BGer 6B_733/2019 |
BGer 6B_733/2019 vom 15.11.2019 |
6B_733/2019 |
Urteil vom 15. November 2019 |
Strafrechtliche Abteilung |
Besetzung
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Bundesrichter Denys, Präsident,
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Bundesrichter Rüedi,
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Bundesrichterin Jametti,
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Gerichtsschreiberin Pasquini.
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Verfahrensbeteiligte |
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern,
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Beschwerdeführerin,
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gegen
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A.________, vertreten durch Rechtsanwalt Reto Gasser,
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Beschwerdegegner.
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Gegenstand
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Widerruf des bedingten Strafvollzugs,
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Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, 1. Strafkammer, vom 8. April 2019 (SK 18 402-404).
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Sachverhalt: |
A. Das Strafgericht Basel-Landschaft verurteilte A.________ am 1. März 2013 zu einer Freiheitsstrafe von 36 Monaten. Es gewährte ihm den teilbedingten Strafvollzug, wobei es den unbedingten Teil der Strafe auf 12 Monate festsetzte (unter Anrechnung der Untersuchungshaft) und den bedingt aufgeschobenen Strafrest mit einer Probezeit von 2 Jahren verband. A.________ wurde gestattet, den unbedingten Teil im Rahmen von Electronic Monitoring zu vollziehen. Dieser Vollzug fand zwischen dem 24. Juni 2013 und dem 14. Juni 2014 statt.
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B.
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B.a. Von Oktober 2013 bis Oktober 2015 und von Dezember 2016 bis Dezember 2017 delinquierte A.________ erneut (gewerbsmässiger Betrug im Umfang von über Fr. 1.2 Mio. bzw. von über Fr. 250'000.--). Am 23. November 2017 eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen ihn und verhaftete ihn am 12. Dezember 2017. Die Anklage wurde am 25. April 2018 erhoben.
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B.b. Das Kantonale Wirtschaftsstrafgericht sprach A.________ am 9. August 2018 des gewerbsmässigen Betrugs, mehrfach begangen zwischen Oktober 2013 und Oktober 2015 sowie zwischen Dezember 2016 und Dezember 2018, der Urkundenfälschung, begangen am 5. September 2013, sowie der Fälschung von Ausweisen, mehrfach begangen ca. im Februar 2015 und März 2016, schuldig. Es verurteilte ihn zu einer (Gesamt-) Freiheitsstrafe von 5 ½ Jahren, unter Anrechnung der Untersuchungshaft. Zudem widerrief es den mit Urteil des Strafgerichts Basel-Landschaft vom 1. März 2013 für eine Freiheitsstrafe von 24 Monaten gewährten bedingten Vollzug, während es den mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Emmental-Oberaargau vom 17. November 2015 für eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen gewährten bedingten Vollzug nicht widerrief.
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Mit Urteil vom 8. April 2019 stellte das Obergericht des Kantons Bern unter anderem fest, dass die erstinstanzlichen Schuldsprüche wegen gewerbsmässigen Betrugs und Fälschung von Ausweisen, jeweils mehrfach begangen, in Rechtskraft erwachsen sind. Das Verfahren betreffend Widerruf der A.________ mit Urteil des Strafgerichts Basel-Landschaft vom 1. März 2013 für eine Freiheitsstrafe von 24 Monaten gewährten bedingten Vollzug stellte das Obergericht ein. Es widerrief den ihm mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Emmental-Oberaargau vom 17. November 2015 für eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu Fr. 150.-- gewährten bedingten Vollzug. Sodann erklärte es A.________ der Urkundenfälschung schuldig und bestrafte ihn mit einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren, unter Anrechnung der Untersuchungshaft.
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C. Die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern gelangt mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Sie beantragt, das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern vom 8. April 2019 betreffend die Einstellung des Verfahrens bezüglich Widerruf des mit Urteil des Strafgerichts Basel-Landschaft vom 1. März 2013 für eine Freiheitsstrafe von 24 Monaten gewährten bedingten Vollzug sei aufzuheben. Der bedingte Strafvollzug gemäss Urteil des Strafgerichts Basel-Landschaft vom 1. März 2013 (24 Monate Freiheitsstrafe) sei zu widerrufen und A.________ sei zu einer Gesamtstrafe von 76 Monaten zu verurteilen. Eventualiter sei das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern vom 8. April 2019 betreffend die Einstellung des Verfahrens bezüglich Widerruf des mit Urteil des Strafgerichts Basel-Landschaft vom 1. März 2013 für eine Freiheitsstrafe von 24 Monaten gewährten bedingten Vollzug aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zur neuen Entscheidung zurückzuweisen.
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Das Obergericht des Kantons Bern verzichtet auf eine Stellungnahme. A.________ beantragt die Abweisung der Beschwerde. Er stellt zudem ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege.
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Erwägungen: |
1.
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1.1. Die Beschwerdeführerin rügt, indem die Vorinstanz von einem Widerruf absehe, weil sie annehme, die drei Jahre gemäss Art. 46 Abs. 5 StGB seien bereits abgelaufen, verletze sie Bundesrecht. Der Widerruf des bedingten Vollzugs der Freiheitsstrafe sei immer noch möglich. Analog Art. 97 Abs. 3 StGB bei der Verjährung hemme das Urteil der ersten Instanz auch den Fristenlauf gemäss Art. 46 Abs. 5 StGB. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz sei von einer echten Gesetzeslücke auszugehen, da sich im Gesetz keine Regelung finde, wann die Widerrufsfrist ende. Dies stelle kein qualifiziertes Schweigen, sondern eine unbeabsichtigte Lücke dar, die es mittels Auslegung zu füllen gelte. Nach dem Willen des Gesetzgebers würden bei der Frist für den Widerruf die gleichen Grundsätze gelten wie bei der Verjährung, d.h., dass derjenige, der ein Rechtsmittel ergreife, nicht bevorzugt werden solle. Eine Folge, welche der Gesetzgeber mit der Revision im Jahre 2007 resp. der vorgezogenen Revision im Jahr 2002 ausdrücklich habe beheben wollen. Es entspreche sowohl der historischen wie auch der systematischen Auslegung, die Änderung des Fristenlaufs nicht nur bei der Verjährung, sondern auch bei der Widerrufsfrist anzuwenden. Ein weiterer Hinweis dafür, dass der Gesetzgeber die Gesetzesänderung bei der Verjährung auch auf die Widerrufsfrist habe anwenden wollen, sei, dass mit der Revision die Widerrufsfrist von fünf auf drei Jahre reduziert worden sei. Diese Kürzung entspreche dem gleichen Faktor (1.5) wie bei den Verjährungsfristen, bei welchen gleichzeitig mit der Kürzung festgesetzt worden sei, dass das erstinstanzliche Urteil fristwahrend sei. Es wäre nicht nachvollziehbar, dass der Gesetzgeber die Grundsätze, die bei der Verjährung gelten, für den Widerruf habe ausschliessen wollen. Der Gesetzgeber habe nicht beabsichtigt, mit einer für die Praxis unrealistisch kurzen Frist (bis zum allfälligen zweitinstanzlichen Urteil) den Widerruf de facto abzuschaffen. Bei aufwändigeren Verfahren, wie dem vorliegenden, könne die beschuldigte Person sonst durch die Einlegung eines Rechtsmittels einen Widerruf verhindern. Ein bedingt gewährter Strafvollzug würde so seines Sinnes entleert. Der Anreiz, sich während der Probezeit zu bewähren, würde entfallen. Nach dem Willen des Gesetzgebers solle die Ergreifung eines Rechtsmittels der Überprüfung des Inhalts eines Urteils und nicht dem Eintritt der Verjährung oder der Verhinderung eines Widerrufs dienen. Der Gesetzgeber habe einen solchen Missbrauch mit der Revision explizit verhindern wollen (Beschwerde S. 3 ff.).
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1.2. Die Vorinstanz erwägt, ob die Probezeit erst nach Ende des Vollzugs mittels Electronic Monitoring zu laufen beginne, könne vorliegend offen bleiben. Es sei nicht zu verkennen, dass die fehlende Unterbrechung der Frist gemäss Art. 46 Abs. 5 StGB durch ein erstinstanzliches Urteil in Einzelfällen dazu führen könne, dass ein Widerruf aufgrund der Komplexität und der damit verbundenen Dauer eines Verfahrens verunmöglicht werde. Dass die Verfolgungsverjährung durch das erstinstanzliche Urteil unterbrochen werde, sei explizit in Art. 97 Abs. 3 StGB geregelt. Der Gesetzgeber habe Art. 46 StGB im Wissen um diese Regelung der Verfolgungsverjährung revidiert und auf eine explizite analoge Regelung für das Widerrufsverfahren verzichtet bzw. den Umstand der unterschiedlichen Fristberechnung bewusst in Kauf genommen. Dafür, dass diese Bestimmung nicht verschärft werden sollte, spreche auch, dass die früher gültige Frist von fünf Jahren ab Ablauf der Probezeit mit der Revision von 2007 auf drei Jahre reduziert worden sei. Hätte der Gesetzgeber eine analoge (verschärfte) Regelung im Widerrufsverfahren gewollt, hätte er entsprechend zu legiferieren gehabt. Von einer Gesetzeslücke könne jedenfalls keine Rede sein. Selbst wenn sich das Bundesgericht nicht vertieft mit dieser Frage bzw. den von der Beschwerdeführerin erwähnten Konsequenzen auseinandergesetzt habe, habe es doch explizit festgehalten, dass für die Einhaltung der Frist von Art. 46 Abs. 5 StGB das Urteil der Berufungsinstanz - welches das erstinstanzliche Urteil auch betreffend Widerruf ersetze - massgeblich sei (BGE 143 IV 441 E. 2.2). Insbesondere auch mit Blick auf das Gesetzmässigkeitsprinzip bestehe kein Anlass, von dieser plausiblen Rechtsprechung abzuweichen. Zusammenfassend sei festzuhalten, dass der Widerruf des bedingt ausgesprochenen Anteils der Freiheitsstrafe von 24 Monaten gemäss Urteil des Strafgerichts Basel-Landschaft vom 1. März 2013 in Anwendung von Art. 46 Abs. 5 StGB nicht mehr möglich sei (Urteil S. 19 ff. E. 19).
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1.3. |
1.3.1. Begeht der Verurteilte während der Probezeit ein Verbrechen oder Vergehen und ist deshalb zu erwarten, dass er weitere Straftaten verüben wird, so widerruft das Gericht die bedingte Strafe oder den bedingten Teil der Strafe (Art. 46 Abs. 1 1 Satz StGB). Nach Art. 46 Abs. 5 StGB darf der Widerruf nicht mehr angeordnet werden, wenn seit dem Ablauf der Probezeit drei Jahre vergangen sind.
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Die Probezeit beginnt mit der Eröffnung des Urteils zu laufen, das vollstreckbar wird. Wird der erstinstanzliche Entscheid, der den Verurteilten unter Bewährungsprobe stellt, an eine obere Instanz weitergezogen, läuft die Probezeit von der Eröffnung desjenigen Urteils an, das nach Abschluss des Verfahrens zur Vollstreckung kommt. Massgebend ist demnach, ob im Falle der Abweisung des Rechtsmittels der angefochtene Entscheid bestehen bleibt und vollstreckbar wird oder ob an seine Stelle das oberinstanzliche Urteil tritt (Urteil 6B_934/2015 vom 5. April 2016 E. 5.3.2 mit Hinweisen). Bei teilbedingten Strafen verlängert sich die Probezeit um die Dauer des Vollzugs des unbedingt zu vollziehenden Teils der Strafe. Entsprechend beginnt die Frist zur Anordnung eines Widerrufs nach Art. 46 Abs. 5 StGB später zu laufen (BGE 143 IV 441 E. 2.3 f. S. 444).
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1.3.2. Massgebend für die Einhaltung der Frist nach Art. 46 Abs. 5 StGB ist das Urteil der Berufungsinstanz, soweit es das erstinstanzliche Urteil auch betreffend den Widerruf ersetzt (vgl. BGE 143 IV 441 E. 2.2 mit Hinweis; Urteil 6B_114/2013 vom 1. Juli 2013 E. 7).
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1.4. Die Beschwerde erweist sich als unbegründet. Die Vorinstanz stützt sich zu Recht auf BGE 143 IV 441. Entgegen der Meinung der Beschwerdeführerin besteht kein Anlass, auf diese Rechtsprechung zurückzukommen. Art. 97 Abs. 3 StGB sieht ausdrücklich vor, dass die Verfolgungsverjährung durch das erstinstanzliche Urteil unterbrochen wird. Da der Gesetzgeber in Kenntnis dieser Regelung Art. 46 StGB revidiert hat, ohne dabei explizit ebenfalls eine solche Anordnung für die Widerrufsfrist festzusetzen, ist von einem qualifizierten Schweigen auszugehen. Für die (Widerrufs-) Frist nach Art. 46 Abs. 5 StGB ist das Urteil der Berufungsinstanz massgebend, welches den erstinstanzlichen Entscheid auch betreffend den Widerruf ersetzt. Die Vorinstanz gelangt zutreffend zum Schluss, dass der Widerruf des bedingten Teils der Freiheitsstrafe von 24 Monaten gemäss dem Urteil vom 1. März 2013 (Probezeit von zwei Jahren) zum Zeitpunkt des vorinstanzlichen Urteils, dem 8. April 2019, nicht mehr möglich ist. Mithin muss vorliegend nicht vertieft werden, ob die vorerwähnte Rechtsprechung, d.h. die Verlängerung der Probezeit bei teilbedingten Strafen, auch den Fall der Verbüssung der Strafe durch Electronic Monitoring (hier vom 24. Juni 2013 bis 14. Juni 2014) erfasst.
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2. Die Beschwerde ist abzuweisen. Der unterliegenden Beschwerdeführerin sind keine Kosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Beschwerdegegner gilt mit seinem Antrag auf Abweisung der Beschwerde als obsiegende Partei, weshalb er vom Kanton Bern für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen ist (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Da er um unentgeltliche Rechtspflege ersucht, ist die Parteientschädigung praxisgemäss seinem Rechtsbeistand auszurichten. Das Gesuch des Beschwerdegegners um unentgeltliche Rechtspflege wird damit gegenstandslos.
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Demnach erkennt das Bundesgericht: |
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
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2. Es werden keine Kosten erhoben.
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3. Der Kanton Bern hat Rechtsanwalt Reto Gasser für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen.
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4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, 1. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 15. November 2019
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Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Denys
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Die Gerichtsschreiberin: Pasquini
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