Bis zum Rückfall im Jahr 2012 und der darauf verfügten Einschränkung des Besuchsrechts besuchte der Beschwerdeführer seinen Sohn wöchentlich. Zudem hat er mehrmals in der Woche telefonischen Kontakt mit ihm. Die Beziehung zu seinem Sohn ist unbestrittenermassen intakt und tatsächlich gelebt, weshalb er sich auch auf den Schutz des Familienlebens nach Art. 8 EMRK berufen kann.
Die Vorinstanz anerkennt zwar, dass dem Kind im Fall des Wegzugs des Vaters die Hoffnung einer gemeinsamen Zukunft genommen würde, erachtet aber, dass dadurch eine klare Situation geschaffen würde und der Beschwerdeführer den Kontakt zu seinem Sohn mittels der heutigen Kommunikationsmitteln und Besuchsaufenthalte auch aus Italien aufrecht erhalten könne. Abgesehen davon, dass es sehr zweifelhaft ist, ob dem Beschwerdeführer aufgrund seiner finanziellen Verhältnisse regelmässige Besuchsaufenthalte in der Schweiz überhaupt möglich wären, hat die Vorinstanz damit dem Kindesinteresse ungenügend Rechnung getragen.
3.3. Bei Berücksichtigung der seit 2009 eher positiven Entwicklung des Beschwerdeführers, seiner fortwährenden Anstrengungen, ein drogenfreies Leben zu führen, des Umstandes, dass er schon sehr lange hier lebt, und angesichts der besonderen Bedeutung der Vater-Kind-Beziehung nach dem Tod der Mutter sowie des Alters des Kindes erweist sich der Widerruf der Niederlassungsbewilligung des Beschwerdeführers als unverhältnismässig, zumal diese Massnahme wohl den Entzug der Obhut für seinen Sohn und den Abbruch der familiären Beziehung, wie sie heute gelebt wird, zur Folge hätte.
 
4.
4.1. Aufgrund des Gesagten erweist sich die Beschwerde als begründet und ist gutzuheissen. Das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn vom 27. Mai 2013 ist aufzuheben. Damit gilt die Niederlassungsbewilligung des Beschwerdeführers weiter. Das Departement des Innern des Kantons Solothurn, Migration und Schweizer Ausweise, ist anzuweisen, den Beschwerdeführer fremdenpolizeilich zu verwarnen.
4.2. Dem Verfahrensausgang entsprechend sind keine Kosten zu erheben (vgl. Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Solothurn hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (vgl. Art. 68 Abs. 2 BGG). Die Höhe der Parteientschädigung entspricht der von der Rechtsvertreterin eingereichten Honorarnote vom 13. August 2014 über Fr. 3'904.-- einschliesslich Mehrwertsteuer (vgl. Art. 12 Abs. 2 des Reglements über die Parteientschädigung und die Entschädigung für die amtliche Vertretung im Verfahren vor dem Bundesgericht vom 31. März 2006 [SR 173.110.210.3]). Es besteht kein Anlass, die Entschädigung tiefer anzusetzen, zumal sich der geltend gemachte Betrag im Rahmen des bundesgerichtlichen Tarifs hält (vgl. Art. 6 des erwähnten Reglements). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird damit gegenstandslos. Das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn wird über die kantonale Kosten- und Entschädigungsregelung neu zu befinden haben (Art. 67 e contrario und 68 Abs. 5 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. 
2. 
2.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
2.2. Der Kanton Solothurn hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'904.-- zu entschädigen.
2.3. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird als gegenstandslos abgeschrieben.
3. 
4. 
Lausanne, 13. Oktober 2014
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Zünd
Die Gerichtsschreiberin: Dubs