BGE 109 Ib 76
 
11. Urteil der II. Zivilabteilung vom 30. März 1983 i.S. Vormundschaftsbehörde Uzwil gegen Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich (staatsrechtliche Klage)
 
Regeste
Art. 83 lit. e OG.
 
Sachverhalt


BGE 109 Ib 76 (76):

A.- Mit Urteil vom 13. Mai 1975 schied das Bezirksgericht Zürich die Ehe der Eheleute Vincenzo und Maya C. Dabei stellte es die Kinder Francesco Vincenzo, geboren am 5. Oktober 1963, Manuela Angelina, geboren am 17. Juli 1966, und Jacqueline Jolanda, geboren am 4. März 1969, unter die elterliche Gewalt der Mutter und lud die Vormundschaftsbehörde Zürich ein, über die Kinder eine vormundschaftliche Aufsicht zu errichten. Die Aufsicht wurde in der Folge von der Vormundschaftsbehörde Weiningen übernommen, welche die Kinder am 21. April 1977 in ein Heim einwies. Am 29. August 1978 ordnete die Vormundschaftsbehörde Affoltern an Stelle der Erziehungsaufsicht eine Erziehungsbeistandschaft im Sinne von Art. 308 ZGB an. Seit 14. Januar 1982 werden die Kindesschutzmassnahmen von der Vormundschaftsbehörde Uzwil weitergeführt. Die beiden Mädchen sind immer noch in einem Heim untergebracht, währenddem der Knabe bei der Mutter wohnt.


BGE 109 Ib 76 (77):

Am 27. Januar 1983 beschloss die Vormundschaftsbehörde Uzwil, die Massnahmen auf die Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich zu übertragen, da die Mutter der Kinder seit 1. Dezember 1982 in Zürich Wohnsitz habe. Die Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich lehnte jedoch die Übernahme mit Schreiben vom 21. Februar 1983 ab.
B.- Mit Eingabe vom 2. März 1983 erhob die Vormundschaftsbehörde Uzwil beim Bundesgericht gegen die Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich staatsrechtliche Klage im Sinne von Art. 83 lit. e OG. Sie beantragt, die Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich sei zu beauftragen, die für die drei Kinder angeordneten Kindesschutzmassnahmen nach Art. 308 und 310 ZGB zur Weiterführung zu übernehmen.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Die Klägerin macht freilich geltend, es sei anzunehmen, dass das Bundesgericht nach Art. 83 lit. e OG nicht nur die Streitigkeiten über den Wohnsitzwechsel bevormundeter, sondern auch diejenigen über den Wohnsitzwechsel verbeiständeter Personen zu beurteilen habe. Eine solche über den Wortlaut hinausgehende Auslegung ist indessen abzulehnen. Der Wohnsitzwechsel bevormundeter Personen lässt sich nicht ohne weiteres mit demjenigen verbeiständeter Personen vergleichen. Bevormundete Personen haben ihren Wohnsitz nach Art. 25 Abs. 1 ZGB am Sitz der Vormundschaftsbehörde, welche die Vormundschaft führt. Ein Wohnsitzwechsel kann nur stattfinden, wenn ihm die Vormundschaftsbehörde zustimmt und wenn die Vormundschaftsbehörde des neuen Wohnsitzes die Vormundschaft übernommen hat (Art. 377 Abs. 1 und 2 ZGB; BGE 86 II 288 /289; SCHNYDER/MURER, N. 6 ff. zu

BGE 109 Ib 76 (78):

Art. 377 ZGB). Die Zustimmung darf nur erteilt werden, wenn der Wohnsitzwechsel im wohlverstandenen Interesse des Mündels liegt; anderseits darf die Vormundschaftsbehörde des neuen Wohnsitzes die Übernahme der Vormundschaft verweigern, wenn der Wechsel diesem Interesse widerspricht (BGE 81 I 51 /52, 78 I 223/224; vgl. auch BGE 95 II 514; SCHNYDER/MURER, N. 73 ff. zu Art. 377 ZGB). Daraus hat das Bundesgericht abgeleitet, der Streit darüber, ob die Vormundschaft über eine bestimmte Person am bisherigen Ort weiterzuführen oder, mit der Folge der Wohnsitzverlegung, auf die Behörde eines andern Kreises zu übertragen sei, betreffe nicht eine Frage der örtlichen Zuständigkeit der einen oder andern Vormundschaftsbehörde. Im Vordergrund stehe vielmehr die materielle Frage, ob die Wohnsitzverlegung den Interessen des Mündels Rechnung trage (BGE 86 II 289 /290).
Demgegenüber haben verbeiständete Personen selbständigen Wohnsitz. Sie können diesen frei wählen, ohne hiefür der Zustimmung der Vormundschaftsbehörde zu bedürfen. Kinder haben ihren Wohnsitz zwar am Wohnsitz ihrer Eltern, solange diesen die elterliche Gewalt nicht entzogen worden ist (Art. 25 Abs. 1 ZGB). Doch sind die Eltern in der Wahl ihres Wohnsitzes frei, auch wenn die Kinder unter Erziehungsbeistandschaft stehen. Wechseln die Eltern ihren Wohnsitz, so ist der Vollzug der angeordneten Kindesschutzmassnahmen auf die Vormundschaftsbehörde des neuen Wohnsitzes zu übertragen (SCHNYDER/MURER, N. 121 zu Art. 377 ZGB; HEGNAUER, Grundriss des Kindesrechts, S. 152; ders., N. 53 zu alt Art. 288 ZGB). Darin erschöpft sich indessen die Analogie zu Art. 377 ZGB. Anders als bei bevormundeten Personen ist die Übertragung der Massnahmen hier nicht die Voraussetzung des Wohnsitzwechsels, sondern ihre Folge. Sind sich zwei Vormundschaftsbehörden nicht einig, welche von ihnen die Kindesschutzmassnahmen zu vollziehen habe, handelt es sich somit um einen reinen Kompetenzkonflikt, dessen Lösung nur davon abhängt, wo die Eltern der schutzbedürftigen Kinder ihren Wohnsitz haben. Geht es aber um einen Kompetenzkonflikt, so erscheint eine analoge Anwendung von Art. 83 lit. e OG, der dem Bundesgericht nach dem Gesagten die Beurteilung einer Frage des materiellen Vormundschaftsrechts ermöglichen will, nicht als gerechtfertigt.
Auf die Klage kann daher nicht eingetreten werden.
a) Zwar betrifft der Streit der Parteien eine Zivilsache im Sinne

BGE 109 Ib 76 (79):

von Art. 44 und 68 OG. Auch geht es um die Anwendung einer bundesrechtlichen Zuständigkeitsvorschrift, nämlich des Art. 315 ZGB. Eine Berufung kommt jedoch deswegen nicht in Frage, weil die Anordnung von Kindesschutzmassnahmen - abgesehen von der Entziehung und der Wiederherstellung der elterlichen Gewalt - in Art. 44 OG nicht erwähnt ist. Zur Erhebung einer Nichtigkeitsbeschwerde im Sinne von Art. 68 Abs. 1 lit. b OG ist die Klägerin anderseits nicht befugt. Das Bundesgericht hat zwar in Vormundschaftssachen die Beschwerdelegitimation der Vormundschaftsbehörde bejaht, wenn diese im kantonalen Verfahren nach kantonalem Recht als antragstellende Partei und nicht als in erster Instanz verfügende Behörde aufgetreten ist (BGE 86 II 216, BGE 83 II 187, BGE 82 II 205 /206 und 216 oben; bundesgerichtliche Urteile vom 2. Oktober 1969 i.S. Vormundschaftsbehörde Höri, ZVW 25/1970 S. 147 E. 1, und vom 14. Juli 1966 i.S. Vormundschaftsbehörde der Stadt Thun, ZVW 22/1967 S. 115 E. 2). Die Anordnung einer Erziehungsbeistandschaft im Sinne von Art. 308 ZGB und die Aufhebung der elterlichen Obhut gemäss Art. 310 ZGB obliegen jedoch, wie aus dem Wortlaut dieser Bestimmungen hervorgeht, von Bundesrechts wegen der Vormundschaftsbehörde selbst. Es besteht daher in diesem Bereich kein Raum für ein Zweiparteienverfahren vor einer andern Behörde, weshalb der Klägerin auch im Nichtigkeitsbeschwerdeverfahren vor Bundesgericht keine Parteistellung zukommen kann. Aber selbst dort, wo das zürcherische Recht in Vormundschaftssachen ein Zweiparteienverfahren kennt (vgl. z.B. § 70 EG ZGB hinsichtlich der Entziehung der elterlichen Gewalt und § 83 ff. EG ZGB hinsichtlich der Entmündigung), kann nie eine ausserkantonale Vormundschaftsbehörde als antragstellende Partei auftreten. Im übrigen fehlt es für die Nichtigkeitsbeschwerde abgesehen von der Legitimation auch an der Erschöpfung des Instanzenzuges (Art. 68 Abs. 1 OG).
b) Die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung bundesrechtlicher Zuständigkeitsvorschriften im Sinne von Art. 84 Abs. 1 lit. d OG fällt sodann deswegen ausser Betracht, weil das Recht zur Beschwerdeführung nach Art. 88 OG grundsätzlich nur privaten (natürlichen und juristischen) Personen, nicht aber Behörden zusteht (BGE 102 Ia 566 E. 1b, BGE 54 I 139 ff.; BIRCHMEIER, Bundesrechtspflege, S. 367). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz wäre höchstens dann denkbar, wenn die Klägerin im kantonalen Verfahren Parteistellung gehabt hätte, was nach dem Gesagten nicht der Fall ist. Die Gemeinde Uzwil selbst wäre zur staatsrechtlichen

BGE 109 Ib 76 (80):

Beschwerde ebenfalls nicht legitimiert, weil ihre Autonomie durch die Weigerung der Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich, den Vollzug der Kindesschutzmassnahmen zu übernehmen, nicht in Frage gestellt wird.
c) Beim Streit zwischen den Parteien handelt es sich letztlich um einen interkantonalen Kompetenzkonflikt. Solche Konflikte können dem Bundesgericht beim Fehlen eines andern Rechtsbehelfs auf dem Weg der staatsrechtlichen Klage im Sinne von Art. 83 lit. b OG unterbreitet werden. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung ist die Zuständigkeit des Bundesgerichts indessen nur gegeben, wenn eine Kantonsregierung seinen Entscheid anruft. Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Die Eingabe der Klägerin kann daher auch nicht als Klage gemäss Art. 83 lit. b OG behandelt werden.