BVerfGE 12, 139 - Briefwahleinführung


BVerfGE 12, 139 (139):

Der Grundsatz der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verpflichtet den Gesetzgeber nicht, die Briefwahl einzuführen.
 
Beschluß
des Zweiten Senats vom 7. Februar 1961 durch den gemäß § 91 a BVerfGG gebildeten Ausschuß
-- 2 BvR 23/61 --
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Hauptfeldwebels ..., Wunstorf bei Hannover, Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr...., gegen § 28 Abs. 3 des Niedersächsischen Gemeinde- und Kreis

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wahlgesetzes (Niedersächsisches Kommunalwahlgesetz -- NKWG) in der Fassung vom 20. Januar 1961 (GVBl. S. 5), nebst Antrag auf den Erlaß einer einstweiligen Anordnung.
 
Entscheidungsformel:
Die Verfassungsbeschwerde vom 13. Januar 1961 wird gemäß § 91 a Absatz 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 (BGBl. I S. 243) in der Fassung vom 21. Juli 1956 (BGBl. I S. 662) verworfen.
 
Gründe:
I.
In dem Niedersächsischen Gemeinde- und Kreiswahlgesetz (Niedersächsisches Kommunalwahlgesetz -- NKWG) in der Fassung vom 20. Januar 1961 (GVBl. S. 5) ist ebenso wie in den früheren niedersächsischen Kommunalwahlgesetzen die Möglichkeit der Stimmabgabe durch Wahlbrief (Briefwahl) nicht vorgesehen. § 28 Abs. 3 NKWG bestimmt:
"Der Wähler kann seine Stimme nur im Wahlraum abgeben, und zwar nur in dem Stimmbezirk, in dessen Wählerverzeichnis er geführt wird."
Dagegen wendet sich der Beschwerdeführer, ein Hauptfeldwebel der Bundeswehr, mit der am 15. Januar 1961 bei Gericht eingegangenen Verfassungsbeschwerde.
Sie ist im wesentlichen wie folgt begründet: Die Briefwahl sei im Bundeswahlgesetz sowie in den meisten Landtags- und Kommunalwahlgesetzen zugelassen. Dies sei unter den heutigen Verhältnissen auch unbedingt geboten, da sich erfahrungsgemäß am Wahltag stets eine Reihe von Wahlberechtigten auf Reisen befinde oder aus einem anderen Grunde verhindert sei, das für sie zuständige Wahllokal persönlich aufzusuchen. Letzteres sei insbesondere bei den Angehörigen der Bundeswehr der Fall, die für die Dauer des Wehrdienstverhältnisses zwar ihren bisherigen Wohnsitz beibehielten, aber infolge Einberufung, Versetzung oder Kommandierung nicht in der Lage seien, ihr Wahlrecht an ihrem

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Heimatort auszuüben. Entsprechendes gelte für Bundesbahn-, Bundespost- und Grenzschutzangehörige sowie für nicht gehfähige alte oder kranke Personen. Der faktische Ausschluß dieser Aktivbürger von den Kommunalwahlen durch die Nichtzulassung der Briefwahl sei mit dem allgemeinen Gleichheitssatz sowie mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl unvereinbar.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich unzulässig. Soweit die Verfassungsbeschwerde sich unmittelbar gegen § 28 Abs. 3 NKWG richtet, ist sie verspätet. Gemäß § 93 Abs. 2 BVerfGG kann die Verfassungsbeschwerde gegen eine gesetzliche Bestimmung nur binnen eines Jahres seit dem Inkrafttreten der angegriffenen Norm erhoben werden. Diesem Erfordernis ist nicht genügt.
Nach § 28 Abs. 3 NKWG kann der Wähler seine Stimme nur persönlich im Wahlraum seines Stimmbezirks abgeben. Diese Vorschrift fand sich aber schon im Niedersächsischen Kommunalwahlgesetz vom 18. Juli 1956 (GVBl. S. 81). Sie ist seitdem materiell nicht geändert worden. Die angegriffene Bestimmung war ursprünglich in § 28 Abs. 4 enthalten. Die Änderungsgesetze vom 20. März 1960 (GVBl. S. 11) und 27. August 1960 (GVBl. S. 229) ließen sie in ihrem Wortlaut unverändert. In der Bekanntmachung vom 23. Mai 1960 (GVBl. S. 35) erschien sie infolge der neuen Paragraphenzählung als § 27 Abs. 4. Durch das Änderungsgesetz vom 18. Januar 1961 (GVBl. S. 1) in Verbindung mit der Bekanntmachung vom 20. Januar 1961 (GVBl. S. 5) erfuhr die Vorschrift lediglich insofern eine Änderung, als das Wort "Stimmen" im Zuge der Reduzierung der Wählerstimmen von bisher drei Stimmen auf eine Stimme durch das Wort "Stimme" ersetzt wurde und infolge der neuen Paragraphenzählung nunmehr als § 28 Abs. 3 erschien. Hiernach haben die Änderungsgesetze weder den materiellen Gehalt noch -- von der erwähnten, rein redaktionellen Änderung abgesehen -- den Wortlaut oder den Anwendungsbereich der angegriffenen Norm berührt. Diese gilt viel

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mehr seit dem Inkrafttreten des Niedersächsischen Kommunalwahlgesetzes vom 18. Juli 1956 am 21. Juli 1956 (§ 56) ausnahmslos in gleicher Weise für alle Wähler. Die Jahresfrist des § 93 Abs. 2 BVerfGG ist nicht gewahrt.
Der Verfassungsbeschwerde muß der Erfolg aber auch insoweit versagt bleiben, als mit ihr die Feststellung begehrt wird, daß der niedersächsische Landesgesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet sei, die Briefwahl einzuführen. Der Grundsatz der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl in seiner gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz formalisierten Bedeutung verbietet zwar dem Gesetzgeber, bestimmte Bevölkerungsgruppen aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen von der Ausübung des Wahlrechts auszuschließen oder das Stimmgewicht dieser Gruppen verschieden zu bewerten. Eine solche unterschiedliche Behandlung ist in dem lediglich den technischen Ablauf des Wahlvorganges regelnden § 28 Abs. 3 NKWG nicht enthalten. Nicht dagegen hat der Gesetzgeber die zusätzliche verfassungsrechtliche Pflicht, auch in einem positiven Sinne dafür Sorge zu tragen, daß die Aktivbürger, die aus einem in ihrer Person oder in der Ausübung ihres Berufes liegenden Grunde freiwillig oder unfreiwillig ihr Wahlrecht am Wahlort nicht auszuüben vermögen, von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen können. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach entschieden, daß der einzelne Staatsbürger grundsätzlich einen mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbaren Anspruch auf ein Handeln des Gesetzgebers nur in den seltenen Fällen hat, in denen der Beschwerdeführer sich auf einen ausdrücklichen Auftrag des Grundgesetzes berufen kann, der Inhalt und Umfang der Gesetzgebungspflicht näher umgrenzt (vgl. hierzu BVerfGE 1, 97 [100 f.]; 2, 237 [244]; 6, 257 [264]). Ein solcher Auftrag ist im vorliegenden Zusammenhang nicht nachweisbar. Unter dem Blickpunkt des Grundsatzes der Geheimheit der Wahl und der Bedeutung, den der Wahlakt ursprünglich im parlamentarischen Repräsentativsystem hatte, sind sogar gegen die Einführung der Briefwahl zunächst verfassungsrechtliche Bedenken erhoben worden. Wenn ungeachtet derselben der Bund

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und die Länder geglaubt haben, in zunehmendem Ausmaß in ihren Wahlgesetzen im Laufe der letzten Jahre die Briefwahl einführen zu sollen, so hat der Gesetzgeber diese Regelung im Rahmen seines freien politischen Ermessens getroffen, ohne von Verfassungs wegen zu derselben rechtlich verpflichtet gewesen zu sein.
Bei dieser Sachlage kann die weitere Frage dahingestellt bleiben, ob die Verfassungsbeschwerde nicht auch mangels konkreter Beschwer unzulässig ist. Ist der Beschwerdeführer Berufssoldat, so wäre er möglicherweise durch die Nichtzulassung der Briefwahl schon deshalb nicht beschwert, weil er nach § 9 BGB seinen Wohnsitz in seinem jeweiligen Standort hat. Hinzu kommt, daß grundsätzlich allen Soldaten nach Maßgabe der Anordnung des Bundesministers für Verteidigung vom 24. Februar 1960 (VMBl. S. 147) auf Antrag der erforderliche Urlaub zu erteilen ist, wenn das Wahlrecht nicht durch Briefwahl ausgeübt werden kann. Eine angebliche Beschwer Dritter kann der Beschwerdeführer im Rahmen der Verfassungsbeschwerde nicht geltend machen (BVerfGE 1, 91 [95]; 2, 292 [294]).
Schließlich kann auch aus der Tatsache allein, daß in anderen Wahlgesetzen andere Regelungen getroffen worden sind, ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht hergeleitet werden. Der Landesgesetzgeber ist mit Rücksicht auf die föderalistische Struktur der Bundesrepublik nur gehalten, den Gleichheitssatz innerhalb des Geltungsbereichs der Landesverfassung zu wahren. Die Verfassungsmäßigkeit eines Landesgesetzes kann daher grundsätzlich nicht deshalb in Zweifel gezogen werden, weil dieses von verwandten Regelungen in anderen Bundesländern abweicht (BVerfGE 10, 354 [371]).
Mit der Verwerfung der Verfassungsbeschwerde erledigt sich auch der Antrag auf den Erlaß einer einstweiligen Anordnung.