BGer 2C_784/2014
 
BGer 2C_784/2014 vom 24.04.2015
{T 0/2}
2C_784/2014
 
Urteil vom 24. April 2015
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Zünd, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Donzallaz,
Gerichtsschreiberin Mayhall.
 
Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Advokat Simon Berger,
gegen
Departement des Innern des Kantons Solothurn.
Gegenstand
Widerruf der Niederlassungsbewilligung,
Beschwerde gegen das Urteil des
Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn
vom 7. Juli 2014.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
B.
 
C.
 
Erwägungen:
 
1.
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wurde unter Einhaltung der gesetzlichen Frist (Art. 100 Abs. 1 BGG) und Form (Art. 42 BGG) eingereicht und richtet sich gegen einen Endentscheid einer letzten oberen kantonalen Instanz (Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2 BGG; Art. 90 BGG) in einer Angelegenheit des öffentlichen Rechts (Art. 82 lit. a BGG).
1.2. Nach Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen Entscheide über ausländerrechtliche Bewilligungen ausgeschlossen, auf deren Erteilung weder das Bundes- noch das Völkerrecht einen Rechtsanspruch einräumen. Grundsätzlich besteht ein Anspruch auf den Fortbestand einer bereits erteilten Niederlassungsbewilligung. Wird die Niederlassungsbewilligung widerrufen, so steht gegen den letztinstanzlichen kantonalen Entscheid die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten offen (BGE 135 II 1 E. 1.2.1 S. 4). Die Beschwerde ist zulässig und der Beschwerdeführer dazu legitimiert (Art. 89 Abs. 1 BGG). Auf die Beschwerde ist, vorbehältlich der Erfüllung der Rüge- und Begründungspflicht, in dem Umfang einzutreten.
1.3. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 und Art. 96 BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Vorbringen, sofern allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S. 280 mit Hinweis). Die Verletzung von Grundrechten sowie von kantonalem und interkantonalem Recht untersucht es in jedem Fall nur insoweit, als eine solche Rüge in der Beschwerde präzise vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 139 I 229 E. 2.2 S. 232; 134 II 244 E. 2.2 S. 246; 133 II 249 E. 1.4.2 S. 254).
1.4. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zu Grunde (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, dieser sei offensichtlich unrichtig oder beruhe auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG (Art. 105 Abs. 2 BGG). Offensichtlich unrichtig festgestellt ist ein Sachverhalt, wenn er willkürliche Feststellungen beinhaltet (BGE 137 I 58 E. 4.1.2 S. 62). Obwohl nicht ausdrücklich im Gesetz erwähnt, beruht auch eine unvollständige Sachverhaltsfeststellung auf einer Rechtsverletzung. Was rechtserheblich ist, bestimmt das materielle Recht; die unvollständige Erstellung der für die rechtliche Beurteilung massgeblichen Tatsachen stellt demzufolge eine Verletzung materiellen Rechts dar (BGE 136 II 65 E. 1.4 S. 68, 134 V 53 E. 4.3 S. 62; MEYER, Wege zum Bundesgericht - Übersicht und Stolpersteine, ZBJV 146/2010 S. 857).
 
2.
2.1. Kann sich ein Angehöriger eines Mitgliedstaates der EU auf ein aus dem Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit vom 21. Juni 1999 (FZA; SR 0.142.112.681) fliessendes Anwesenheitsrecht berufen, kommt ein Widerruf einer Niederlassungsbewilligung einer Beschränkung der aus dem FZA fliessenden Rechte gleich, weshalb der Bewilligungsentzug den Anforderungen dieses Abkommens zu genügen hat (BGE 139 II 121 E. 5.3 S. 125; Urteil 2C_401/2012 vom 18. September 2012 E. 3.1; KELLERHALS/BAUMGARTNER, Freizügigkeitsabkommen Schweiz-EU, 2007, S. 4, 8). Der Anwendung des FZA steht der später in Kraft getretene Art. 121 BV, insbesondere dessen nicht unmittelbar anwendbare Abs. 3-6, nicht entgegen (vgl. BGE 139 I 16 E. 4 und 5 S. 23 f; 139 I 31 E. 2.3.2 S. 34 am Ende).
2.2. Die Anwendbarkeit des FZA setzt eine abkommensrechtliche Freizügigkeitskonstellation voraus (BGE 131 II 339 E. 2 S. 344). Eine solche kann insbesondere durch die Arbeitnehmereigenschaft begründet werden (Art. 4 FZA in Verbindung mit Art. 6 ff. Anhang I FZA; BGE 131 II 339 E. 2 S. 344; BORGHI, La libre circulation des personnes entre la Suisse et l'UE, 2010, S. 64 ff.; KELLERHALS/BAUMGARTNER, Freizügigkeitsabkommen Schweiz-EU, 2007, S. 4). Gemäss der vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung hat der Beschwerdeführer eine Lehre als Automechaniker absolviert. Er stand somit während dieses Zeitraums in einem weisungsgebundenen Abhängigkeitsverhältnis, wobei er eine (tatsächliche und echte) Tätigkeit für einen anderen für eine bestimmte Zeit verrichtete und dafür ein Entgelt bezog, womit er im unionsrechtlichen Sinn als Arbeitnehmer zu qualifizieren war (BGE 140 II 460 E. 4.1.1 S. 466; 131 II 339 E. 3.2 S. 345; Urteil 2C_195/2014 vom 12. Januar 2015 E. 2.2.3, zur Publ. vorg.; MERZ, Le droit de séjour selon l'ALCP et la jurisprudence du Tribunal fédéral, in: RDAF I 2009 S. 270; BORGHI, La libre circulation des personnes entre la Suisse et l'UE, 2010, S. 68 f.).
2.3. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit, insbesondere wegen Krankheit, lässt die Arbeitnehmereigenschaft nicht entfallen (Art. 4 FZA in Verbindung mit Art. 6 Ziff. 1 und 6 Anhang I FZA; Urteil 2C_195/2014 vom 12. Januar 2015 E. 2.1.2, zur Publ. vorg.). Ob der Beschwerdeführer, wie im vorinstanzlichen Verfahren geltend gemacht, während den zwei Jahren vor Erlass des angefochtenen Urteils wegen Herzinsuffizienz nicht arbeiten konnte, hat die Vorinstanz sachverhaltsmässig nicht festgestellt. Dieses rechtserhebliche Sachverhaltselement lässt sich der vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung nicht entnehmen, weshalb sie sich als unvollständig erweist (E. 1.4). Von einer Aufhebung des angefochtenen Urteils und Rückweisung zur Sachverhaltsergänzung in diesem Punkt an die Vorinstanz ist jedoch abzusehen. Die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens ist deswegen nicht entscheidend (vgl. zu dieser Voraussetzung Art. 97 Abs. 1 BGG; zu Art. 105 Abs. 2 BGG MEYER/DORMANN, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 54 zu Art. 105), weil der Widerruf der Niederlassungsbewilligung des Beschwerdeführers im Falle einer Anwendbarkeit mit den Anforderungen des FZA vereinbar wäre.
 
3.
3.1. In Anwendung der Art. 5 Anhang I FZA zu Grunde liegenden Prinzipien ist ein Widerruf einer Niederlassungsbewilligung nur gerechtfertigt, wenn eine hinreichend schwere und gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung vorliegt. Eine strafrechtliche Verurteilung erfüllt dieses Kriterium, wenn die betreffende Person mit der begangenen Tat ein persönliches Verhalten zeigt, das eine künftige Gefährdung als wahrscheinlich erscheinen lässt (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 Anhang I FZA). Art. 5 Anhang I FZA steht Massnahmen entgegen, die (allein) aus generalpräventiven Gründen verfügt werden (BGE 136 II 5 E. 4.2 S. 20; 130 II 176 E. 3.4.1 S. 183; 129 II 215 E. 7.1 S. 221 f.; Urteil 2C_194/2014 vom 25. November 2014 E. 2.2; 2C_407/2013 vom 15. November 2013 E. 3.2).
3.2. Nicht nur der Handel mit Betäubungsmitteln, sondern auch deren Verwendung können nach der Rechtsprechung des EuGH eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen und besondere Massnahmen zum Schutz der öffentlichen Ordnung gegen Personen ausländischer Staatsangehörigkeit rechtfertigen, welche gegen Vorschriften über Betäubungsmittel verstossen (Urteil des EuGH vom 23. November 2010 C-145/09 
3.3. Mit seiner rechtskräftigen Verurteilung im März 2013 zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten durch das Strafgericht Basel-Landschaft hat der Beschwerdeführer den Widerrufsgrund von Art. 63 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 62 lit. b AuG gesetzt. Der Widerruf erweist sich mit den Vorgaben von Art. 5 Anhang I FZA als vereinbar. Der Beschwerdeführer hat nicht nur während Jahren Heroin konsumiert, sondern damit auch gehandelt bzw. dieses anderen Personen verschafft, womit er die öffentliche Ordnung konkret, unmittelbar und schwer gefährdet hat (Urteil 2C_407/2013 vom 15. November 2013 E. 4.2; Urteil des EuGH vom 23. November 2010 C-145/09 
 
4.
4.1. Das Konventionsrecht begründet grundsätzlich keinen Anspruch darauf, das Familienleben in einem bestimmten Staat verwirklichen zu können (Urteil des 
 
4.2.
4.2.1. Ist der Anwendungsbereich von Art. 8 Ziff. 1 EMRK eröffnet, bedeutet dies nur, dass die betreffende Person sich auf diese konventionsrechtliche Garantie berufen kann. Der Schutzbereich von Art. 8 Ziff. 1 EMRK kann jedoch rechtmässig eingeschränkt werden (vgl. für den kombinierten Schutzbereich der konventionsrechtlichen Garantie von Art. 8 EMRK insbesondere Urteil 2C_480/2013 vom 24. Oktober 2013 E. 4.4.5). Für die Rechtfertigung eines solchen Eingriffs ist konventionsrechtlich eine Interessenabwägung erforderlich, welche die individuellen Interessen an der Erteilung bzw. am Erhalt des Anwesenheitsrechts und der öffentlichen Interessen an dessen Verweigerung in Betracht zieht (Art. 8 Ziff. 2 EMRK; GRABENWARTER, Commentary to the European Convention on Human Rights, 2014, N. 42 zu Art. 8 EMRK). Das öffentliche Interesse überwiegt, wenn die Massnahme durch ein "herausragendes soziales Bedürfnis" gerechtfertigt und in Bezug auf das rechtmässig verfolgte Ziel verhältnismässig erscheint bzw. einer "fairen" Interessenabwägung entspricht (BGE 140 I 145 E. 3.1 S. 147; 139 I 330 E. 2.2 S. 336). Die anzuwendenden Kriterien sind: (1) Die Art und Schwere der vom Betroffenen begangenen Straftaten, wobei besonders ins Gewicht fällt, ob er diese als Jugendlicher oder als Erwachsener begangen und es sich dabei um Gewaltdelikte gehandelt hat oder nicht; (2) die Dauer des Aufenthalts im Land; (3) die seit der Tatbegehung verstrichene Zeit und das Verhalten des Betroffenen während dieser; (4) die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Aufenthaltsstaat und zum Herkunftsland; (5) sein gesundheitlicher Zustand sowie (6) die mit der aufenthaltsbeendenden Massnahme verbundene Dauer der Fernhaltung (BGE 139 I 145 E. 2.4 S. 149; 139 I 31 E. 2.3.3 S. 35; Urteile des EGMR 
4.2.2. Das Bundesgericht stuft den Drogenhandel - in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EGMR, vgl. die Urteile 
4.3. Die nicht im vorinstanzlichen Verfahren geltend gemachten Tatsachen und Beweismittel wie auch die erst nach Erlass des vorinstanzlichen Urteils eingetretenen Sachverhaltselemente sind vom Novenausschluss von Art. 99 Abs. 1 BGG erfasst, weshalb die erstmals eingereichten Beweismittel nicht abgenommen werden können (Art. 99 Abs. 1 BGG; BGE 139 III 120 E. 3.1.2 S. 123; 133 IV 342 E. 2.1 S. 344) und die Interessenabwägung gemäss Art. 8 Ziff. 2 EMRK gestützt auf die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung durchzuführen ist. Die begangenen Rechtsgutsverletzungen und das Verschulden des Beschwerdeführers wiegen schwer, hat er doch mit den Zuwiderhandlungen gegen das BetmG, für welche er in den Jahren 1996 zu einer Strafe von vierzehn Monaten Haft und 2013 zu achtzehn Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, die Gesundheit vieler Menschen gefährdet, was er gewusst oder zumindest in Kauf genommen habe. Diese schwere Rechtsgutsverletzung, sein Verschulden und die 72 offenen Verlustscheine im Umfang von Fr. 78'712.-- sowie die Unterstützung mit Sozialhilfe begründen ein gewichtiges öffentliches Interesse an seiner Ausreise.
4.4. Der Beschwerdeführer ist allerdings am 25. Februar 2014 durch das Strafgericht Basel-Stadt zu einer weiteren Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden. In Abänderung des erstinstanzlichen Urteils erkannte das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt am 15. April 2015 auf 6 Monate Freiheitsstrafe, mit bedingtem Vollzug, wobei der bedingte Strafanteil der teilbedingten Freiheitsstrafe vom 14. März 2013 als nicht vollziehbar erklärt wurde. Die ausgefällte Strafe ist nicht rechtskräftig und sie darf hier nicht in die Interessenabwägung einbezogen werden. Nach Eintritt der Rechtskraft kann die Situation des Beschwerdeführers erneut überprüft werden. Dabei wären jedoch die zu diesem Zeitpunkt herrschenden Umstände zu berücksichtigen; einzubeziehen in die Interessenabwägung wären auch jene, die für den Beschwerdeführer sprechen, namentlich die von ihm behauptete "Kehrtwende" und die berufliche Integration seit der Entlassung aus dem Strafvollzug.
 
5.
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf eingetreten wird, und das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts Solothurn vom 7. Juli 2014 wird aufgehoben. Die Sache wird zur Neuverlegung der vorinstanzlichen Kosten- und Entschädigungsfolgen an die Vorinstanz zurückgewiesen.
2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3. Der Kanton Solothurn hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.-- auszurichten.
4. Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn und dem Staatssekretariat für Migration schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 24. April 2015
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Zünd
Die Gerichtsschreiberin: Mayhall