BGHSt 42, 301 - Indirekte Sterbehilfe


BGHSt 42, 301 (301):

1. In den Fällen des Mordes wegen Tötung aus Habgier kann die lebenslange Freiheitsstrafe nicht wegen außergewöhnlicher Umstände im Sinne von BGHSt 30, 105 durch eine zeitige Freiheitsstrafe nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB ersetzt werden.
2. Eine ärztlich gebotene schmerzlindernde Medikation entsprechend dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen wird bei einem Sterbenden nicht dadurch unzulässig, daß sie als unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene unvermeidbare Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigen kann (im Anschluß an BGHSt 37, 376).
StGB §§ 211, 212, 216, 49 Abs. 1
3. Strafsenat
 
Urteil
vom 15. November 1996 g.M. u. M.
- 3 StR 79/96 -
Landgericht Kiel
 
Aus den Gründen:
Die Strafkammer hat den Angeklagten D. M. wegen Mordes aus Habgier zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren und die Angeklagte C. M. wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die Angeklagten erstreben mit ihren auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revisionen ihre Freisprechung, jedenfalls die Aufhebung des

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Urteils; die Staatsanwaltschaft will mit der Sachrüge eine Verurteilung wegen Mordes auch für die Angeklagte C. M. und die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe für beide Angeklagte, hilfsweise die Aufhebung des Urteils erreichen. Die Rechtsmittel der Angeklagten und die gegen den Angeklagten D. M. gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft führen auf die Sachrüge zur Aufhebung des Urteils und der zugrundeliegenden Feststellungen; dagegen hat das zuungunsten der Angeklagten C. M. eingelegte Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft keinen Erfolg.
Nach den getroffenen Feststellungen hat der Angeklagte D. M. eine Facharztpraxis für Orthopädie betrieben. Seine Ehefrau, die Angeklagte C. M., war als Anästhesistin ausgebildet, jedoch zur Tatzeit nicht mehr berufstätig und versorgte stattdessen den Haushalt; die finanzielle Lage der Eheleute war angespannt. Die Angeklagten freundeten sich mit der 88-jährigen vermögenden Rentnerin V. an, die wegen Kniebeschwerden die Praxis des Angeklagten aufgesucht hatte. Der Kontakt wurde so eng, daß Frau V. dem Angeklagten zunächst einen Geldbetrag von 104 000 DM und schließlich beiden Angeklagten eine Immobilie im Wert von 2,5 Millionen DM zuwendete. Anfang Juni 1987 erkrankte Frau V. schwer. Ursache war wahrscheinlich eine nicht erkannte und erst bei der späteren Obduktion festgestellte Hiatushernie (Verlagerung eines Magenteils durch eine Zwerchfellöffnung in den Brustraum). Frau V. ließ sich von den Angeklagten untersuchen, die den Internisten Dr. S. hinzuzogen. Dieser diagnostizierte eine Gallenkolik und stimmte der Verlegung der Patientin in die Wohnung der Angeklagten anstelle einer sonst erforderlichen Verbringung in ein Krankenhaus zu. Am 3. Juni 1987 verschlimmerte sich der Zustand. Dr. S. verschrieb der Patientin zehn Ampullen Dolantin, ein Opiat mit dem Wirkstoff Pethidin. Die Ampullen sollte die Angeklagte C. M. in Infusionen mit einer Dosierung von drei Ampullen zu je 100 mg für eine Dauer von 24 Stunden verabreichen. Nachdem sich in den Abendstunden ein Lungenödem bildete, verlangsamte die Angeklagte die Dolantinzufuhr fast bis zum Stillstand. Die Patientin röchelte, stöhnte und erbrach eine bräunliche Flüssigkeit.


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Die Angeklagten zogen Dr. S. hinzu, der zum Absaugen der Lunge 50 mg Dolantin intravenös spritzte und dann mehrfach absaugte. Alle drei beteiligten Ärzte diskutierten gegen 2.00 Uhr des 4. Juni 1987, ob ein Transport in ein Krankenhaus sinnvoll sei; sie gingen zu diesem Zeitpunkt davon aus, daß die Patientin ohnehin sterben werde. Zur Überzeugung der Strafkammer beschlossen sie sodann gemeinsam, wobei der Angeklagte D. M. einen bestimmenden Einfluß ausübte, Frau V. nicht mehr in ein Krankenhaus zu bringen und sie mit einer schnell verabreichten Überdosis Dolantin zu töten. Die Angeklagte C. M. und Dr. S. hatten dabei das Motiv, der Patientin durch einen raschen und schmerzlosen Tod weitere Leiden zu ersparen, während beim Angeklagten D. M. die Absicht im Vordergrund stand, durch einen schnellen Tod Frau V. mittels eines gefälschten Testaments beerben zu können. Dr. S. mischte den sogenannten "kleinen Tropf" mit 100 ml NaCl, 300 mg Dolantin und zwei Ampullen Atosil, schloß ihn an und stellte ihn ein. Die von ihm geführte Krankenkarte enthält hierzu folgenden Eintrag: "03. VI. (1.15) zunehmende Somnolenz, Erbrechen von Mageninhalt, zentraler Venenweg, Magensonde, NaCl mit 3 A Dolantin, 2 A Atosil, 3 x Absaugen, (1,5 Std)". Danach entfernten sich Dr. S. und der Angeklagte D. M., während die Angeklagte C. M. bei der Patientin verblieb und sich weiter um das Absaugen bemühte. Die Infusion lief in maximal 55 Minuten durch und führte zur Überzeugung der Strafkammer zum Atemstillstand und damit zum Tod.
I. Revision der Angeklagten
Die Verurteilung der Angeklagten wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts beruht auf Rechtsfehlern und Annahmen, die nach dem im Urteil mitgeteilten Beweisergebnis einer gesicherten Tatsachengrundlage entbehren (wird ausgeführt).
Die Beweiswürdigungsmängel zum Vorliegen eines Tötungsentschlusses und zur Todesursächlichkeit der Dolantingabe führen auf die Revisionen der Angeklagten zur Aufhebung des Urteils mit den zugrundeliegenden Feststellungen; eine teilweise Aufrechterhaltung kommt nicht in Betracht.
II. Revision der Staatsanwaltschaft
Die Staatsanwaltschaft beanstandet zu Recht, daß das Land

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gericht beim Angeklagten D. M. zwar Mord aus Habgier angenommen, gleichwohl aber von der Verhängung der nach § 211 Abs. 1 StGB vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafe abgesehen hat, weil es diese im Sinne der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur lebenslangen Freiheitsstrafe (BVerfGE 45, 187) und dem daraufhin ergangenen Beschluß des Großen Senats (BGHSt 30, 105) für unverhältnismäßig gehalten hat. In den Fällen des Mordes wegen Tötung aus Habgier kann die lebenslange Freiheitsstrafe nicht wegen außergewöhnlicher Umstände im Sinne von BGHSt 30, 105 durch eine zeitige Freiheitsstrafe nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB ersetzt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat lediglich bei den Mordmerkmalen der Heimtücke und der Verdeckung einer Straftat eine Kollision mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für möglich gehalten; die Entscheidung des Großen Senats betrifft nur das Merkmal der Heimtücke. Das Merkmal der Habgier ist ohnehin eng auszulegen. Es liegt bei einem Motivbündel nur vor, wenn das Gewinnstreben tatbeherrschend und damit bewußtseinsdominant war (z.B. BGH NJW 1995, 2365, 2366). Wird ein Mensch aus einem solch niedrigen Motiv getötet, so verstößt die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe nicht gegen den verfassungskräftigen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Es besteht daher auch keine Veranlassung zu einer analogen Anwendung des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Im übrigen würde das von der Strafkammer festgestellte strafbare Verhalten des Angeklagten ohnehin nicht die Annahme außergewöhnlicher Umstände im Sinne von BGHSt 30, 105 rechtfertigen.
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist dagegen unbegründet, soweit sie sich gegen die Verurteilung der Angeklagten C. M. wegen Totschlags richtet und eine Verurteilung wegen Mordes erstrebt. Nach den Feststellungen der Strafkammer gingen beide Angeklagten und der von ihnen hinzugezogene Internist Dr. S. bei Fassung des gemeinsamen Tötungsentschlusses davon aus, "daß Frau V. ohnehin sterben würde und es nur noch darum ging, sie möglichst rasch sterben zu lassen, um ihr weiteres Leiden zu ersparen". Dies war - anders als bei dem Angeklagten D. M. - das alleinige Motiv der Angeklagten, die der Meinung war, daß Frau V. schon einen Trans

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port ins Krankenhaus nicht mehr überleben würde. Sie saugte die Flüssigkeit aus der Luftröhre der Sterbenden ab, wobei sie nicht einmal den Eintritt des Todes bemerkte. Daß unter diesen Umständen das ärztlich und altruistisch motivierte Verhalten der Angeklagten C. M. nicht als Heimtücke-Mord oder Mord aus niedrigen Beweggründen zu bewerten ist, liegt auf der Hand. Die Staatsanwaltschaft verkennt, daß auf der Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen selbst die Verurteilung wegen Totschlags durchgreifenden rechtlichen Bedenken unterliegt. Denn das Landgericht hat nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen, daß die Angeklagte von den tatsächlichen Voraussetzungen der straflosen sog. indirekten Sterbehilfe ausgegangen ist. Eine ärztlich gebotene schmerzlindernde Medikation bei einem sterbenden Patienten wird nämlich nicht dadurch unzulässig, daß sie als unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene unvermeidbare Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigen kann. In der Literatur ist streitig, ob diese sogenannte indirekte Sterbehilfe schon ihrem sozialen Sinngehalt nach aus dem Tatbestand der Tötungsdelikte herausfällt (so z.B. Dreher/Tröndle, StGB 47. Aufl. vor § 211 Rdn. 17; Jähnke in LK 10. Aufl. vor § 211 Rdn. 15 und 17). Auch wenn man dies verneint (vgl. zu den Gründen Merkel JZ 1996, 1145, 1148), kann das zu einer Lebensverkürzung führende, den Tatbestand des § 212 oder des § 216 StGB erfüllende Handeln des Arztes jedenfalls nach der Notstandsregelung des § 34 StGB gerechtfertigt sein (so z.B. Lackner, StGB 21. Aufl. vor § 211 Rdn. 7; Schreiber NStZ 1986, 337, 340; weitere Nachw. bei Herzberg NJW 1996, 3043 in Fn. 1). Entsprechendes gilt für die Strafbarkeit wegen versuchten Totschlags. Denn die Ermöglichung eines Todes in Würde und Schmerzfreiheit gemäß dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen (BGHSt 37, 376) ist ein höherwertiges Rechtsgut als die Aussicht, unter schwersten, insbesondere sog. Vernichtungsschmerzen noch kurze Zeit länger leben zu müssen (vgl. Kutzer NStZ 1994, 110, 115 und FS für Salger 1995 S. 663, 672).