BGer 6B_307/2017 |
BGer 6B_307/2017 vom 19.02.2018 |
6B_307/2017
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Urteil vom 19. Februar 2018 |
Strafrechtliche Abteilung |
Besetzung
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Bundesrichter Denys, Präsident,
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Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
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Bundesrichter Rüedi,
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Gerichtsschreiber Matt.
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Verfahrensbeteiligte |
X.________,
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vertreten durch Rechtsanwalt Willy Bolliger,
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Beschwerdeführer,
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gegen
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Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
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Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau,
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Beschwerdegegnerin.
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Gegenstand
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Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit,
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Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 2. Kammer, vom 10. Januar 2017 (SST.2016.57.
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Sachverhalt: |
A. |
X.________ wird vorgeworfen, sich am 3. Juni 2014 als Motorfahrzeugführer vorsätzlich einer angeordneten Blutprobe widersetzt zu haben. Am 21. Dezember 2015 sprach ihn der Gerichtspräsident des Bezirksgerichts Kulm der Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit sowie eines weiteren Delikts schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingten Geldstrafe von 160 Tagessätzen sowie einer Busse von Fr. 500.--. Es verzichtete auf den Widerruf des bedingten Vollzugs einer Geldstrafe sowie des bedingten Teils gemeinnütziger Arbeit gemäss Strafbefehlen vom 30. Mai 2012 und 3. Juni 2013, verlängerte aber die Probezeit um ein Jahr. Die dagegen erhobene Berufung von X.________ wies das Obergericht des Kantons Aargau am 10. Januar 2017 im schriftlichen Verfahren ab.
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B. |
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, er sei vom Vorwurf der "Vereitelung einer Blutprobe" freizusprechen. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege im bundesgerichtlichen Verfahren. Das Obergericht des Kantons Aargau beantragt unter Verzicht auf eine Stellungnahme die Abweisung der Beschwerde. Die Oberstaatsanwaltschaft verzichtet auf eine Stellungnahme.
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Erwägungen: |
1. |
1.1. Der Beschwerdeführer ficht einzig die Verurteilung wegen Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit nach Art. 91a Abs. 1 SVG an. Er bestreitet den Anklagesachverhalt nicht, macht aber geltend, der Tatbestand sei nicht erfüllt bzw. nicht anwendbar. Da seine Fahrunfähigkeit aufgrund einer Atemalkoholkontrolle, deren Messwert er nicht bestritten habe, bereits festgestanden habe, stelle die Verweigerung einer unnötigen Blut- und Urinprobe keine Vereitelungshandlung dar. Eine Pflicht habe auch deshalb nicht bestanden, weil die Anordnung nicht anlässlich einer Fahrzeugkontrolle oder wegen eines Strassenverkehrsdelikts erfolgt sei. Zudem habe ihn die Polizei pflichtwidrig nicht auf die Folgen der Verweigerung hingewiesen. Sodann fehle ein zeitaktueller Beleg dafür, dass die Staatsanwaltschaft eine Blutentnahme rechtmässig im Sinne von Art. 251 i.V.m. Art. 241 StPO, ob telefonisch oder schriftlich, angeordnet oder dass die Polizei mit ihr Rücksprache genommen hätte. Es habe sich auch nicht um einen unerlässlichen Eingriff gemäss Art. 251 Abs. 4 StPO gehandelt, sodass selbst eine ordnungsgemässe Anordnung rechtswidrig wäre. Schliesslich sei der Beschwerdeführer angesichts des Atemalkoholtestergebnisses der Meinung gewesen, er sei nicht zur Abgabe einer Blutprobe verpflichtet. Er habe sich in einem Rechtsirrtum befunden. Im Übrigen verletze die Vorinstanz mehrfach sein rechtliches Gehör.
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1.2. |
1.2.1. Der Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit gemäss Art. 91a Abs. 1 SVG (in der seit 1. Januar 2013 geltenden Fassung) macht sich schuldig, wer sich als Motorfahrzeugführer vorsätzlich einer Blutprobe, einer Atemalkoholprobe oder einer anderen vom Bundesrat geregelten Voruntersuchung, die angeordnet wurde oder mit deren Anordnung gerechnet werden musste, oder einer zusätzlichen ärztlichen Untersuchung widersetzt oder entzogen hat oder den Zweck dieser Massnahmen vereitelt hat. Damit soll verhindert werden, dass der korrekt sich einer Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit unterziehende Fahrzeugführer schlechter wegkommt als derjenige, der sich ihr entzieht oder sie sonstwie vereitelt (vgl. zu aArt. 91 Abs. 3 SVG: BGE 126 IV 53 E. 2d S. 58 f.; 124 IV 175 E. 4a S 182 f.). In subjektiver Hinsicht erfordert der Tatbestand Vorsatz, wobei Eventualvorsatz genügt (vgl. BGE 131 IV 36 E. 2.2.1 S. 39 mit Hinweisen und E. 3.3.3 S. 43; 126 IV 53 E. 2a S. 56; Urteil 6B_384/2015 vom 7. Dezember 2015 E. 5.3).
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Fahrzeugführer sowie an Unfällen beteiligte Strassenbenützer können einer Atemalkoholprobe unterzogen werden (Art. 55 Abs. 1 SVG; Fassung vom 1. Juni 2014). Weist die betroffene Person Anzeichen von Fahrunfähigkeit auf und sind diese nicht oder nicht allein auf Alkoholeinfluss zurückzuführen, so kann sie weiteren Voruntersuchungen, namentlich Urin- und Speichelproben unterzogen werden (Art. 55 Abs. 2 SVG). Eine Blutprobe ist anzuordnen, wenn: Anzeichen von Fahrunfähigkeit vorliegen (Art. 55 Abs. 3 lit. a SVG); oder die betroffene Person sich der Durchführung der Atemalkoholprobe widersetzt oder entzieht oder den Zweck dieser Massnahme vereitelt (lit. b). Die Blutprobe kann aus wichtigen Gründen auch gegen den Willen der verdächtigten Person abgenommen werden (Art. 55 Abs. 4 erster Satz SVG).
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1.2.2. Soweit Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit gemäss Art. 55 SVG aufgrund des Verdachts einer Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz oder anderer Gesetze durchzuführen sind, handelt es sich um Beweisabnahmen im Sinne der StPO. Diese regelt auch die Zuständigkeit für die Durchführung und Anordnung solcher Massnahmen, weshalb das Strassenverkehrsgesetz keine entsprechenden Bestimmungen mehr enthält. Für die zwangsweise Anordnung der Blutentnahme ist nach Art. 198 Abs. 1 lit. a StPO die Staatsanwaltschaft zuständig. Eine solche Anordnung kann gemäss Art. 241 Abs. 1 StPO in dringenden Fällen zunächst auch mündlich, mithin telefonisch durch den Pikettstaatsanwalt erfolgen, sie ist aber nachträglich schriftlich zu bestätigen. Bei der Blutentnahme handelt es sich um eine Zwangsmassnahme, welche selbst dann von der Staatsanwaltschaft angeordnet werden muss, wenn der Betroffene in diese einwilligt. Für eine kantonale Bestimmung, welche die Zuständigkeit für die Anordnung einer Blutprobe unter bestimmten Bedingungen der Polizei überträgt, besteht kein Raum (Urteile 6B_942/2016 vom 7. September 2017 E. 5.2, zur Publ. vorgesehen; 6B_532/2016 vom 15. Dezember 2016 E. 1.4.1; je mit Hinweisen). Vom Erfordernis der Schriftlichkeit der Anordnung kann nicht abgewichen werden; die Schriftlichkeit ist Gültigkeitsvoraussetzung (vgl. DIEGO R. GFELLER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 4 f. zu Art. 241 StPO).
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1.3. |
1.3.1. Es ist unbestritten, dass sich in den Akten der zuständigen Staatsanwaltschaft kein Beleg dafür findet, wonach diese die Abgabe einer Blut- oder Urinprobe, deren Verweigerung dem Beschwerdeführer zur Last gelegt wird, im Voraus schriftlich angeordnet oder die Anordnung nachträglich schriftlich bestätigt hätte. Unter diesen Umständen rügt der Beschwerdeführer zu Recht eine Verletzung von Art. 198 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 241 Abs. 1 StPO. Dies würde angesichts des Fehlens einer nachträglichen schriftlichen Bestätigung selbst dann gelten, wenn eine telefonische Anordnung durch die Staatsanwaltschaft erfolgt sein sollte, was sich aus deren Akten aber ebenfalls nicht ergibt. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz kann ein Vermerk hierüber im Polizeirapport vom 16. Juli 2014, welcher keine Angaben zur Form der Anordnung enthält, nicht genügen. Abgesehen davon, dass der Rapport erst eineinhalb Monate nach dem Vorfall und damit nicht zeitaktuell erstattet wurde, handelt es sich dabei um keine Bestätigung der Staatsanwaltschaft als zuständige Behörde. Damit würde die gesetzliche Kompetenzordnung unterlaufen und einem möglichen Missbrauch durch die Polizei Tür und Tor geöffnet. Dass nach Auffassung der Vorinstanz keine Anzeichen für einen Missbrauch bestehen, ändert nichts.
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Im Übrigen will nicht einleuchten, weshalb ein Vermerk bezüglich der behaupteten telefonischen Anordnung in den Akten der Staatsanwaltschaft fehlt. Auch sie wäre verpflichtet gewesen, diese schriftlich zu dokumentieren, sofern sie denn erfolgte. Es gehört zu den elementaren Grundsätzen des Strafprozessrechts, dass Erhebungen im Rahmen des Verfahrens aktenkundig gemacht werden. Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) ergibt sich der Anspruch auf Akteneinsicht. Soll dieser effizient wahrgenommen werden können, ist erforderlich, dass alles in den Akten festgehalten wird, was zur Sache gehört und entscheidwesentlich sein kann. Damit besteht spiegelbildlich zum Recht auf Akteneinsicht eine Aktenführungs- und Dokumentationspflicht der Behörden. Diese sind verpflichtet, alle verfahrensrelevanten Vorgänge schriftlich festzuhalten und die Akten vollständig und korrekt anzulegen und zu führen. In einem Strafverfahren bedeutet dies, dass die Beweismittel, jedenfalls soweit sie nicht unmittelbar an der gerichtlichen Hauptverhandlung erhoben werden, in den Untersuchungsakten vorhanden sein müssen und dass aktenmässig belegt sein muss, wie sie produziert wurden, damit die beschuldigte Person in der Lage ist zu prüfen, ob sie inhaltliche oder formelle Mängel aufweisen und gegebenenfalls Einwände gegen deren Verwertbarkeit erheben kann. Dies ist Voraussetzung dafür, dass die beschuldigte Person ihre Verteidigungsrechte wahrnehmen kann. Die Grundsätze zur Aktenführungs- und Dokumentationspflicht werden in der StPO konkretisiert (vgl. Art. 100 StPO; zum Ganzen: Urteil 6B_307/2012 vom 14. Februar 2013 E. 3.1 mit Hinweisen; nicht publ. in BGE 139 IV 128). Es kann nicht angehen, das Fehlen einer schriftlichen Anordnung resp. Dokumentation damit zu rechtfertigen, dass die Staatsanwaltschaft dies schlicht vergessen habe, wie die Vorinstanz argumentiert.
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1.3.2. Nach dem Gesagten liegt keine gültige Anordnung einer Blutprobe gemäss Art. 198 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 241 Abs. 1 StPO vor. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Blutentnahme von der Polizei angeordnet wurde, worauf auch die Angaben im "Polizeiprotokoll bei Verdacht auf Alkohol-, Betäubungs- und Arzneimittelkonsum und Auftragsbestätigung zur Blut-/Urinentnahme" vom 3. Juni 2014 schliessen lassen (act. 485). Die Anordnung einer sachlich oder funktionell unzuständigen Behörde ist nichtig und kann somit nicht verletzt werden (Urteile 6B_334/2017 und 6B_470/2017 vom 23. Juni 2017 E. 3.2.3 mit Hinweisen; CHRISTOF RIEDO, in Basler Kommentar, Strassenverkehrsgesetz, 2014, N. 105 ff. zu Art. 91a SVG). Die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit gemäss Art. 91a Abs. 1 SVG verletzt Bundesrecht und ist aufzuheben. Es erübrigt sich, auf seine weiteren Rügen einzugehen.
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2. |
Die Beschwerde ist gutzuheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 10. Januar 2017 ist aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Bei diesem Ausgang sind für das bundesgerichtliche Verfahren keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer eine angemessene Entschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Diese ist praxisgemäss seinem Rechtsvertreter auszurichten, womit das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gegenstandslos wird.
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Demnach erkennt das Bundesgericht: |
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 10. Januar 2017 wird aufgehoben die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
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2. Es werden keine Kosten erhoben.
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3. Der Kanton Aargau hat Rechtsanwalt Willy Bolliger für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- zu bezahlen.
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4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 2. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 19. Februar 2018
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Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Denys
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Der Gerichtsschreiber: Matt
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