BGE 101 Ia 325
 
55. Urteil vom 14. November 1975 i.S. Konkursamt Enge-Zürich gegen Bezirksanwaltschaft Zürich.
 
Regeste
Strafprozessuale Beschlagnahme.
 
Sachverhalt


BGE 101 Ia 325 (325):

Gegen D., Verwaltungsrat der im Konkurse befindlichen D. AG, ist vor Bezirksanwaltschaft Zürich eine Strafuntersuchung hängig. Mit Verfügung vom 20. März 1975 beschlagnahmte die Bezirksanwaltschaft ein Guthaben der D. AG in Höhe von Fr. 8'000.--. Dagegen reichte das Konkursamt bei der Staatsanwaltschaft Beschwerde ein und machte geltend, es sei unzulässig, andere als die Vermögenswerte des Angeschuldigten selbst zu beschlagnahmen. Die Staatsanwaltschaft wies die Beschwerde ab. Sie räumte zwar ein, dass § 83 der Zürcher Strafprozessordnung nur die Beschlagnahmung von Aktiven des Angeschuldigten selber vorsehe. Im vorliegenden Falle dürfe jedoch auf das Vermögen der Aktiengesellschaft gegriffen werden, da unter anderem auch Verstösse gegen die AHV-Gesetzgebung Gegenstand der Untersuchung bildeten und bei Straftatbeständen nach Art. 89 AHVG die juristische Person für Bussen und Kosten solidarisch hafte.
Gegen den Entscheid der Staatsanwaltschaft hat das Konkursamt staatsrechtliche Beschwerde wegen willkürlicher

BGE 101 Ia 325 (326):

Rechtsanwendung eingereicht. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
"Entzieht sich ein Angeschuldigter, der keine Sicherheit geleistet hat, der Untersuchung durch die Flucht oder erscheint es zur Sicherung der künftigen Vollstreckung eines Strafurteils aus andern Gründen als geboten, so kann durch die Untersuchungsbehörde vom Vermögen des Angeschuldigten so viel mit Beschlag belegt werden, als zur Deckung der Prozesskosten, einer allfälligen Busse, des verursachten Schadens und der Strafvollzugskosten voraussichtlich erforderlich ist."
Auf Grund dieser Bestimmung dürfen auch, wie das Bundesgericht in BGE 78 I 215 ff. bestätigt hat, bereits gepfändete oder zur Konkursmasse gezogene Vermögenswerte beschlagnahmt werden.
2. Die zürcherische Rechtsprechung zu § 83 StPO ist stets davon ausgegangen, dass diese Vorschrift nur gestatte, Vermögen des Angeschuldigten, nicht aber dasjenige von Drittpersonen zu beschlagnahmen (ZR 33/1934 Nr. 81, ZR 63/1964 Nr. 33; vgl. auch NIEDERER, Vermögensbeschlagnahme im schweizerischen Strafprozessrecht, Diss. Zürich 1968 S. 4). Dementsprechend gilt es auch als unzulässig, im Strafverfahren gegen die Organe einer Aktiengesellschaft oder Genossenschaft oder gegen die Teilhaber einer Kollektiv- oder Kommanditgesellschaft Aktiven der Gesellschaft oder deren Konkursmasse mit Beschlag zu belegen (ZR 33/1934 Nr. 81; vgl. BÜRGIN, Über die Unzulässigkeit der Beschlagnahme von Aktiven einer Aktiengesellschaft im Strafverfahren gegen die Organe, SJZ 32/1935, 36 S. 148 ff., SPECKER, Die Beschlagnahme zur zivilrechtlichen Schadensdeckung, SJZ 49/1953 S. 302, NIEDERER, a.a.O. S. 30 N. 94). Dabei wird allerdings vorausgesetzt, dass die Gesellschaft nicht Schuldnerin der Kosten eines gegen ihre Organe durchgeführten Strafprozesses oder der gegen diese ausgefällten Busse sei (BÜRGIN, a.a.O. S. 150). Es stellt sich daher die Frage, ob es sich mit § 83 StPO vereinbaren lasse, dann auf das Vermögen einer juristischen Person, einer Personengesellschaft oder einer Einzelfirma zu greifen, wenn diese, wie im vorliegenden Fall nach Art. 89 des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung

BGE 101 Ia 325 (327):

(AHVG), für die ihren Organen und Arbeitnehmern auferlegten Bussen und Kosten solidarisch haftet.
a) Der Wortlaut von § 83 StPO scheint zunächst auszuschliessen, dass für Widerhandlungen gegen das AHVG im Geschäftsbetrieb einer juristischen Person auch deren Vermögen mit Beschlag belegt werden könne. Da die juristische Person in der AHV-Gesetzgebung nicht eigentlich als delikts- und straffähige Person behandelt wird (wie dies etwa in der Wehrsteuer- und Warenumsatzsteuergesetzgebung der Fall ist), sondern nur für die dem Täter auferlegten Bussen und Kosten haftbar erklärt wird, kann sie auch nicht als "Angeschuldigte" im Untersuchungsverfahren erscheinen.
b) Vom Sinn und Zweck des § 83 StPO her gesehen lässt es sich jedoch vertreten, den Anwendungsbereich der Bestimmung über den reinen Wortlaut hinaus zu erweitern. Die Vermögensbeschlagnahme erfolgt zur Sicherung der Vollstreckung einer Bussen- oder Kostenauflage, d.h. zur Deckung öffentlich-rechtlicher Forderungen. Als eine Forderungen sicherstellende Massnahme ist die Beschlagnahme gegen den Schuldner zu richten. Haften auf Grund gesetzlicher Vorschrift, wie hier nach Art. 89 AHVG, mehrere solidarisch für die Forderung, so kann jeder der Schuldner dafür belangt werden. Es ist daher zumindest nicht völlig unhaltbar, dass zur Sicherstellung der Bussen- und Kostenforderung auf das Vermögen eines der Solidarschuldner gegriffen wird, ungeachtet dessen, ob er als Angeschuldigter im Untersuchungsverfahren erscheint oder nicht.
c) Es stellt sich einzig noch die Frage, ob es deshalb nicht zulässig sei, das Vermögen der D. AG zu beanspruchen, weil Art. 89 AHVG die juristische Person nur "in der Regel" für Busse und Kosten haftbar erklärt und damit die Möglichkeit offenlässt, dass sie nicht Schuldnerin der sicherzustellenden Forderung wird. Die Beschlagnahme ist jedoch in jedem Falle, auch wenn sie nur das Vermögen des Angeschuldigten betrifft, eine provisorische Massnahme in dem Sinne, als es im Zeitpunkt ihrer Anordnung noch nicht feststeht, ob die durch sie sicherzustellenden Forderungen überhaupt entstehen werden. Über die Forderungen gegenüber dem Angeschuldigten wird gleich wie über die Haftbarkeit der juristischen Person für diese Forderungen erst später endgültig entschieden. Ist es aber im Untersuchungsverfahren zulässig, Vermögen des Angeschuldigten

BGE 101 Ia 325 (328):

zur Sicherung von Forderungen zu beschlagnahmen, deren Entstehung wahrscheinlich ist, aber noch nicht feststeht, so ist die Annahme nicht geradezu willkürlich, dass auch Vermögenswerte beschlagnahmt werden dürfen, mit denen "in der Regel" für die allfällig entstehenden Forderungen gehaftet wird. Im übrigen wird auch nicht geltend gemacht, dass im vorliegenden Fall Umstände dafür sprächen, dass die Haftung der D. AG für die von D. begangenen Widerhandlungen gegen das AHVG ausgeschlossen würde.