10. Urteil vom 8. Februar 1978 i.S. X. gegen Staatsanwalt und Regierungsrat des Kantons Schaffhausen
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Regeste
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Kantonales Strafprozessrecht. Art. 4 BV, persönliche Freiheit.
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2. Darin, dass durch die Verlesung der Anklageschrift in öffentlicher Verhandlung der gute Ruf des Opfers beeinträchtigt wird, liegt kein Eingriff in die persönliche Freiheit seiner Angehörigen; Abgrenzung des Schutzbereiches dieses Grundrechtes (E. 5a).
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Sachverhalt
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BGE 104 Ia 35 (36):
Der 44jährige X., der sich seit dem 4. Juni 1976 in Untersuchungshaft befunden hatte, starb am 14. Juni 1976 während des Transportes vom Gefängnis ins Kantonsspital an einem diabetischen Koma. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen erhob in der Folge wegen fahrlässiger Tötung Anklage gegen den Gefängnisarzt Dr. Y., dem sie vorwarf, dem Untersuchungsgefangenen X. ohne ausreichende Untersuchung und ohne die notwendige fortlaufende ärztliche Kontrolle das erforderliche Insulin entzogen zu haben. Die Mutter des Verstorbenen beschwerte sich bei den kantonalen Instanzen erfolglos dagegen, dass in der Anklageschrift gegen den Gefängnisarzt auch die ihrem Sohn zur Last gelegten Delikte erwähnt werden. Sie führt unter Berufung auf Art. 4 BV und auf das Grundrecht der persönlichen Freiheit staatsrechtliche Beschwerde. Das Bundesgericht weist diese, soweit es darauf eintritt, ab, im wesentlichen aus folgenden
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BGE 104 Ia 35 (37): Erwägungen:
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"Unter dem Verdacht, in weiteren Fällen Diebstähle, in zwei Fällen eine Irreführung der Rechtspflege und in einem Fall einen Betrug verübt zu haben, wurde X. in der Folge:... polizeilich befragt;"
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Die Beschwerdeführerin machte im kantonalen Verfahren geltend, die genannten Stellen enthielten in Verletzung von Art. 180 StPO Verdachtsgründe. Der Regierungsrat lehnte diesen Standpunkt ab mit der Begründung, das Verbot der Aufnahme von Verdachtsgründen beziehe sich nur auf Motive zur Stützung der Anklage, d.h. auf Verdachtsgründe gegen die Person des Angeklagten. Die Beschwerdeführerin rügt diese Erwägung als willkürlich. Sie betrachtet Art. 180 Abs. 2 StPO BGE 104 Ia 35 (38):
als verletzt, der vorschreibt, in der Anklageschrift sei kurz, aber genau die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat zu bezeichnen.
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Es trifft zu, dass nach der Strafprozessordnung des Kantons Schaffhausen wie auch nach dem Recht der anderen schweizerischen Kantone sich die Anklageschrift auf das Notwendige beschränken und kein vorweggenommenes Plädoyer darstellen soll (vgl. dazu PFENNINGER, Anklage, Urteil und Rechtskraft, SJZ 39/1942-1943, S. 354; C. LUDWIG, Die Anklageschrift, Schweiz. Zeitschrift für Strafrecht 59/1945, S. 220 f.; HAUSER, Kurzlehrbuch des Schweizerischen Strafprozessrechtes, S. 201 f.). Es liegt indessen in der Natur der Sache, dass keine Regeln darüber aufgestellt werden können, wie weit bei der Darstellung des Sachverhaltes im Einzelfalle gegangen werden soll. Aus Art. 4 BV lässt sich allenfalls höchstens ein Anspruch des Angeklagten darauf ableiten, dass das Gericht nicht durch eine zu ausführliche Darstellung und Erörterung zu seinem Nachteil beeinflusst werde (BGE 103 Ia 6). Selbstverständlich ist auch, dass nicht grundlos Nachteiliges über Drittpersonen in eine Anklageschrift aufgenommen werden darf. Der Geschädigte ist jedoch nicht Dritter, sondern Prozessbeteiligter. Es gehört zur Darstellung des dem Angeklagten zur Last gelegten Sachverhaltes, dass der Geschädigte mit Namen bezeichnet wird und dass die Umstände der Tat dargelegt werden, selbst dann, wenn sie geeignet sind, auch auf den Geschädigten ein ungünstiges Licht zu werfen.
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Im vorliegenden Falle war der Umstand, dass der verstorbene X. sich in Untersuchungshaft befand, für die Darlegung der dem Angeklagten zur Last gelegten Tat unumgänglich. Auch der zeitliche Ablauf der Untersuchung von der Inhaftierung bis zum Ableben von X. ist wesentlich für die Beurteilung der Frage, ob dem Gefängnisarzt eine strafbare Fahrlässigkeit zur Last falle. Damit bleibt lediglich noch zu prüfen, ob die Gründe für die Anordnung und die Verlängerung der Untersuchungshaft in der Anklageschrift aufzuführen waren. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin handelt es sich dabei nicht um "Verdachtsgründe", die gemäss Art. 180 Abs. 3 StPO nicht in die Anklage aufgenommen werden dürfen, sondern um Tatsachen, nämlich um die wirklichen Gründe, deretwegen X. in Haft genommen wurde, was die Beschwerdeführerin ausdrücklich anerkennt. Mit der Frage, BGE 104 Ia 35 (39):
ob X. der ihm zur Last gelegten Delikte schuldig gewesen sei oder nicht, hat dies nichts zu tun. Es wird denn auch in der Anklageschrift mit aller Deutlichkeit gesagt, X. sei unter dem Verdacht des Diebstahls und weiterer Delikte festgenommen worden (und nicht etwa "wegen Diebstahls usw."), so dass jedes Missverständnis hierüber als ausgeschlossen betrachtet werden kann. Im übrigen ist dem Regierungsrat darin beizupflichten, dass das Verbot der Aufnahme von Verdachtsgründen in die Anklageschrift einzig mit Rücksicht auf das Unmittelbarkeitsprinzip in die StPO des Kantons Schaffhausen (wie in diejenigen anderer Kantone) aufgenommen worden ist und daher nur Verdachtsgründe gegenüber dem Angeklagten betrifft. Weitere Ausführungen zu diesem Punkt erübrigen sich. Man kann sich zwar fragen, ob es nicht möglich gewesen wäre, in der Anklageschrift gegen den Gefängnisarzt auf die Angabe der dem Verstorbenen seinerzeit zur Last gelegten Delikte zu verzichten. Indessen lässt sich nicht sagen, die Gründe der Verhaftung lägen derart abseits von dem jetzt zu beurteilenden Sachverhalt, dass ihre Nennung geradezu unvertretbar und damit willkürlich wäre. Im übrigen wird auf die Frage, ob die Beschwerdeführerin durch die vom Staatsanwalt gewählte Formulierung der Anklage überhaupt in einer vermeidbaren Weise verletzt worden sei, im Zusammenhang mit der behaupteten Verletzung eines ungeschriebenen verfassungsmässigen Rechtes zurückzukommen sein.
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a) Während das Bundesgericht in seiner älteren Rechtsprechung die persönliche Freiheit mit der Bewegungsfreiheit und der freien Verfügung über den eigenen Körper gleichsetzte, wurde der Bereich dieses ungeschriebenen verfassungsmässigen Rechtes seit dem Jahre 1964 allmählich erweitert. Nach der neueren Praxis schützt die persönliche Freiheit als zentrales Freiheitsrecht nicht nur die Bewegungsfreiheit und die BGE 104 Ia 35 (40):
körperliche Integrität, sondern darüber hinaus alle elementaren Erscheinungen menschlicher Persönlichkeit, die nicht durch andere Grundrechte der Bundesverfassung gewährleistet sind (BGE 90 I 36 und zahlreiche neuere Urteile, z.B. BGE 95 I 360 E. 1, BGE 97 I 49 E. 3, 841 E. 3; BGE 100 Ia 193 E. 3b; BGE 101 Ia 49 /50 E. 4, 345 E. 7a; BGE 102 Ia 282 E. 2, 303 E. 1a; zusammenfassende Würdigung bei A. GRISEL, La liberté personnelle et les limites du pouvoir judiciaire, in: Revue internationale de droit comparé, 1975, S. 549 ff.). Die Durchsicht dieser Entscheidungen zeigt, dass der erweiterte Begriff der persönlichen Freiheit sein hauptsächliches Anwendungsgebiet im Zusammenhang mit den Rechten der Untersuchungs- und Strafgefangenen findet. Es wird bei Beschwerden solcher Personen nicht mehr allein geprüft, ob sich ihre Verhaftung und Festhaltung mit der Verfassung vereinbaren lasse, sondern darüber hinaus auch, ob die Haftbedingungen ihre persönliche Entfaltungsmöglichkeit nicht in grösserem Masse einschränken, als dies der Zweck des Freiheitsentzuges erfordert. Demgegenüber hat das Bundesgericht wiederholt zum Ausdruck gebracht, nicht jeder andere Eingriff in das Recht der Persönlichkeit rechtfertige die Berufung auf ein ungeschriebenes verfassungsmässiges Freiheitsrecht, da sich sonst dieses Recht von anderen teils verfassungsmässig, teils gesetzlich geschützten Ansprüchen nicht mehr abgrenzen liesse. In einem ebenfalls den guten Ruf eines Beschwerdeführers betreffenden und insoweit mit dem vorliegenden vergleichbaren Fall (BGE 100 Ia 194 f) wird deutlich zum Ausdruck gebracht, eine derartige Ausweitung der Garantie der persönlichen Freiheit sei unannehmbar, weil sie auf nichts anderes hinausliefe als auf eine Wiederholung des Art. 4 BV in seiner ihm durch die bundesgerichtliche Rechtsprechung gegebenen Bedeutung. Weiter zu gehen und insbesondere den Anspruch des Einzelnen auf Schutz seiner Privatsphäre öffentlichrechtlich durch Einbezug in das ungeschriebene Recht auf persönliche Freiheit zu schützen, stellt einzig SALADIN zur Diskussion (Grundrechte im Wandel, S. 97). Er bringt jedoch klar zum Ausdruck, dass seine Auffassung über den heutigen Stand der schweizerischen Rechtsprechung hinausgehe.
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Der vorliegende Fall bietet keinen Anlass, die Rechtsprechung im Sinne der Anregung Saladins auszuweiten. Es geht hier um ein gesetzlich (Art. 28 ZGB) und nicht um ein BGE 104 Ia 35 (41):
verfassungsmässig geschütztes Recht. Was die Beschwerdeführerin rügt, ist ein Angriff auf die Ehre ihres verstorbenen Sohnes und damit - allerdings nur mittelbar und bedeutend weniger intensiv - auch ein solcher auf ihr eigenes Ansehen. Sie kann sich gegenüber einer dahingehenden staatlichen Massnahme auf die aus Art. 4 BV folgenden Grundsätze berufen. Ein Eingriff in den Schutzbereich der persönlichen Freiheit liegt nicht vor, weshalb von einer Verletzung dieses ungeschriebenen Verfassungsrechtes zum vornherein nicht die Rede sein kann.
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b) Die Beschwerde vermöchte übrigens selbst dann nicht durchzudringen, wenn man den Schutzbereich der persönlichen Freiheit auf Eingriffe der vorliegenden Art ausdehnen würde. Der angefochtene Eingriff müsste geduldet werden, wenn er auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruht, im öffentlichen Interesse liegt und dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit entspricht. Die Anführung des Namens des Sohnes der Beschwerdeführerin sowie seiner Stellung als Untersuchungsgefangener in der Anklageschrift war, wie bereits dargelegt, nach den Bestimmungen der StPO über den notwendigen Inhalt dieser Schrift nicht nur zulässig, sondern unumgänglich. Es kann sich somit nur noch fragen, ob die Erwähnung der Delikte, deren er verdächtigt worden war, dem öffentlichen Interesse und dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz entspreche, wobei zwischen diesen beiden Begriffen eine Wechselbeziehung besteht.
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Es ist einzuräumen, dass das öffentliche Interesse an der Nennung der fraglichen Delikte in der Anklageschrift nicht sehr erheblich ist. Indessen überwiegt es immer noch dasjenige der Beschwerdeführerin an der Weglassung dieser Präzisierung. Zu diesem Ergebnis gelangt man zwingend, wenn man sich vergegenwärtigt, wie die Anklageschrift ohne diese Angaben aussähe. Es bliebe die Feststellung, dass X. in Untersuchungshaft genommen wurde und dass diese während zehn Tagen, d.h. bis zu seinem Ableben, andauerte; dagegen fehlte jeder Hinweis auf den Haftgrund. Jeder, der die Anklageschrift liest oder - als Zuhörer an der öffentlichen Gerichtsverhandlung - ihren Inhalt zur Kenntnis nimmt, wüsste somit auch dann, dass der Verstorbene eines Verbrechens oder Vergehens bezichtigt worden war. Untersuchungshaft wird allgemein nur bei Verdacht auf Verfehlungen von einer gewissen BGE 104 Ia 35 (42):
Schwere verhängt, vor allem bei Delikten gegen Leib und Leben, gegen die Sittlichkeit oder gegen das Vermögen. Hätte der Staatsanwalt die Delikte, deren X. beschuldigt worden war, nicht aufgeführt, so wäre es der Phantasie des Lesers oder Zuhörers anheimgestellt geblieben, welchen Haftgrund er vermuten wolle. Es kann nun kaum ernstlich behauptet werden, es sei dem Rufe des Verstorbenen abträglicher, wenn klar gesagt wird, er sei wegen Diebstahls und Betruges sowie wegen Irreführung der Rechtspflege, also zur Hauptsache wegen Vermögensdelikten, in Untersuchung gezogen worden, als wenn durch Nichtnennung der Tatbestände für den Uneingeweihten auch die Möglichkeit eines Deliktes gegen Leib und Leben oder eines Sittlichkeitsdeliktes offen gelassen worden wäre. Vielmehr wird diese Art von Delikten gemeinhin als ehrenrühriger betrachtet als die Delikte gegen das Vermögen. Wenn die Beschwerdeführerin geltend macht, es bestehe auch die Möglichkeit der Verhaftung eines Unschuldigen, so geht ihr Einwand an der Sache vorbei: über Schuld oder Unschuld des Verstorbenen hätte die Anklageschrift weder mehr noch weniger gesagt, wenn die Deliktsvorwürfe, die zu dessen Verhaftung Anlass gaben, nicht genannt worden wären. Wie die Beschwerdeführerin dies subjektiv empfinden mag, ist nicht ausschlaggebend. Entscheidend ist vielmehr der Eindruck auf das nicht näher orientierte Publikum, der, wie dargelegt, für den Verstorbenen nicht günstiger gewesen wäre. Die mögliche Beeinträchtigung des Ansehens der Familie des Verstorbenen liegt somit in der Durchführung eines Strafverfahrens gegen den Gefängnisarzt, an dem die Beschwerdeführerin als Rechtsnachfolgerin des Geschädigten selbst interessiert ist, an sich, und nicht in einer unzulässigen Formulierung der Anklageschrift. Die Beschwerde wäre somit auch dann abzuweisen, wenn das Bundesgericht den angefochtenen Eingriff unter dem Gesichtswinkel der persönlichen Freiheit mit freier Kognition auf seine Verhältnismässigkeit zu prüfen hätte.
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