BGE 117 Ia 257 - Hafturlaub
 
41. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 9. Oktober 1991
i.S. H. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht
(Strafabteilung) des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde)
 
Regeste
Art. 4 BV (Rechtsgleichheit, Willkür); Untersuchungs- und Sicherheitshaftregime bei vorzeitigem Strafvollzug; Kollusionsgefahr.
1. Es verstösst nicht gegen das Rechtsgleichheitsgebot, dass Untersuchungs- und Sicherheitshäftlinge im vorzeitigen Strafvollzug nicht dem gleichen Haftregime (insbesondere der gleichen Urlaubsregelung) unterstellt werden wie Gefangene im ordentlichen Strafvollzug (E. 3).
2. Kollusionsgefahr, welche der Gewährung von Urlaub im vorzeitigen Strafvollzug entgegensteht, kann auch nach Abschluss der Untersuchung noch weiterbestehen (E. 4b). Die theoretische Möglichkeit, dass der Angeschuldigte in Freiheit oder im Urlaub kolludieren könnte, genügt jedoch nicht, um die Fortsetzung der Haft oder die Nichtgewährung von Urlaub während des vorzeitigen Strafvollzuges zu rechtfertigen. Es müssen vielmehr konkrete Indizien für eine solche Gefahr sprechen (E. 4c). Willkürliche Annahme von Kollusionsgefahr im vorliegenden Fall verneint.
 


BGE 117 Ia 257 (258):

Sachverhalt
A.- Das Bezirksgericht Aarau verurteilte H. am 12. Februar 1991 wegen wiederholten Diebstahls, wiederholter Sachbeschädigung, wiederholten Hausfriedensbruchs, gewerbsmässiger Hehlerei, gewerbsmässigen Betruges sowie verschiedener SVG-Delikte zu einer Zuchthausstrafe von vier Jahren und zu einer Busse von Fr. 1'000.--. Am 6. Mai 1991 erhob H. hiegegen Berufung. Er willigte indessen in den vorzeitigen Strafvollzug ein und befindet sich z. Zt. in der Strafanstalt Bostadel. Die Berufungsverhandlung hat noch nicht stattgefunden. Am 21. August 1991 wurde H. mit einer Zusatzanklage wiederum wegen gewerbsmässiger Hehlerei und gewerbsmässigem Betrug angeklagt; dieses Verfahren ist gegenwärtig am Bezirksgericht hängig.
Am 20. August 1991 stellte H. an das Obergericht des Kantons Aargau das Gesuch, die Strafanstalt Bostadel sei anzuweisen, dem Gesuchsteller analog einem rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren Verurteilten Urlaub zu gewähren; ferner sei er auch bezüglich Arbeitseinteilung und weiteren Anstaltsregelungen diesem gleichzustellen. Das Gesuch wurde insbesondere damit begründet, dass ein Drittel der Strafe, die ausgestandene und angerechnete Untersuchungshaft eingeschlossen, vollzogen sei. Die Strafabteilung des Obergerichtes wies mit Beschluss vom 26. August 1991 das Gesuch ab. Dagegen führt H. staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
 
Auszug aus den Erwägungen:
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 3
3.- a) Der Beschwerdeführer rügt in erster Linie eine Verletzung des Rechtsgleichheitsgrundsatzes gemäss Art. 4 BV. Der Umstand, dass er den vorzeitigen Strafvollzug angetreten habe, müsse in der Weise berücksichtigt werden, dass er auch wie ein Vollzugsgefangener und nicht wie ein Untersuchungshäftling zu

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behandeln sei. Während rechtskräftig verurteilte Schwerstverbrecher wie Raubmörder und dergleichen nach einem Drittel der verbüssten Strafzeit in Urlaub entlassen oder sogar in halboffene Anstalten verlegt würden, werde ihm die Gewährung von Urlaub wegen Kollusionsgefahr verwehrt.
b) Der in Art. 4 BV enthaltene Gleichheitssatz verlangt, dass Gleiches nach Massgabe seiner Gleichheit gleich, und Ungleiches nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich behandelt wird. Es dürfen keine Unterscheidungen getroffen werden, für die ein vernünftiger Grund in den tatsächlichen Verhältnissen, über die zu entscheiden ist, nicht gefunden werden kann. Die Rechtsgleichheit ist verletzt, wenn zwei gleiche tatsächliche Situationen ohne sachlichen Grund unterschiedlich behandelt werden (BGE 114 Ia 2 f., 323 E. 3a mit Hinweisen). Es ist nachfolgend zu prüfen, ob der Beschwerdeführer einem im Strafvollzug stehenden Täter gleichgestellt werden kann, weil er sich ausdrücklich mit dem vorzeitigen Strafantritt einverstanden erklärt hat, obwohl eine rechtskräftige Verurteilung noch nicht vorliegt.
c) Der vorzeitige Strafantritt ist eine Institution des kantonalen Strafrechts, weshalb von der konkreten aargauischen Regelung auszugehen ist (vgl. Stefan Trechsel, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, N 5 zu Art. 69; MARTIN SCHUBARTH, Zur Rechtsnatur des vorläufigen Strafvollzuges, ZStrR 96/1979 S. 295 ff.). Im Kanton Aargau ist der vorzeitige Strafantritt lediglich in § 75 Abs. 3 des Gesetzes über die Strafrechtspflege (Strafprozessordnung) vom 11. November 1958 geregelt. Darnach kann im Einverständnis mit dem Betroffenen die Untersuchungshaft auch in einer Strafanstalt vollzogen werden. Daraus ergibt sich, dass im Kanton Aargau für den vorzeitigen Strafvollzug, auch wenn er in einer Strafanstalt erfolgt, grundsätzlich das Regime der Untersuchungshaft massgeblich ist. Allgemein hat das Bundesgericht wiederholt festgehalten, der vorzeitige Strafvollzug stelle seiner Natur nach eine Massnahme auf der Schwelle zwischen Strafverfolgung und Strafvollzug dar. Er soll ermöglichen, dass dem Angeschuldigten bereits vor der rechtskräftigen Urteilsfällung verbesserte Chancen auf Resozialisierung im Rahmen des Strafvollzuges geboten werden können. Aus dem Umstand, dass der Angeschuldigte freiwillig in dieses Vollzugsregime eintritt, darf jedoch nicht geschlossen werden, dass eine Unterbrechung bzw. Aufhebung dieses Vollzuges nur unter den für den ordentlichen Strafvollzug geltenden, engen Voraussetzungen möglich sein soll. Das Bundesgericht kam

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deshalb grundsätzlich zum Schluss, analog den Regeln über die Untersuchungs- und Sicherheitshaft müsse ein jederzeitiges Haftentlassungsgesuch auch bei vorzeitigem Strafantritt möglich sein (BGE 117 Ia 78 ff. E. 1d, 375 E. 3a). Sowohl die gesetzliche Regelung im Kanton Aargau wie auch die allgemeinen Erwägungen des Bundesgerichtes führen dazu, im Zweifelsfalle die Regeln über die Untersuchungs- und Sicherheitshaft auch bei vorzeitigem Strafantritt analog anzuwenden. Das Bundesgericht hat sodann am 18. Januar 1977 i.S. H.-R. S. in einem nicht publizierten Urteil entschieden, unter dem Gesichtspunkt des Gebotes rechtsgleicher Behandlung sei angesichts der Verschiedenheit der tatsächlichen Voraussetzungen nicht zu beanstanden, dass Gefangene im vorzeitigen Strafvollzug nicht der gleichen Urlaubsregelung wie solche im ordentlichen Strafvollzug unterstellt würden; Urlaub könne nur dann gewährt werden, wenn kein Haftgrund mehr besteht (zitiert bei SCHUBARTH, a.a.O., S. 302). Auch SCHUBARTH, der bei Einzelheiten des Vollzuges (Pekulium, Urlaub usw.) bei vorzeitigem Strafantritt eine gleiche Regelung wie für den ordentlichen Strafvollzug fordert, relativiert diese Aussage dahin, dass dies nur dann volle Geltung habe, wenn kein Haftgrund mehr gegeben ist (SCHUBARTH, a.a.O., S. 310 f.). Aus all diesen Gründen folgt, dass der angefochtene Entscheid vor dem Rechtsgleichheitsgebot im dargelegten Sinne standhält.
 
Erwägung 4
4.- a) Der Beschwerdeführer rügt sodann, das Obergericht habe im vorliegenden Fall § 67 Abs. 1 Ziff. 2 StPO/AG betreffend Kollusionsgefahr willkürlich angewendet. Der Mitangeklagte B., der ihn hauptsächlich belastet habe, befinde sich auf freiem Fuss. Mit ihm könnte er übrigens ohne weiteres telefonisch oder schriftlich in Kontakt treten. Eine Kollusionsgefahr könne zudem auch im Strafvollzug bestehen, was er mit seiner nachträglichen Beweiseingabe an das Obergericht vom 20. Juni 1991 aufgezeigt habe. Dass auch mit Bezug auf das zweite, vor Bezirksgericht liegende Strafverfahren gegen ihn keinerlei Kollusionsgefahr bestehe, erhelle schon daraus, dass sich der Haupttäter K. auf freiem Fuss befinde; wenn der Haupttäter nicht kollusionsgefährdet sei, könne dies auf den Beschwerdeführer als Mittäter ebensowenig zutreffen.
b) § 67 Abs. 1 Ziff. 2 StPO/AG nennt als Haftgrund u.a. das Bestehen von Kollusionsgefahr. Dass diese Bestimmung im vorliegenden Fall analog angewendet werden kann, ergibt sich aus der vorstehenden Erwägung 3. Kollusion bedeutet, dass sich der Beschuldigte

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mit Zeugen, Auskunftspersonen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten ins Einvernehmen setzt oder sie zu wahrheitswidrigen Aussagen veranlasst. Die Untersuchungshaft wegen Kollusionsgefahr soll verhindern, dass ein Angeschuldigter die Freiheit oder einen Urlaub dazu missbrauchen würde, die wahrheitsgetreue Abklärung des Sachverhaltes zu vereiteln oder zu gefährden. Diese Gefahr kann nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes auch nach Abschluss der Untersuchung noch fortbestehen, besonders dann, wenn wie im Strafverfahren des Kantons Aargau sowohl im Haupt- als auch im Berufungsverfahren zumindest noch teilweise das Prinzip der Unmittelbarkeit besteht und neue tatsächliche Behauptungen und Beweismittel vollumfänglich zulässig sind (vgl. insbesondere §§ 220 und 222 StPO/AG). Der Umstand, dass die Untersuchung in beiden Verfahren abgeschlossen ist, hindert somit entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers das Bestehen von Kollusionsgefahr nicht (unveröffentlichte Urteile des Bundesgerichtes vom 18. Dezember 1987 i.S. Sch., vom 15. Dezember 1988 i.S. W. und vom 1. Juni 1989 i.S. G.).
c) Jedoch genügt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes die theoretische Möglichkeit, dass der Angeschuldigte in Freiheit kolludieren könnte, nicht, um die Fortsetzung der Haft oder die Nichtgewährung von Urlauben unter diesem Titel zu rechtfertigen. Es müssen vielmehr konkrete Indizien für eine solche Gefahr sprechen (unveröffentlichte Urteile des Bundesgerichtes vom 15. November 1988 i.S. W., E. 2b und vom 1. Juni 1989 i.S. G., E. 4b). Solche konkrete Indizien liegen hier vor. So hat der Beschwerdeführer in seiner Berufungsschrift ans Obergericht bezüglich des ersten Strafverfahrens eine grosse Anzahl neu abzunehmender Beweismittel, insbesondere die Einvernahmen von Zeugen und Mitangeschuldigten, beantragt. Dass der Beschwerdeführer eine gewisse Neigung zum kolludieren hat, zeigt insbesondere auch seine Eingabe vom 20. Juni 1991. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Kollusionsgefahr, wenn auch etwas weniger stark als die Fluchtgefahr, nicht von rein objektiven Faktoren abhängig ist, sondern dass sie auch mit den subjektiven Eigenschaften des Angeschuldigten zusammenhängt. Deshalb entfällt der Einwand, wenn der angebliche Haupttäter des zweiten Strafverfahrens offenbar nicht kollusionsgefährdet sei, könne dies der Beschwerdeführer als Mittäter ebensowenig sein. Sodann ist zu beachten, dass die direkten Einwirkungsmöglichkeiten auf freiem Fuss weit grösser wären als diejenigen per Telefon oder Briefverkehr aus dem Gefängnis,

BGE 117 Ia 257 (262):

welche zudem überwacht werden können. Unter diesen Umständen kann keineswegs von einer willkürlichen Annahme von Kollusionsgefahr durch das Obergericht die Rede sein.