BGer 6B_452/2019
 
BGer 6B_452/2019 vom 16.12.2019
 
6B_452/2019
 
Urteil vom 16. Dezember 2019
 
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Rüedi,
Gerichtsschreiber Weber.
 
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Stefan Blum,
Beschwerdeführerin,
gegen
1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich,
2. B.________,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Mehrfache sexuelle Handlungen mit Kindern,
mehrfacher Inzest; Willkür,
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Strafkammer, vom 23. Januar 2019 (SB180029-O/U/ad).
 
Sachverhalt:
A. Das Bezirksgericht Zürich sprach B.________ am 7. September 2017 der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern, des mehrfachen Inzests sowie der mehrfachen einfachen Körperverletzung schuldig. Es verurteilte ihn unter Anrechnung der Untersuchungshaft von 77 Tagen zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 4 Monaten und verpflichtete ihn u.a., A.________ Fr. 15'000.-- zzgl. Zins als Genugtuung zu bezahlen.
Auf Berufung von B.________ hin sprach ihn das Obergericht des Kantons Zürich am 23. Januar 2019 frei und wies die Genugtuungsforderung von A.________ ab.
B. A.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an dieses zurückzuweisen. Sie ersucht um unentgeltliche Rechtspflege.
 
Erwägungen:
1. Die Beschwerdeführerin machte vor erster Instanz erfolgreich eine Genugtuungsforderung gegen den Beschwerdegegner geltend. Angesichts der Teilnahme am vorinstanzlichen Verfahren sowie der vorinstanzlichen Abweisung ihrer Genugtuungsforderung ist die Beschwerdeführerin im Sinne von Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde in Strafsachen berechtigt.
 
2.
2.1. Da die Beschwerde an das Bundesgericht ein reformatorisches Rechtsmittel ist (Art. 107 Abs. 2 BGG), muss auch das Rechtsbegehren grundsätzlich reformatorisch gestellt werden; ein blosser Antrag auf Rückweisung ist nicht zulässig, ausser wenn das Bundesgericht ohnehin nicht reformatorisch entscheiden könnte (BGE 136 V 131 E. 1.2 S. 135; 134 III 379 E. 1.3 S. 383). Weil die Beschwerdebegründung zur Interpretation des Rechtsbegehrens beigezogen werden kann, genügt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ein Begehren ohne einen Antrag in der Sache dann, wenn sich aus der Begründung zweifelsfrei ergibt, was mit der Beschwerde angestrebt wird (BGE 137 II 313 E. 1.3; 136 V 131 E. 1.2 S. 136).
2.2. Die Beschwerdeführerin beantragt eine Neubeurteilung durch die Vorinstanz ohne ausdrücklichen Antrag in der Sache. Dass das Bundesgericht im Falle der Gutheissung der Beschwerde nicht selbst in der Lage wäre, ein Sachurteil zu fällen, macht sie nicht geltend. Der Beschwerdebegründung lässt sich indessen entnehmen, dass sie eine Verurteilung des Beschwerdegegners wegen sexueller Handlungen zu ihrem Nachteil sowie dessen Verpflichtung zur Bezahlung einer Genugtuung anstrebt. Ihr Rechtsbegehren ist in diesem Sinne zu interpretieren.
 
3.
3.1. Die Beschwerdeführerin rügt eine willkürliche Beweiswürdigung. Die Vorinstanz gehe weder von der Nullhypothese aus noch setze sie sich rechtsgenüglich mit den Realkennzeichen auseinander. Die Vorinstanz unterlasse es auch, auf die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Aussagen der Beschwerdeführerin sowie auf deren Kompetenz, insbesondere auf ihre intellektuelle Leistungs- und sprachliche Ausdrucksfähigkeit sowie auf ihre Motivlage einzugehen. Sie beschäftige sich praktisch ausschliesslich mit den Widersprüchen in den Aussagen der Beschwerdeführerin.
3.2. Die Vorinstanz erwägt im Wesentlichen, die Aussagen der Beschwerdeführerin enthielten massgebliche Widersprüche, insbesondere zum Kerngeschehen (vgl. angefochtenes Urteil, E. III. B. 6. S. 25 ff.). Die inhaltlich widersprüchlichen Aussagen zeichneten sich ausserdem durch oft sehr vage, detailarme und ausweichende Antworten aus und enthielten Lügensignale in beträchtlichem Ausmass. Der Inhalt ihrer Aussagen stimme insgesamt und namentlich zum Kerngeschehen nicht mit wesentlichen objektiven Beweisergebnissen überein und müsse als insgesamt unglaubhaft beurteilt werden. Der unauflösbare Widerspruch zwischen ihren Aussagen und dem Ergebnis der Beweiswürdigung in zentralen Punkten des Anklagesachverhaltes, wie dem von der Beschwerdeführerin bestrittenen Geschlechtsverkehr mit ihrem Freund, der verschwiegenen Einnahme der "Pille danach" am 28. Dezember 2015, den unglaubhaften Aussagen zu Beginn, Ende und Art der Geschlechtsakte sowie weiteren sexuellen Handlungen, insbesondere auch mit den glaubhaft bestätigten Erektionsstörungen des Beschwerdegegners und schliesslich das allgemeine Aussageverhalten der Beschwerdeführerin liessen unüberwindbare Zweifel daran bestehen, dass sich der Anklagesachverhalt abgespielt habe. Der Beschwerdegegner sei nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" vom Vorwurf der sexuellen Handlungen zum Nachteil der Beschwerdeführerin freizusprechen (angefochtenes Urteil, E. III. B. 6.12 S. 58 f.).
3.3. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG; vgl. auch Art. 105 Abs. 2 BGG). Offensichtlich unrichtig im Sinne von Art. 97 Abs. 1 BGG ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn sie willkürlich ist (BGE 143 IV 500 E. 1.1.; 143 IV 241 E. 2.3.1; je mit Hinweisen). Willkür liegt nach ständiger Rechtsprechung nur vor, wenn die vorinstanzliche Beweiswürdigung schlechterdings unhaltbar ist, d.h. wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen oder auf einem offenkundigen Fehler beruhen. Dass eine andere Lösung ebenfalls möglich erscheint, genügt nicht (BGE 143 IV 241 E. 2.3.1 mit Hinweisen). Erforderlich ist, dass der Entscheid nicht nur in der Begründung, sondern auch im Ergebnis willkürlich ist (BGE 141 IV 305 E. 1.2 mit Hinweisen). Die Willkürrüge muss explizit vorgebracht und substanziiert begründet werden (Art. 106 Abs. 2 BGG). Demnach ist anhand der Erwägungen des angefochtenen Entscheids klar und detailliert aufzuzeigen, inwiefern die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung willkürlich sein soll (BGE 141 IV 369 E. 6.3). Auf ungenügend begründete Rügen oder allgemeine appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 144 V 50 E. 4.2; 143 IV 500 E. 1.1; 143 IV 347 E. 4.4; je mit Hinweisen).
3.4. Die Vorinstanz befasst sich auf rund 25 Seiten des angefochtenen Urteils eingehend und nachvollziehbar mit den Aussagen der Beschwerdeführerin. Dabei legt sie zahlreiche Widersprüche dar. Diese betreffen etwa die Zeitpunkte, Anzahl, Häufigkeit und Art der dem Beschwerdegegner von der Beschwerdeführerin vorgeworfenen sexuellen Handlungen, den Grund für die Einnahme einer "Pille danach" und die Frage, ob der Freund der Beschwerdeführerin Geschlechtsverkehr mit ihr hatte. Dass die Vorinstanz u.a. aufgrund der dargelegten Widersprüche die Aussagen der Beschwerdeführerin, namentlich zum Kerngeschehen, als nicht mit wesentlichen objektiven Beweisergebnissen übereinstimmend und als insgesamt unglaubhaft beurteilt, ist zumindest nicht unhaltbar.
Die Beschwerdeführerin setzt sich mit den umfangreichen Erwägungen der Vorinstanz nicht auseinander, sondern beschränkt sich darauf, deren Vorgehensweise bei der Sachverhaltsfeststellung oder Beweiswürdigung zu kritisieren. Damit zeigt die Beschwerdeführerin keine Willkür auf. Insbesondere aus einer fehlenden ausdrücklichen Anwendung der Methode der Nullhypothese resultiert nicht per se Willkür. Nach dieser Methode wird zunächst davon ausgegangen, dass die Aussagen der Beschwerdeführerin gerade nicht realitätsbegründet sind, und erst wenn sich diese Annahme (Nullhypothese) aufgrund der festgestellten Realitätskriterien nicht mehr halten lässt, wird geschlossen, dass die Aussagen einem wirklichen Erleben entsprechen und wahr sind (vgl. BGE 133 I 33 E. 4.3 S. 45 f.; 129 I 49 E. 5 S. 58 f.; 128 I 81 E. 2 S. 85 f.; je mit Hinweisen). Weder belegt die Beschwerdeführerin noch ist vorliegend ersichtlich, weshalb sich bei einem expliziten entsprechenden Vorgehen andere als die dargelegten Schlussfolgerungen der Vorinstanz geradezu aufgedrängt hätten, das angefochtene Urteil mithin im Ergebnis willkürlich sei soll.
Entgegen der Kritik der Beschwerdeführerin prüft die Vorinstanz alsdann Realitätskriterien. Das Fehlen objektiver Anhaltspunkte, welche auf die Wahrheit der beschwerdeführerischen Vorwürfe deuten liessen, begründet sie etwa damit, dass der Beschwerdegegner aus gesundheitlichen Gründen keine vollständige Erektion mehr habe zustande bringen und keinen Samenerguss mehr habe haben können. Dies stehe in diametralem Gegensatz zu den Aussagen der Beschwerdeführerin (vgl. angefochtenes Urteil E. 6.9 S. 51 f.). An anderer Stelle weist die Vorinstanz beispielsweise darauf hin, auch die Schwester der Beschwerdeführerin habe ausdrücklich bestätigt, zum Zeitpunkt, als die Mutter einen Jungfrauentest von der Beschwerdeführerin gefordert habe, habe überhaupt kein Verdacht bestanden, dass der Beschwerdegegner die Vorwürfe begangen haben könnte. Die Schwester verneine, je sexuelle Handlungen des Beschwerdegegners mit der Beschwerdeführerin gesehen zu haben. Ihr Bruder führe sodann aus, der Beschwerdegegner sei immer gut zu der Beschwerdeführerin gewesen (vgl. angefochtenes Urteil E. 6.11 S. 56). Auch zu diesen Erwägungen äussert sich die Beschwerdeführerin mit keinem Wort.
Insgesamt zeigt die Beschwerdeführerin nicht auf, dass die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung offensichtlich unrichtig sind. Die Vorinstanz durfte folglich aufgrund ihrer Beweiswürdigung den Vorwurf sexueller Handlungen zum Nachteil der Beschwerdeführerin im Zweifel als nicht erstellt erachten und den Beschwerdegegner gestützt auf den Grundsatz "in dubio pro reo" freisprechen, ohne dabei in Willkür zu verfallen.
4. Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Die Gerichtskosten sind ausgangsgemäss der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist in Anwendung von Art. 64 BGG wegen Aussichtslosigkeit abzuweisen. Daran ändert entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin auch der in den Akten liegende Minderheitsantrag der Co-Referentin des angefochtenen Urteils (kant. Akten, act. 266A) nichts. Die Beschwerdeführerin verkennt unter Angabe einer nicht einschlägigen Literaturstelle, dass die Vorinstanz bei ihrer Beweiswürdigung über einen Ermessensspielraum verfügt. Der Umstand, dass das angefochtene Urteil offenbar nicht einstimmig erging, kann für die Beurteilung der Erfolgsaussichten vor Bundesgericht nicht ausschlaggebend sein, wenn die Beschwerdeführerin nicht aufzuzeigen vermag, weshalb dieses offensichtlich unhaltbar sei. Offen gelassen werden kann bei diesem Ergebnis im Übrigen, ob die Vorgehensweise der Vorinstanz betreffend die Minderheitsmeinung mit Bundesrecht im Einklang steht.
Der finanziellen Lage der Beschwerdeführerin ist mit reduzierten Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG).
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird.
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
3. Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 16. Dezember 2019
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Denys
Der Gerichtsschreiber: Weber