BGE 99 Ia 35
 
6. Auszug aus dem Urteil vom 24. Januar 1973 i.S. Genossenschaft Hausbesitzer-Verein Basel gegen den Grossen Rat des Kantons Basel-Stadt.
 
Regeste
Art. 22 ter BV; Eigentumsgarantie; Interessenabwägung, Verhältnismässigkeit.
 
Sachverhalt


BGE 99 Ia 35 (36):

A.- Im Hinblick auf die Wohnungsnot und zur Erhaltung preisgünstiger Wohnungen erliess der Grosse Rat des Kantons Basel-Stadt am 25. April 1968 ein Gesetz über den Abbruch von Wohnhäusern (Abbruchgesetz; Basler Gesetzessammlung Bd. 48/1966-1968, S. 890 ff.). Dieses Gesetz enthielt unter anderem folgende Bestimmungen:
§ 1:
"Der vollständige oder teilweise Abbruch von Häusern, die vorwiegend Wohnzwecken dienen, bedarf der Bewilligung."
§ 2:
"Eine Bewilligung zum Abbruch von Wohnungen ist zu erteilen:
a) wenn der Abbruch von der Baupolizei aus Sicherheitsgründen verfügt wird;
b) wenn Wohnungen vom Gesundheitsamt aus hygienischen Gründen abgesprochen sind;
c) wenn der Abbruch zur Durchführung einer rechtsgültigen Korrektion oder zur Verwirklichung eines Gebäudes oder einer Anlage zu öffentlichen Zwecken erforderlich ist;
d) wenn es sich um einen Abbruch des als Eigenheim bewohnten Einfamilienhauses handelt;
e) wenn der Eigentümer oder Käufer nachweist, dass er auf dem Grundstück Räumlichkeiten seines Handels-, Fabrikations- oder eines anderen von ihm geführten Betriebes errichten will."
§ 3:
"Eine Bewilligung kann erteilt werden, wenn die Umstände es rechtfertigen, insbesondere:
a) wenn durch Errichtung eines Neubaus wesentlich mehr Wohnraum vorwiegend für Familien oder für Alterswohnungen entsteht; b) wenn die Mehrzahl der Wohnungen eines abzubrechenden Hauses zufolge ihrer räumlichen oder hygienischen Beschaffenheit auch bescheidenen Ansprüchen nicht mehr zu genügen vermag;
c) wenn die notwendige Renovation unzumutbare Kosten verursachen würde;
d) wenn sich ein Abbruch aus städtebaulichen Gründen aufdrängt;
e) wenn es sich um den Abbruch eines vermieteten Einfamilienhauses handelt."
§ 10:
"Dieses Gesetz gilt für die Dauer von drei Jahren."
Am 11. November 1971 beschloss der Grosse Rat, § 10 des Abbruchgesetzes zu streichen. Gegen diesen Beschluss wurde das Referendum ergriffen. Das Volk stimmte der Vorlage jedoch in der Abstimmung vom 23. April 1972 mit 24 394 gegen 10 492

BGE 99 Ia 35 (37):

gültigen Stimmen zu. Das Abstimmungsergebnis wurde im Kantonsblatt Basel-Stadt vom 26. April 1972 veröffentlicht.
B.- Die Genossenschaft Hausbesitzer-Verein Basel, die laut Art. 2 ihrer Statuten die Interessen ihrer Mitglieder unter anderem durch Einflussnahme auf die Gesetzgebung zu wahren hat, führt gegen das erwähnte Gesetz über die Abänderung des Abbruchgesetzes vom 11. November 1971 staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 22 ter mit dem Antrag, den angefochtenen Erlass aufzuheben.
C.- Das Büro des Grossen Rates, vertreten durch das Justizdepartement des Kantons Basel-Stadt, beantragt, die Beschwerde abzuweisen. Die Begründung dieses Antrages ergibt sich, soweit wesentlich, aus den nachfolgenden Erwägungen.
 
Aus den Erwägungen:
3. Art. 22 ter Abs. 2 BV ermächtigt die Kantone, auf dem Wege der Gesetzgebung im öffentlichen Interesse liegende Eigentumsbeschränkungen vorzusehen und auf diese Weise im Rahmen ihrer verfassungsmässigen Befugnisse den Inhalt des Eigentums näher zu umschreiben. Vor der Institutsgarantie halten jedoch nur solche Eingriffe stand, die den Wesenskern des Privateigentums als fundamentale Einrichtung der schweizerischen Rechtsordnung unangetastet lassen (BGE 96 I 558 ff. mit Hinweisen auf Rechtsprechung und Lehre). Der kantonale Gesetzgeber hat demnach von Bundesverfassungs wegen darauf zu achten, dass die sich aus dem Eigentum ergebenden privaten Verfügungs- und Nutzungsrechte im wesentlichen erhalten bleiben. Wie sich aus Art. 22 ter Abs. 2 BV ergibt, sind öffentlichrechtliche und aufgesetzlicher Grundlage beruhende Eigentumsbeschränkungen sodann mit der Bestandesgarantie nur vereinbar, wenn dafür ein erhebliches öffentliches Interesse besteht und der Eingriff nicht weiter geht, als es dieses öffentliche Interesse gebietet (Grundsatz der Verhältnismässigkeit). Kommen sie einer Enteignung gleich, so hat der betroffene Eigentümer nach Massgabe von Art. 22 ter Abs. 3 BV Anspruch auf volle Entschädigung (BGE 98 Ia 376 Erw. 4 mit Verweisungen). Aus Art. 22 ter Abs. 2 BV folgt weiter, dass die Kantonsverfassungen allenfalls einen weitergehenden Schutz des Eigentums vorsehen können, den der kantonale Gesetzgeber im Rahmen seiner bundesrechtlichen Befugnisse zum Erlass von Eigentumsbeschränkungen zu beachten hat. § 5 der baselstädtischen

BGE 99 Ia 35 (38):

Kantonsverfassung sichert das Eigentum vor willkürlicher Verletzung. Da diese kantonale Gewährleistung somit jedenfalls nicht weiter reicht als die bundesrechtliche Eigentumsgarantie, kann sie im folgenden ausser Betracht bleiben.
Die Beschwerdeführerin rügt, ein dauerndes, d.h. zeitlich unbefristetes Abbruchverbot, wie es mit dem angefochtenen Gesetz erlassen worden sei, verstosse gegen die bundesrechtliche Gewährleistung des Eigentums in ihrer Erscheinungsform als Bestandesgarantie. Sie macht geltend, für einen solchen Eingriff bestehe kein hinreichendes öffentliches Interesse, anerkennt aber ausdrücklich, dass ein befristetes Abbruchverbot für Wohnhäuser in städtischen Gebieten mit ausgeprägter Wohnungsnot nicht gegen die Eigentumsgarantie verstösst und schliesst sich damit den vom Bundesgericht im Urteil 89 I 462 sowie in zwei neueren, unveröffentlichten Entscheiden (vom 6. Oktober 1971 i.S. Société immobilière Toepffer-Galland, Erw. 3 und i.S. Société immobilière Rue de l'Ecole de Médecine, Erw. 2b) angestellten Erwägungen an.
a) Ob an einer Eigentumsbeschränkung ein erhebliches öffentliches Interesse besteht, das im Vergleich mit den ihm entgegenstehenden privaten Interessen überwiegt, und ob der fragliche Eingriff nicht weiter geht, als es dieses öffentliche Interesse erfordert, prüft das Bundesgericht grundsätzlich frei. Dabei übt es jedoch Zurückhaltung, soweit die Beurteilung von einer Würdigung der örtlichen Verhältnisse abhängt, welche die kantonalen Behörden besser kennen und überblicken als das Bundesgericht, und soweit sich ausgesprochene Ermessensfragen stellen (BGE 98 Ia 376 Erw. 4 mit Verweisungen). Diese Zurückhaltung rechtfertigt sich insbesondere bei der Beurteilung von Beschwerden gegen generell-abstrakte Anordnungen des kantonalen Gesetzgebers, die - wie im vorliegenden Fall - vorwiegend aus wirtschafts- und sozialpolitischen Gründen getroffen worden sind. Ob an der angefochtenen Eigentumsbeschränkung ein hinreichendes öffentliches Interesse besteht, hängt in besonderem Masse von einer Würdigung der im Kanton Basel-Stadt vorhandenen wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten und Bedürfnisse ab. Dabei hat der kantonale Gesetzgeber nicht nur von den zur Zeit des umstrittenen Erlasses bestehenden tatsächlichen Verhältnissen auszugehen, sondern er ist im Rahmen der ihm zukommenden politischen Aufgaben berechtigt und verpflichtet, aufgrund einer vernünftigen Prognose insbesondere

BGE 99 Ia 35 (39):

auch die künftige Entwicklung zu berücksichtigen. Gerade in diesem Bereich ist ihm ein verhältnismässig weiter Ermessensspielraum zuzuerkennen. Ob der Grosse Rat des Kantons Basel-Stadt in diesem Zusammenhang alle wesentlichen Gesichtspunkte in jeder Hinsicht richtig gewürdigt hat, vermag das Bundesgericht demnach nicht umfassend zu beurteilen, zumal es grundsätzlich nicht Sache des Verfassungsrichters sein kann, vom Gesetzgeber getroffene und gegebenenfalls vom Volk gebilligte politische Ermessensentscheidungen zu überprüfen (vgl. P. SALADIN, Grundrechte im Wandel, S. 353 und 398). Bei aller mit Rücksicht auf das gesetzgeberische Gestaltungsermessen gebotenen Zurückhaltung kann das Bestehen eines hinreichenden öffentlichen Interesses an einer Eigentumsbeschränkung der hier in Frage stehenden Art jedoch nur dann bejaht werden, wenn der Gesetzgeber einleuchtende Gründe für sein Vorgehen anzugeben vermag. Dabei sind an die massgebenden Bedürfnisse der Allgemeinheit um so höhere Anforderungen zu stellen, je stärker mit dem fraglichen Gesetz in das Eigentum eingegriffen wird. Ebenso ist in diesem Zusammenhang erheblich, ob bloss eine vorübergehende oder aber eine dauernde Eigentumsbeschränkung in Frage steht.
b) Laut Ingress bezweckt der angefochtene Erlass, die Wohnungsnot zu bekämpfen und der Erhaltung preisgünstiger Wohnungen zu dienen. Er soll demnach einer Entwicklung entgegenwirken, die kurz nach dem zweiten Weltkrieg eingesetzt und insbesondere wegen des stetigen Ansteigens der Baukosten, des wirtschaftlichen Aufschwungs und des damit verbundenen Bevölkerungszuwachses in städtischen Ballungsgebieten zu einer bedrohlichen Verknappung des Angebots an preisgünstigen Wohnungen geführt hat. Dieser Missstand trifft insbesondere die wirtschaftlich weniger leistungsfähigen Bevölkerungskreise. Seit langem ist deshalb die Bereitstellung billigen Wohnraums als Massnahme der sozialen Wohlfahrt und damit als öffentliche Aufgabe anerkannt (vgl. z.B. die entsprechenden gesetzgeberischen Massnahmen auf Bundesebene, namentlich den BB vom 31. Januar 1958 über Massnahmen zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus, AS 1958, S. 419 ff., das BG vom 19. März 1965 über Massnahmen zur Förderung des Wohnungsbaues, AS 1966 S. 433, mit Abänderungen vom 30. März 1970, AS 1970 S. 891 ff.). Das gleiche gilt für den Mieterschutz (vgl. BGE 98 Ia 498 Erw. 4 mit weiteren Hinweisen). Mit Rücksicht darauf wurden

BGE 99 Ia 35 (40):

in den von Volk und Ständen am 5. März 1972 angenommenen Art. 34 sexies und 34 septies BV denn auch ausdrückliche verfassungsrechtliche Grundlagen für entsprechende Vorkehren des Bundesgesetzgebers geschaffen.
Wie das Bundesgericht sowohl unter dem Gesichtswinkel der Willkür (BGE 89 I 462) als auch bei freier Prüfung (unveröffentlichtes Urteil vom 6. Oktober 1971 i.S. S.I. Toepffer-Galland, Erw. 3a) erkannt hat, besteht unter diesen Umständen grundsätzlich ein erhebliches öffentliches Interesse am Erlass eines Abbruchverbots für Wohnhäuser. Wohl können damit - abgesehen von den daraus sich ergebenden Beschränkungen für die Eigentümer solcher Gebäude - verschiedene Unzukömmlichkeiten wirtschaftlicher und sozialer Art verbunden sein, und es mag diese Massnahme auch nicht die wirksamste aller erwägenswerten Vorkehren zur Erhaltung billigen Wohnraumes darstellen. Dennoch kann nicht bestritten werden, dass in ihr ein taugliches Mittel zur Bekämpfung der Wohnungsnot erblickt werden kann. Wie die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten gezeigt hat, handelt es sich bei den Bemühungen um Erhaltung und Bereitstellung preisgünstiger Wohnungen voraussichtlich noch während längerer Zeit um eine vom Gemeinwesen zu erfüllende Aufgabe, zumal sich die Verhältnisse namentlich in städtischen Ballungsgebieten gerade in jüngster Zeit zu Ungunsten der Wohnungssuchenden entwickelt haben und keine Anzeichen für ein in Kürze bevorstehendes Abklingen der Wohnungsnot zu bestehen scheinen. So deutet insbesondere nichts darauf hin, dass die entsprechenden gesetzlichen Massnahmen in anderen Kantonen (z.B. das Genfer Abbruchgesetz vom 17. Oktober 1962 und die dem gleichen Zweck dienenden Dekrete in den Kantonen Waadt und Neuenburg vom 5. Dezember 1962 /19. November 1969 bzw. vom 18. Juni 1963) in absehbarer Zeit ausser Kraft gesetzt werden könnten. Entgegen der von der Beschwerdeführerin vertretenen Auffassung durfte mithin auch der baselstädtische Gesetzgeber davon ausgehen, er erfülle mit dem Erlass eines Abbruchverbots für Wohnhäuser voraussichtlich eine Daueraufgabe des Gemeinwesens, die nach den Umständen eine unbefristete Eigentumsbeschränkung rechtfertige (vgl. den entsprechenden Ratschlag des Regierungsrats vom 18. Mai 1971, S. 9 Ziff. IV). Nach den Akten besteht jedenfalls kein Grund zur Annahme, er habe damit den ihm zustehenden Handlungsspielraum überschritten oder missbraucht.


BGE 99 Ia 35 (41):

Das Bestehen eines erheblichen öffentlichen Interesses an der angefochtenen Eigentumsbeschränkung ist daher zu bejahen.
c) Zu prüfen ist, ob dieses öffentliche Interesse gegenüber den ihm entgegenstehenden privaten Interessen überwiegt, d.h. ob die angefochtene Ordnung als verhältnismässig bezeichnet werden kann.
Das Abbruchverbot für Wohnhäuser stellt zwar einen erheblichen Eingriff in die Verfügungsfreiheit der betroffenen Eigentümer dar. Die wesentlichen, aus dem Eigentum sich ergebenden Befugnisse bleiben den Eigentümern jedoch erhalten. So ist es ihnen namentlich unbenommen, ihr Grundstück zu veräussern oder im bisherigen Rahmen wirtschaftlich sinnvoll zu nutzen. Unter welchen Voraussetzungen eine Abbruchbewilligung erteilt werden muss oder kann, ist im Gesetz zudem einlässlich geregelt (§§ 2 und 3). Wohl steht der zuständigen Behörde bei der Anwendung der Kann-Vorschrift in § 3 des Gesetzes ein erheblicher Ermessensspielraum offen. Wie der Grosse Rat mit Recht ausführt (Beschwerdeantwort S. 16), bedeutet dies jedoch keine Ermächtigung zum Entscheid nach Belieben (vgl. BGE 89 I 464). Die Behörde ist vielmehr verpflichtet, im Einzelfall eine sorgfältige Interessenabwägung vorzunehmen und dabei insbesondere auch den Grundsatz der Rechtsgleichheit und das Gebot des Handelns nach Treu und Glauben zu beachten. Sind die in § 3 beispielsweise erwähnten oder ihnen aufgrund einer Interessenabwägung allenfalls gleichzustellenden Voraussetzungen erfüllt, so ist die Abbruchbewilligung im konkreten Fall zu erteilen. Dies anerkennt auch der Grosse Rat (Beschwerdeantwort S. 16/17). Der kantonale Gesetzgeber ist sodann dabei zu behaften, dass § 3 des Abbruchgesetzes nicht starr angewendet, sondern um so ausdehender ausgelegt werden soll, je mehr die zu bekämpfende Wohnungsnot gegebenenfalls abklingt (Beschwerdeantwort S. 13 unten). Gesamthaft betrachtet, erlaubt die im Gesetz enthaltene Regelung der Bewilligungsgründe demnach ohne weiteres eine massvolle Praxis, die weder eine in vernünftigen Grenzen verlaufende Erneuerung des Wohnungsbestandes im besonderen, noch eine angemessene wirtschaftliche Weiterentwicklung im allgemeinen unterbindet, sondern gestattet, den berechtigten privaten Interessen im Einzelfall gebührend Rechnung zu tragen. Nichts hindert im übrigen den betroffenen Grundeigentümer, einen zu seinen Ungunsten ausgefallenen

BGE 99 Ia 35 (42):

letztinstanzlichen kantonalen Entscheid über ein Abbruchgesuch mit staatsrechtlicher Beschwerde anzufechten und nachzuweisen, dass ein überwiegendes öffentliches Interesse an einem Abbruchverbot im konkreten Fall nicht oder nicht mehr besteht. Da die gesetzliche Ordnung nach dem Gesagten verfassungskonform angewendet werden kann und dem Betroffenen hinreichende Rechtsbehelfe zum Schutz seiner privaten Interessen zur Verfügung stehen, besteht im Rahmen der im vorliegenden Verfahren vorzunehmenden abstrakten Normenkontrolle kein Grund zur Annahme, das angefochtene unbefristete Abbruchverbot verstosse generell gegen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit. Die Rüge, der angefochtene Erlass verletze die Eigentumsgarantie, erweist sich daher als unbegründet.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen.