BGer 1B_262/2018
 
BGer 1B_262/2018 vom 20.06.2018
 
1B_262/2018
 
Urteil vom 20. Juni 2018
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Karlen, Eusebio,
Gerichtsschreiber Forster.
 
Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Franz Hollinger,
gegen
Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau,
Seetalplatz, Bahnhofstrasse 4, 5600 Lenzburg 1,
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau.
Gegenstand
Sicherheitshaft,
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 26. April 2018 (SBK.2018.85).
 
Sachverhalt:
A. Das Bezirksgericht Lenzburg sprach A.________ mit Urteil vom 29. März 2018 des mehrfachen Diebstahls und der mehrfachen Sachbeschädigung (Einbruchdiebstähle, teilweise versucht) schuldig und verurteilte ihn zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 12 Monaten. Zudem widerrief es den bedingten Strafvollzug betreffend zwei Geldstrafen von 180 Tagessätzen à Fr. 30.-- (abzüglich 3 Tage Untersuchungshaft) und 60 Tagessätzen à Fr. 20.-- (abzüglich 1 Tag Untersuchungshaft) gemäss rechtskräftigen Strafbefehlen der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl vom 16. März 2016 bzw. 18. April 2017. Ausserdem verwies es den Beschuldigten (gestützt auf Art. 66a bis StGB) für die Dauer von 10 Jahren des Landes. Er befindet sich seit dem 29. Mai 2017 in strafprozessualer Haft.
B. Das Bezirksgericht Lenzburg beschloss am 29. März 2018 (im Anschluss an die Urteilsverkündung), dass der Beschuldigte zur Sicherung des Strafvollzugs in Haft zu verbleiben habe. Eine von diesem dagegen erhobene Beschwerde hiess das Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, am 26. April 2018 wie folgt teilweise gut:
"In teilweiser Gutheissung der Beschwerde wird festgehalten, dass der Beschwerdeführer zur Sicherung des Strafvollzuges bis am 29. Juni 2018 in Sicherheitshaft bleibt. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen."
C. Gegen den Entscheid des Obergerichtes gelangte der Beschuldigte mit Beschwerde vom 30. Mai 2018 an das Bundesgericht. Er beantragt in der Hauptsache die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und seine sofortige Haftentlassung.
Die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau beantragt mit Schreiben vom 4. Juni 2018 die Abweisung der Beschwerde, während das Obergericht und die kantonale Oberstaatsanwaltschaft auf Stellungnahmen je ausdrücklich verzichtet haben. Der Beschwerdeführer verzichtete am 7. Juni 2018 auf eine Replik.
 
Erwägungen:
1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid über die Fortdauer von Sicherheitshaft (Art. 80 Abs. 1-2 BGG i.V.m. Art. 222 und Art. 231 StPO). Diesbezüglich sind die Sachurteilsvoraussetzungen von Art. 78 ff. BGG erfüllt.
2. Der Beschwerdeführer rügt, die Haftdauer sei unterdessen unverhältnismässig geworden und verletze Art. 212 Abs. 3 StPO. Die vom Bezirksgericht erstinstanzlich ausgesprochene unbedingte Freiheitsstrafe von 12 Monaten habe er unterdessen durch strafprozessuale Haft vollständig erstanden. Zwar habe das Bezirksgericht auch den Widerruf des bedingten Vollzuges von zwei früher ausgefällten Geldstrafen sowie eine Landesverweisung angeordnet. Art. 51 StGB und die einschlägige Praxis des Bundesgerichtes erlaubten jedoch keine "Anrechnung" dieser drohenden Sanktionen auf die bisherige Haftdauer. Er sei daher unverzüglich aus der Sicherheitshaft zu entlassen.
Ausserdem habe die Vorinstanz zwar eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (beim erstinstanzlichen Haftentscheid des Bezirksgerichtes) in ihren Erwägungen festgestellt. Entgegen seinen vorinstanzlichen Anträgen habe sie es jedoch versäumt, die Gehörsverletzung im angefochtenen Verfahrenskostenentscheid (Gerichtsgebühr und Auslagen) mitzuberücksichtigen. Dies sei (selbst bei einer allfälligen Abweisung des Haftentlassungsgesuches) zu korrigieren.
 
3.
3.1. Gemäss Art. 31 Abs. 3 BV und Art. 5 Ziff. 3 EMRK hat eine in strafprozessualer Haft gehaltene Person Anspruch darauf, innerhalb einer angemessenen Frist richterlich abgeurteilt oder während des Strafverfahrens aus der Haft entlassen zu werden. Eine übermässige Haftdauer stellt eine unverhältnismässige Beschränkung dieses Grundrechts dar. Sie liegt dann vor, wenn die Haft die mutmassliche Dauer der zu erwartenden freiheitsentziehenden Sanktion übersteigt (vgl. auch Art. 212 Abs. 3 StPO). Bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit der Haftdauer ist namentlich der Schwere der untersuchten Straftaten Rechnung zu tragen. Der Richter darf die Haft nur so lange erstrecken, als sie nicht in grosse zeitliche Nähe der (im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung) konkret zu erwartenden Dauer der freiheitsentziehenden Sanktion rückt (BGE 143 IV 168 E. 5.1 S. 173; 139 IV 270 E. 3.1 S. 275; 133 I 168 E. 4.1 S. 170; 270 E. 3.4.2 S. 281; je mit Hinweisen). Liegt bereits ein richterlicher Entscheid über das Strafmass vor, stellt dieser ein wichtiges Indiz für die mutmassliche Dauer der tatsächlich zu verbüssenden Strafe dar (BGE 143 IV 160 E. 4.1 S. 165; 168 E. 5.1 S. 173).
Im Weiteren kann eine Haft die bundesrechtskonforme Dauer auch dann überschreiten, wenn das Strafverfahren nicht genügend vorangetrieben wird (vgl. Art. 31 Abs. 3-4 BV und Art. 5 Abs. 2 StPO). Eine Haftentlassung kommt allerdings nur bei besonders schwer wiegenden bzw. häufigen Versäumnissen in Frage, die erkennen lassen, dass die verantwortlichen Behörden nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen Rechnung zu tragen. Die Frage, ob eine Haftdauer als übermässig bezeichnet werden muss, ist aufgrund der konkreten Verhältnisse des einzelnen Falles zu beurteilen (BGE 137 IV 92 E. 3.1 S. 96; 136 I 274 E. 2.3 S. 278; 133 I 168 E. 4.1 S. 170 f.; 270 E. 3.4.2 S. 281; je mit Hinweisen).
Bei Beschwerden, die gestützt auf das Recht der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2, Art. 31 BV) wegen strafprozessualer Haft erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Eingriffes die Auslegung und Anwendung der StPO frei. Art. 98 BGG gelangt bei strafprozessualen Zwangsmassnahmen nicht zur Anwendung (BGE 143 IV 316 E. 3.3 S. 319; 330 E. 2.1 S. 334; je mit Hinweisen). Soweit jedoch reine Sachverhaltsfragen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen (Art. 97 Abs. 1 i.V.m. Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 143 IV 316 E. 3.3 S. 319; 330 E. 2.1 S. 334; je mit Hinweis).
3.2. Als Sicherheitshaft gilt gemäss Art. 220 Abs. 2 StPO die Haft während der Zeit zwischen dem Eingang der Anklageschrift beim erstinstanzlichen Gericht und der Rechtskraft des Urteils, dem Antritt einer Massgeblich für die Verhältnismässigkeit der strafprozessualen Haftdauer ist zwar primär die Länge der konkret zu erwartenden freiheitsentziehenden Sanktion. Auch bei der Landesverweisung handelt es sich jedoch um eine strafrechtliche Massnahme, die in Art. 220 Abs. 2 StPO zudem ausdrücklich erwähnt wird. Deshalb bilden Art. 220 Abs. 2 i.V.m. Art. 231 StPO nach der Praxis des Bundesgerichtes eine hinreichende gesetzliche Grundlage, um eine beschuldigte Person zur Sicherstellung des Vollzugs einer erstinstanzlich ausgesprochenen Landesverweisung in Sicherheitshaft zu versetzen (BGE 143 IV 168 E. 3.2 S. 171 f.). Droht neben einer freiheitsentziehenden Sanktion zusätzlich eine Landesverweisung, darf folglich auch noch ein angemessener behördlicher Zeitbedarf für die Vorbereitung des Vollzuges der Landesverweisung (Art. 66c-d StGB i.V.m. Art. 220 Abs. 2 StPO) bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit der Haftdauer grundsätzlich mitberücksichtigt werden.
Im vorliegenden Fall droht - neben der erstinstanzlich ausgefällten Freiheitsstrafe von 12 Monaten und der Landesverweisung (nach Art. 66a bis StGB) - auch noch der Widerruf von 236 Tagessätzen Geldstrafe, was (im Falle einer Umwandlung in Freiheitsstrafe) zusätzlich ca. 8 Monaten Freiheitsentzug entspräche. Geldstrafen werden (seit der StGB-Revision von 2007) im sogenannten "Tagessatzsystem" ausgefällt. Das Gericht rechnet die strafprozessuale Haft auf die Strafe an. Ein Tag Haft entspricht einem Tagessatz Geldstrafe (Art. 51 StGB). Auf die gegen den Beschwerdeführer rechtskräftig ausgefällten Geldstrafen von insgesamt 240 Tagessätzen wurden ihm insgesamt 4 Tage Untersuchungshaft angerechnet. Folglich liegt es nahe, auch rechtskräftig ausgefällte umwandelbare Geldstrafen bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit der Haft grundsätzlich mitzuberücksichtigen, sofern deren Vollzug und deren Umwandlung in eine Freiheitsstrafe konkret droht.
Im hier zu beurteilenden Fall hat das Bezirksgericht den bedingten Vollzug von 236 Tagessätzen Geldstrafe widerrufen. Vor dem Vollzug der Landesverweisung sind alle unbedingten Strafen oder Strafteile sowie die freiheitsentziehenden Massnahmen zu vollziehen (Art. 66c Abs. 2 StGB). Zwar ist bisher noch keine Umwandlung (nach Art. 36 StGB) von uneinbringlichen Geldstrafen in vollziehbare Freiheitsstrafe erfolgt. Der Beschwerdeführer macht jedoch geltend, er sei mittellos, und die drohenden vollziehbaren Geldstrafen belaufen sich auf insgesamt Fr. 6'490.--, weshalb hier bereits konkrete Anhaltspunkte für eine drohende Umwandlung der Geldstrafen in Freiheitsstrafe bestehen.
3.3. Bei Würdigung sämtlicher Umstände (drohende unbedingte Freiheitsstrafe von 12 Monaten, drohende 10-jährige Landesverweisung und drohende Umwandlung von 236 Tagessätzen Geldstrafe in Freiheitsstrafe) bestand im Zeitpunkt des angefochtenen Haftentscheides noch keine Überhaft im Sinne der dargelegten Praxis. Eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes in Haftsachen wirft der Beschwerdeführer den kantonalen Instanzen nicht vor und wäre auch nicht ersichtlich.
4. Der Beschwerdeführer rügt schliesslich noch, die Vorinstanz habe es versäumt, die von ihr festgestellte Gehörsverletzung (bei der Haftfortsetzung durch das Bezirksgericht) in ihrem Kostenentscheid mitzuberücksichtigen.
Eine Verletzung von haftrechtlichen Verfahrensbestimmungen (etwa des Beschleunigungsgebotes in Haftsachen) sollte in der Regel im Dispositiv des Urteils festgestellt werden. Auch ist ihr bei der Auferlegung von Verfahrenskosten angemessen Rechnung zu tragen (vgl. BGE 137 IV 92 E. 3.2.3 S. 98; 136 I 274 E. 2.3 S. 278; 133 I 168 E. 4.1 S. 170 f.; 270 E. 3.4.2 S. 281). Im vorliegenden Fall hat die Vorinstanz die Beschwerde teilweise gutgeheissen. In ihren Erwägungen hat sie eine (im vorinstanzlichen Beschwerdeverfahren "heilbare") Verletzung des rechtlichen Gehörs festgestellt (angefochtener Entscheid, E. 5.3 S. 7). Ausserdem hat sie eine Befristung der Sicherheitshaft (vorläufig bis am 29. Juni 2018) angeordnet (E. 7.1 S. 8; Dispositiv Ziff. 1). Im Kostendispositiv des angefochtenen Entscheides werden dem Beschwerdeführer dennoch sämtliche vorinstanzlichen Verfahrenskosten auferlegt (bestehend aus einer Gerichtsgebühr von Fr. 1'000.-- zuzüglich Auslagen von Fr. 51.--). Der Beschwerdeführer beantragt nicht, die Feststellung der Gehörsverletzung müsse auch noch förmlich in das Dispositiv des angefochtenen Entscheides aufgenommen werden. Er rügt jedoch, dass die Vorinstanz der Gehörsverletzung bei der Regelung der Verfahrenskosten überhaupt keine Rechnung getragen habe, und er beantragt eine angemessene Reduktion der ihm aufzuerlegenden Kosten. Entsprechende Rechtsbegehren hatte er schon im vorinstanzlichen Verfahren gestellt.
Die Rüge erweist sich als begründet, und dem Rechtsbegehren ist stattzugeben. Die Beschwerde ist insoweit teilweise gutzuheissen, und Ziffer 2 des Dispositives des angefochtenen Entscheides in der Weise zu ändern, dass die dem Beschwerdeführer aufzuerlegenden vorinstanzlichen Verfahrenskosten auf insgesamt Fr. 551.-- (hälftige Gerichtsgebühr von Fr. 500.-- sowie Auslagen von Fr. 51.--) festgelegt werden (Art. 107 Abs. 2 i.V.m. Art. 67 BGG). Eine Rückweisung an die Vorinstanz zur Neufestsetzung der Verfahrenskosten würde in der vorliegenden Konstellation zu einem unnötigen Prozessleerlauf im Haftprüfungsverfahren führen.
5. Die Beschwerde ist im Sinne der vorstehenden Erwägung 4 teilweise gutzuheissen. Das Haftentlassungsgesuch ist abzuweisen.
Der seit längerer Zeit strafprozessual inhaftierte und amtlich verteidigte Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Da die gesetzlichen Voraussetzungen (insbesondere die finanzielle Bedürftigkeit des Gesuchstellers) ausreichend dargetan sind, ist das Gesuch zu bewilligen (Art. 64 BGG). Mit dem Honorar des unentgeltlichen Rechtsvertreters ist auch die partielle Gutheissung der Beschwerde im Entschädigungspunkt abgegolten.
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und Ziffer 2 des Dispositives des angefochtenen Entscheides in der Weise geändert, dass die dem Beschwerdeführer aufzuerlegenden vorinstanzlichen Verfahrenskosten auf insgesamt Fr. 551.-- (hälftige Gerichtsgebühr von Fr. 500.-- sowie Auslagen von Fr. 51.--) festgelegt werden.
2. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
3. Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt:
3.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.2. Rechtsanwalt Franz Hollinger wird als unentgeltlicher Rechtsvertreter ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit einem Honorar von Fr. 1'500.-- (pauschal, inkl. MWST) entschädigt.
4. Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 20. Juni 2018
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Merkli
Der Gerichtsschreiber: Forster