BGer 9C_856/2016
 
BGer 9C_856/2016 vom 09.03.2017
{T 0/2}
9C_856/2016
 
Urteil vom 9. März 2017
 
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Parrino,
Gerichtsschreiber Furrer.
 
Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,
gegen
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Simon Krauter,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Invalidenversicherung
(Invalidenrente; vorsorgliche Massnahme),
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 6. Dezember 2016.
 
Sachverhalt:
A. Der 1964 geborene A.________ bezog mit Wirkung ab 1. August 2002 eine Viertelsrente der Invalidenversicherung (Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons St. Gallen [fortan: IV-Stelle] vom 28. Mai 2004). Im Rahmen einer im September 2013 eingeleiteten Rentenrevision veranlasste die IV-Stelle eine polydisziplinäre Untersuchung durch die Medizinische Gutachtenzentrum Region St. Gallen GmbH (MGSG; Expertise vom 29. März 2015) und hob mit Verfügung vom 23. Mai 2016 die Invalidenrente per Ende Juni 2016 auf. Gleichzeitig entzog sie einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung.
B. Auf Beschwerde des A.________ hin stellte das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 6. Dezember 2016 die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegen die Verfügung vom 23. Mai 2016 wieder her.
C. Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache sei an die Vorinstanz zu neuer Entscheidung zurückzuweisen.
Während Beschwerdegegner und Vorinstanz auf Abweisung der Beschwerde schliessen, soweit darauf einzutreten sei, lässt sich das Bundesamt für Sozialversicherungen nicht vernehmen.
 
Erwägungen:
 
1.
1.1. Gemäss Art. 90 BGG ist die Beschwerde zulässig gegen Entscheide, die das Verfahren abschliessen. Ebenfalls zulässig ist nach Art. 91 Abs. 1 BGG die Beschwerde gegen selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide über die Zuständigkeit und über Ausstandsbegehren. Gegen einen sog. anderen selbstständig eröffneten Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten demgegenüber nur zulässig, wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Abs. 1 lit. a BGG), oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit und Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b).
Entscheide über die aufschiebende Wirkung sind Entscheide über vorsorgliche Massnahmen nach Art. 98 BGG (Urteil 9C_652/2011 vom 19. Januar 2012 E. 4.1 mit Hinweisen). Somit kann diesbezüglich nur die Verletzung verfassungsmässiger Rechte gerügt werden (Art. 98 BGG).
1.2. Die Vorinstanz hat entgegen der Verfügung der IV-Stelle vom 23. Mai 2016 als vorsorgliche Massnahme die Weiterausrichtung der bisherigen Rente angeordnet. Die IV-Stelle macht vor Bundesgericht namentlich eine Verletzung der Begründungspflicht nach Art. 29 Abs. 2 BV und damit einen zulässigen Beschwerdegrund nach Art. 98 BGG geltend (vgl. Urteil 8C_983/2012 vom 8. Mai 2013 E. 2). Da auch die übrigen Eintretensvoraussetzungen, einschliesslich des nicht wieder gutzumachenden Nachteils (vgl. statt vieler: Urteil 8C_507/2013 vom 2. Dezember 2013 E. 1.2), erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.
2. Die IV-Stelle beantragt, die Anweisung der Vorinstanz, die bisherige Rente weiter auszuzahlen, sei aufzuheben. Sie macht geltend, der kantonale Entscheid lasse jegliche Begründung vermissen, weshalb die Weiterausrichtung gerechtfertigt sein soll. Bei der einen im Entscheid erörterten Entscheidvariante der Rückweisung der Sache an die Verwaltung zu weiteren Abklärungen habe die Vorinstanz nicht begründet, weshalb die Rechtsprechung zum Andauern des Entzugs der aufschiebenden Wirkung in concreto ausnahmsweise keine Anwendung finde. Was die alternativ in Aussicht gestellte Entscheidvariante (reformatorischer Entscheid) betreffe, werde nicht begründet, weshalb entgegen den Darlegungen der Verwaltung von einem invalidisierenden Gesundheitsschaden auszugehen sei. Mithin ist zu prüfen, ob die Vorinstanz ihre Begründungspflicht nach Art. 29 Abs. 2 BV bezüglich der Wiedererteilung der aufschiebenden Wirkung verletzt hat.
 
3.
3.1. Was die vorinstanzlich diskutierte Entscheidvariante der Rückweisung der Sache an die IV-Stelle betrifft, so besteht - worauf die Beschwerdeführerin zutreffend hinweist - eine ständige Rechtsprechung zur Wirkung des Entzugs des Suspensiveffekts der Beschwerde. Nach dieser dauert - unter Vorbehalt einer allfällig missbräuchlichen Provozierung eines möglichst frühen Revisionszeitpunktes durch die Verwaltung - der mit der revisionsweise verfügten Herabsetzung oder Aufhebung einer Rente oder Hilflosenentschädigung verbundene Entzug der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde bei Rückweisung der Sache an die Verwaltung auch noch für den Zeitraum dieses Abklärungsverfahrens bis zum Erlass der neuen Verwaltungsverfügung an (BGE 106 V 18; 129 V 370; Urteil 8C_451/2010 vom 11. November 2010 E. 2-4, publ. in: SVR 2011 IV Nr. 33 S. 96 mit Hinweisen). Eine Aufhebung des von der Verwaltung angeordneten Entzugs der aufschiebenden Wirkung ist demnach lediglich in Ausnahmefällen zulässig. Ob eine solche Ausnahme vorliegt, hat das erstinstanzliche Gericht zu prüfen und gestützt auf Art. 29 Abs. 2 BV (und Art. 61 lit. h ATSG) wenigstens in den Grundzügen zu begründen (BGE 136 I 184 E. 2.2.1 S. 188, 229 E. 5.2 S. 236).
Die Vorinstanz lässt eine rechtsgenügliche Begründung für die Weiterausrichtung der bisherigen Rente im Sinne einer Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung vermissen. Es findet sich nicht einmal ein theoretischer Hinweis auf die entsprechenden Bestimmungen und Grundsätze. Somit kann dem kantonalen Entscheid nicht entnommen werden, ob er unter Ausserachtlassung der diesbezüglichen Rechtsfrage und der dazu ergangenen Rechtsprechung gefällt worden ist oder ob die Vorinstanz von einer rechtsmissbräuchlichen Provozierung eines möglichst frühen Revisionszeitpunktes durch die Verwaltung ausgegangen ist; bezüglich Letzterem hätte sie anzugeben, gestützt auf welche Umstände sie die hohen Anforderungen an einen Rechtsmissbrauch als gegeben erachtet. Damit liegt nicht nur eine Verletzung der Begründungspflicht von Art. 29 Abs. 2 BV vor, sondern auch eine Verletzung des Willkürverbots von Art. 9 BV (erwähntes Urteil 8C_79/2014 vom 23. Juni 2014E. 4.2).
3.2. Bei der Entscheidvariante des reformatorischen Entscheids beschränkte sich die Vorinstanz darauf, auf die Einschätzung der MGSG-Experten zu verweisen, wonach die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdegegners 50 % betrage. Indes fehlt jegliche Auseinandersetzung mit der ausführlichen Begründung der IV-Stelle (Beschwerdeantwort vom 26. August 2016), wonach somatischerseits eine volle Arbeitsfähigkeit in einer Verweistätigkeit bestehe und in psychiatrischer Hinsicht - auch unter Berücksichtigung der geänderten Rechtsprechung (BGE 141 V 281) bzw. nach Beurteilung im Lichte der massgeblichen Indikatoren - kein invalidisierender Gesundheitsschaden vorliege. Mithin ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Vorinstanz von eindeutigen Prozessaussichten (BGE 124 V 82 E. 6a S. 89; 105 V 266 E. 3 S. 269 f.) ausgegangen ist.
3.3. Zusammenfassend verunmöglichte das kantonale Gericht durch seinen Entscheid die Aufgabe der IV-Stelle (die Durchsetzung des Bundesrechts), da diese keine Kenntnis erhält, inwiefern ihre Handhabung des Bundesrechts nicht korrekt sein soll. Angesichts der fundamentalen Bedeutung der Verfahrensgrundrechte für den Rechtsstaat kann die IV-Stelle gestützt auf diesen objektiven Gehalt von Art. 29 Abs. 2 BV eine Verletzung der Begründungspflicht durch die Vorinstanz rügen (Urteil 8C_983/2012 vom 8. Mai 2013 E. 4 und erwähntes Urteil 8C_79/2014 E. 4.2; je mit Hinweisen).
3.4. Daran ändert die Stellungnahme der Vorinstanz nichts. Soweit diese das Vorgehen der Verwaltung, welche eine Beurteilung im Lichte der Indikatoren gemäss BGE 141 V 281 vorgenommen hat, mit Verweis auf E. 5.5 des Urteils 9C_125/2015 vom 18. November 2015 als unzulässig qualifiziert, zielt dies ins Leere. Das Administrativgutachten vom 29. März 2015 wurde noch vor der Rechtsprechungsänderung erstattet, womit die Gutachter die Vorgaben gemäss BGE 141 V 281 selbstredend nicht beachten konnten. Von einer rechtlichen Parallelüberprüfung im Sinne einer "freihändigen Anwendung" der zu beachtenden Standardindikatoren kann daher keine Rede sein. Fehl geht auch der Einwand, es liege ein - mit mehreren Entscheiden der Vorinstanz sowie des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vergleichbarer - Fall von einer rechtsmissbräuchlichen Provozierung eines möglichst frühen Revisionszeitpunktes vor. Die Sachverhalte sind schon deshalb nicht vergleichbar, weil in den erwähnten Fällen - so die Vorinstanz - einzig ein Aktenbericht des RAD Grundlage für die Rentenaufhebungen bildete, während hier ein Administrativgutachten als Entscheidgrundlage diente. Die Sache ist demnach unter Aufhebung des kantonalen Entscheids an die Vorinstanz zu neuer Entscheidung zurückzuweisen.
4. Der unterliegende Beschwerdegegner trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 6. Dezember 2016 wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen.
2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 9. März 2017
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Pfiffner
Der Gerichtsschreiber: Furrer