BVerfGE 37, 363 - Bundesrat


BVerfGE 37, 363 (363):

1. Nicht jedes Gesetz, das ein mit Zustimmung des Bundesrates ergangenes Gesetz ändert, ist allein aus diesem Grund zustimmungsbedürftig.
2. Wenn ein mit Zustimmung des Bundesrates ergangenes Gesetz durch ein Gesetz geändert wird, das selbst neue Vorschriften enthält, die ihrerseits die Zustimmungsbedürftigkeit auslösen, so ist das Änderungsgesetz zustimmungsbedürftig.
3. Ändert das Änderungsgesetz Regelungen, die die Zustimmungsbedürftigkeit ausgelöst haben, so bedarf es ebenfalls der Zustimmung des Bundesrates.
4. Enthält ein Zustimmungsgesetz sowohl materiell-rechtliche Regelungen als auch Vorschriften für das Verwaltungsverfahren der Lan

BVerfGE 37, 363 (364):

desverwaltung gemäß Art. 84 Abs. 1 GG, so ist ein dieses Gesetz änderndes Gesetz zustimmungsbedürftig, wenn durch die Änderung materiellrechtlicher Normen die nicht ausdrücklich geänderten Vorschriften über das Verwaltungsverfahren bei sinnorientierter Auslegung ihrerseits eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite erfahren.
 
Beschluß
des Zweiten Senats vom 25. Juni 1974
- 2 BvF 2, 3/73 -
in dem Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung des Gesetzes zur Änderung der Vorschriften der gesetzlichen Rentenversicherung (Viertes Rentenversicherungsänderungsgesetz) vom 30. März 1973 (BGBl. I S. 257), Antragsteller: 1. die Regierung des Landes Rheinland-Pfalz, vertreten durch den Minister der Justiz, Mainz, Ernst-Ludwig-Straße 3 - Bevollmächtigte: Rechtsanwalt Dr. Hermann Maassen, Bonn-Bad Godesberg, Schubertstraße 12; Professor Dr. Hans Heinrich Rupp, Mainz-Bretzenheim, Am Marienpfad 29 -, 2. die Regierung des Freistaates Bayern, vertreten durch den Ministerpräsidenten, München, Prinzregentenstraße 7.
Entscheidungsformel:
Das Gesetz zur Änderung von Vorschriften der gesetzlichen Rentenversicherungen (Viertes Rentenversicherungs-Änderungsgesetz) vom 30. März 1973 (Bundesgesetzbl. I Seite 257) ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
 
Gründe:
 
A. - I.
Die Regierung des Landes Rheinland-Pfalz und die Bayerische Staatsregierung halten das Gesetz zur Änderung von Vorschriften der gesetzlichen Rentenversicherungen (Viertes Rentenversicherungs-Änderungsgesetz - 4. RVÄndG) vom 30. März 1973 (BGBl. I S. 257) - im folgenden auch Änderungsgesetz oder Gesetz vom 30. März 1973 - für unvereinbar mit dem Grundgesetz, weil es ohne Zustimmung des Bundesrates erlassen worden ist.
1. Das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz änderte das Gesetz zur weiteren Reform der gesetzlichen Rentenversiche

BVerfGE 37, 363 (365):

rungen und über die Fünfzehnte Anpassung der Renten aus den gesetzlichen Rentenversicherungen sowie über die Anpassung der Geldleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung (Rentenreformgesetz - RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl. I S. 1965).
Das Rentenreformgesetz ist mit Zustimmung des Bundesrates ergangen. Es hat das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung der Reichsversicherungsordnung, des Angestelltenversicherungs- und des Reichsknappschaftsgesetzes in wesentlichen Teilen umgestaltet und für den Bezug von Altersruhegeld die sogenannte flexible Altersgrenze eingeführt. Kern dieser Neuregelung, deren wesentliche Bestimmungen am 1. Januar 1973 in Kraft traten (Art. 6 § 8 Abs. 1 RRG), ist für die Arbeiterrentenversicherung § 1248 RVO in der Fassung des Art. 1 § 1 Nr. 7 RRG.
Diese Vorschrift lautete:
    § 1248
    (1) Altersruhegeld erhält auf Antrag der Versicherte, der das 63. Lebensjahr vollendet hat oder der das 62. Lebensjahr vollendet hat und in diesem Zeitpunkt anerkannter Schwerbeschädigter im Sinne des § 1 des Schwerbeschädigtengesetzes oder berufsunfähig (§ 1246 Abs. 2) oder erwerbsunfähig (§ 1247 Abs. 2) ist, wenn die Wartezeit nach Absatz 7 Satz 1 erfüllt ist.
    (2) Altersruhegeld erhält auf Antrag auch der Versicherte, der das 60. Lebensjahr vollendet, die Wartezeit nach Absatz 7 Satz 2 erfüllt hat und nach einer Arbeitslosigkeit von mindestens zweiundfünfzig Wochen innerhalb der letzten eineinhalb Jahre arbeitslos ist.
    (3) Altersruhegeld erhält auf Antrag auch die Versicherte, die das 60. Lebensjahr vollendet und die Wartezeit nach Absatz 7 Satz 2 erfüllt hat, wenn sie in den letzten zwanzig Jahren überwiegend eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat.
    (4) Neben einem Altersruhegeld nach den Absätzen 2 und 3 darf der Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres im Laufe eines jeden Jahres seit dem erstmaligen Rentenbeginn eine Beschäftigung oder eine Tätigkeit nur bis zu einem Entgelt oder einem Arbeitseinkommen ausüben, das ein Achtel der für Jahresbezüge geltenden Beitragsbemessungsgrenze (§ 1385 Abs. 2) nicht überschreitet. Das Altersruhegeld fällt mit dem Ablauf des Monats weg, in dem

    BVerfGE 37, 363 (366):

    der Versicherte im Laufe des nach Satz 1 maßgebenden Jahres ein Entgelt oder ein Arbeitseinkommen erreicht, das den Rahmen des Satzes 1 überschreitet.
    (5) Altersruhegeld erhält auch der Versicherte, der das 65. Lebensjahr vollendet und die Wartezeit nach Absatz 7 Satz 2 erfüllt hat.
    (6) Der Versicherte kann bestimmen, daß ein späterer Zeitpunkt als das in den Absätzen 1 bis 3 und 5 genannte Lebensalter für die Erfüllung der Voraussetzungen maßgebend sein soll.
    (7) Die Wartezeit für das Altersruhegeld nach Absatz 1 ist erfüllt, wenn fünfunddreißig anrechnungsfähige Versicherungsjahre, in denen mindestens eine Versicherungszeit von einhundertachtzig Kalendermonaten enthalten ist, zurückgelegt sind. Die Wartezeit für das Altersruhegeld nach den Absätzen 2, 3 und 5 ist erfüllt, wenn eine Versicherungszeit von einhundertachtzig Kalendermonaten zurückgelegt ist. Für das Altersruhegeld aus Beiträgen der Höherversicherung ist die Erfüllung der Wartezeit nicht erforderlich.
    (8) Neben dem Altersruhegeld wird Rente wegen Berufsunfähigkeit oder wegen Erwerbsunfähigkeit nicht gewährt.
Die Vorschrift des § 1248 RVO wurde durch § 1254 Abs. 1 a RVO in der Fassung des Art. 1 § 1 Nr. 10a RRG für den Fall ergänzt, daß Versicherte, die auf Grund ihres Lebensalters Altersruhegeld beziehen könnten, sich für einen späteren Rentenbeginn entscheiden. Diese Vorschrift lautete:
    § 1254
    (1) Der Jahresbetrag des Altersruhegeldes ist für jedes anrechnungsfähige Versicherungsjahr (§ 1258) 1,5 vom Hundert der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage (§ 1255); er erhöht sich um die Steigerungsbeträge für entrichtete Beiträge der Höherversicherung (§ 1261) und um den Kinderzuschuß (§ 1262).
    (1 a) Hat der Versicherte die Voraussetzungen für das Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 1 oder 5 erfüllt, erhöht sich der Jahresbetrag seines Altersruhegeldes ohne Steigerungsbeträge aus Beiträgen der Höherversicherung und ohne Kinderzuschuß für jeden Kalendermonat, für den er nach Erfüllung der Voraussetzungen für Zeiten zwischen der Vollendung des 63. Lebensjahres und dem Ablauf des Monats, in dem er das 67. Lebensjahr vollendet, das Altersruhegeld nicht in Anspruch genommen hat, um 0,4 vom Hundert. Die Erhöhung wird bei der Berechnung des Altersruhegeldes in der Weise

    BVerfGE 37, 363 (367):

    berücksichtigt, daß bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre für jeden nach Satz 1 zuschlagfähigen Kalendermonat 0,4 vom Hundert der von dem Versicherten an Beitrags-, Ersatz- und Ausfallzeiten zurückgelegten Kalendermonate als zusätzliche Kalendermonate angerechnet werden, wobei deren Gesamtzahl auf volle Kalendermonate nach oben aufzurunden ist. Die zusätzlichen Kalendermonate werden bei Anwendung von Vorschriften, nach denen eine Leistung von einer bestimmten Anzahl anrechnungsfähiger Versicherungsjahre abhängt, nicht berücksichtigt. Die Sätze 1 und 2 gelten nicht bei Versicherten, die bereits ein Altersruhegeld oder nach Vollendung des 63. Lebensjahres Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit bezogen haben.
    (2) Erfüllt der Empfänger einer Rente wegen Berufsunfähigkeit oder wegen Erwerbsunfähigkeit die Voraussetzungen für ein Altersruhegeld, so ist die Rente im Falle des § 1248 Abs. 5, sofern der Versicherte nicht etwas anderes bestimmt, von Amts wegen, in den Fällen des § 1248 Abs. 1 bis 3 auf Antrag in das Altersruhegeld umzuwandeln. § 1253 Abs. 2 Sätze 3 bis 5 gilt entsprechend.
Die Neuregelung des § 1254 Abs. 1 a RVO betraf Zeiten des Rentenaufschubs nach dem 31. Dezember 1972; sie war anzuwenden für Rentenfeststellungen nach dem 30. Juni 1973 (Art. 6 § 2 RRG).
Für den Beginn des Bezugs von Altersruhegeld galt nach § 1290 RVO in der Fassung des Art. 1 § 1 Nr. 19 RRG:
    § 1290
    (1) Die Rente ist ... vom Ablauf des Monats an zu gewähren, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind. Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 1 bis 3 ist vom Ablauf des Monats an zu gewähren, in dem seine Voraussetzungen erfüllt sind, jedoch vom Beginn des Antragsmonats an, wenn der Antrag später als drei Monate nach Erfüllung der Voraussetzungen gestellt wird.
    (2) ...
    (3) Erhöhung oder Wiedergewährung der Rente kann nur vom Beginn des Antragsmonats an verlangt werden ... Ist ein Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 4 weggefallen und endet die Beschäftigung oder Tätigkeit wieder, wird das Altersruhegeld auf Antrag bereits mit dem Ersten des auf das Ende der Beschäftigung oder Tätigkeit folgenden Kalendermonats wiedergewährt, und zwar mindestens in

    BVerfGE 37, 363 (368):

    Höhe des Betrags, der sich bei ununterbrochener Zahlung des Altersruhegeldes ergeben würde.
In das Angestelltenversicherungsgesetz und das Reichsknappschaftsgesetz waren den §§ 1248, 1254 Abs. 1a und 2, 1290 Abs. 1 und 3 RVO entsprechende Regelungen aufgenommen worden (vgl. Art. 1 § 2 Nrn. 10 und 19, § 3 Nrn. 8 und 15 RRG).
2. a) Der Fraktionsentwurf von SPD und FDP betreffend ein Gesetz zur Änderung von Vorschriften der gesetzlichen Rentenversicherungen vom 13. Dezember 1972 (BTDrucks. 7/3) wollte die durch das Rentenreformgesetz getroffene Regelung der flexiblen Altersgrenze aus allgemeinen sozialpolitischen, gesundheits- und finanzpolitischen Gründen dahin abändern, daß allen in § 1248 RVO aufgeführten Empfängern vorgezogenen Altersruhegeldes - auch denjenigen nach § 1248 Abs. 1 RVO - nur noch eine begrenzte Erwerbstätigkeit gestattet sein sollte (vgl. BTDrucks. 7/3, Seite 1). Der Bundestag hat diesen Entwurf als Viertes Rentenversicherungs-Änderungsgesetz am 20. Dezember 1972 verabschiedet.
Der Bundesrat stellte in seiner 389. Sitzung vom 2. Februar 1973 fest, daß das Gesetz seiner Zustimmung bedürfe und rief den Vermittlungsausschuß an. Nachdem der Vermittlungsausschuß das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz in der vom Bundestag beschlossenen Fassung bestätigt hatte, versagte der Bundesrat dem Gesetz am 21. Februar 1973 die Zustimmung.
Die Bundesregierung, die das Gesetz nicht für zustimmungsbedürftig hielt, empfahl dem Bundestag, das für die Behandlung eines Einspruchs des Bundesrates in Art. 77 Abs. 4 Satz 1 GG vorgesehene Verfahren durchzuführen (vgl. BTDrucks. 7/307); dies unterblieb jedoch. Das Gesetz wurde am 31. März 1973 verkündet.
b) Durch Art. 1 § 1 Nr. 1 des 4. RVÄndG hat § 1248 Abs. 4 RVO folgende Fassung erhalten:
    (4) Anspruch auf ein Altersruhegeld nach Absatz 1 besteht bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres neben einer Beschäftigung gegen

    BVerfGE 37, 363 (369):

    Entgelt oder neben einer Erwerbstätigkeit nur, wenn die Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit
    a) nur gelegentlich, insbesondere zur Aushilfe, für eine Zeitdauer, die im Laufe eines jeden Jahres seit dem erstmaligen Beginn des Altersruhegeldes auf nicht mehr als drei Monate oder insgesamt fünfundsiebzig Arbeitstage nach der Natur der Sache beschränkt zu sein pflegt oder im voraus durch Vertrag beschränkt ist, oder
    b) zwar laufend oder in regelmäßiger Wiederkehr, aber nur gegen ein Entgelt oder ein Arbeitseinkommen, das durchschnittlich im Monat drei Zehntel der für Monatsbezüge geltenden Beitragsbemessungsgrenze (§ 1385 Absatz 2) nicht überschreitet,
    ausgeübt wird; mehrere Beschäftigungen oder Erwerbstätigkeiten werden zusammengerechnet. Bei einem Altersruhegeld nach Absatz 2 oder 3 gilt Satz 1 vom Ablauf des Monats an, in dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllt sind; im übrigen gilt Satz 1 mit der Maßgabe, daß an die Stelle der in Satz 1 Buchstabe b genannten drei Zehntel der für Monatsbezüge geltenden Beitragsbemessungsgrenze ein Achtel dieser Beitragsbemessungsgrenze tritt. Das Altersruhegeld fällt mit Beginn des Monats weg, in dem die Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit den Rahmen der Sätze 1 und 2 überschreitet. Der Versicherte ist verpflichtet, die Aufnahme oder Ausübung einer Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit, die den Rahmen der Sätze 1 und 2 überschreitet. dem Rentenversicherungsträger unverzüglich anzuzeigen.
§ 1254 Abs. 1 a RVO wurde neu gefaßt; er lautet nunmehr:
    (1 a) Hat der Versicherte die Voraussetzungen für das Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 5 erfüllt und nimmt er das Altersruhegeld für Zeiten nach Erfüllung der Voraussetzungen bis zur Vollendung des 67. Lebensjahres nicht in Anspruch, so erhöht sich der Jahresbetrag seines Altersruhegeldes um einen Zuschlag. Der Zuschlag beträgt für jeden Kalendermonat nach Erfüllung der Voraussetzungen bis zur Vollendung des 67. Lebensjahres einschließlich, für den der Versicherte das Altersruhegeld nicht in Anspruch genommen und Beiträge entrichtet hat, 0,6 vom Hundert des Jahresbetrages des Altersruhegeldes ohne Steigerungsbeträge aus Beiträgen der Höherversicherung und ohne Kinderzuschuß, auf den der Versicherte im Zeitpunkt der erstmaligen Erfüllung der Voraussetzungen Anspruch gehabt hätte. Die Sätze 1 und 2 gelten nicht bei Versicherten, die bereits ein Altersruhegeld oder nach Vollendung des 63. Lebensjahres Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit bezogen haben.


BVerfGE 37, 363 (370):

Nach § 1254 Abs. 1 a RVO wurde ein Absatz 1 b eingefügt, welcher lautet:
    (1 b) Der Zuschlag nach Absatz 1 a wird bei der Berechnung des Altersruhegeldes in der Weise berücksichtigt, daß
    1. bei der Ermittlung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage außer den Beitrags-, Ersatz- und Ausfallzeiten für jeden nach Absatz 1 a zuschlagfähigen Kalendermonat als zusätzliche Kalendermonate das Produkt aus der Anzahl der bis zum Zeitpunkt der erstmaligen Erfüllung der Voraussetzungen des § 1248 Abs. 5 zurückgelegten Kalendermonate an Beitrags-, Ersatz- und Ausfallzeiten und dem in Absatz 1 a genannten Vomhundertsatz berücksichtigt und jedem dieser zusätzlichen Kalendermonate, deren Gesamtzahl auf volle Kalendermonate nach oben aufzurunden ist, der Wert zugrunde gelegt wird, der sich als Monatsdurchschnitt aus allen bis zum Zeitpunkt der erstmaligen Erfüllung der Voraussetzungen des § 1248 Abs. 5 zurückgelegten Beitrags-, Ersatz- und Ausfallzeiten ergibt, höchstens jedoch der Wert 16,66, und
    2. bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre die bei Anwendung der Nummer 1 ermittelten zusätzlichen Kalendermonate den Beitrags-, Ersatz- und Ausfallzeiten hinzugerechnet werden; die zusätzlichen Kalendermonate werden bei Anwendung von Vorschriften, nach denen eine Leistung von einer bestimmten Anzahl anrechnungsfähiger Versicherungsjahre abhängt, nicht berücksichtigt.
Schließlich wurde § 1290 Abs. 3 RVO der Änderung des § 1248 RVO angepaßt; er bestimmt jetzt:
    ... Ist ein Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 4 weggefallen und endet die Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit wieder oder überschreitet sie nicht mehr den Rahmen des § 1248 Abs. 4 Satz 1 und 2, so wird das Altersruhegeld auf Antrag mit dem Ersten des Monats wiedergewährt, in dem eine Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit nicht mehr ausgeübt wird oder den Rahmen des § 1248 Abs. 4 Satz 1 und 2 nicht mehr überschreitet; das Altersruhegeld ist mindestens in Höhe des Betrages zu gewähren, der sich bei ununterbrochener Zahlung des Altersruhegeldes ergeben würde.
Die einschlägigen Bestimmungen des Angestelltenversicherungsgesetzes und des Reichsknappschaftsgesetzes sind entsprechend geändert worden (Art. 1 §§ 2, 3 des 4. RVÄndG).


BVerfGE 37, 363 (371):

c) Das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz ist mit Rückwirkung auf den 1. Januar 1973 in Kraft getreten. § 1248 Abs. 1 RVO in der Fassung des Rentenreformgesetzes bleibt gültig für die Versicherten, welche zwar das vorgezogene Altersruhegeld beanspruchen, gleichzeitig aber voll erwerbstätig bleiben wollen und deswegen in der Zeit zwischen 21. September 1972 und 21. Dezember 1972 ein Beschäftigungsverhältnis geändert oder unter Aufgabe der bisherigen Tätigkeit ein solches Verhältnis begründet haben, soweit diese Versicherten im neuen oder geänderten Beschäftigungsverhältnis weniger als 90 vom Hundert ihres im Jahre 1972 erzielten Bruttoeinkommens verdienen und die Altersrente vor dem 21. Dezember 1972 beantragt haben; die nach § 1248 RVO alter Fassung gezahlten Altersrenten dürfen nicht zurückgefordert werden (Art. 2 § 1 des 4. RVÄndG). Rentenzuschläge werden nur für Versicherungsfälle nach dem 30. Juni 1973 und für Zeiten des Rentenaufschubs nach dem 31. Dezember 1972 gewährt (Art. 2 § 2 des 4. RVÄndG).
II.
Die Regierung des Landes Rheinland-Pfalz und die Bayerische Staatsregierung haben gemäß Art. 93 Abs. 1 Satz 2 GG den Antrag gestellt, das Bundesverfassungsgericht möge feststellen, daß das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 30. März 1973 mit dem Grundgesetz nicht vereinbar und daher nichtig ist.
III.
1. a) Nach Ansicht der Regierung des Landes Rheinland-Pfalz hätte das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz der Zustimmung des Bundesrates bedurft, weil dieses Gesetz ein Zustimmungsgesetz - nämlich das Rentenreformgesetz - geändert hat. Die Zustimmung des Bundesrates zum Rentenreformgesetz sei gemäß Art. 84 Abs. 1 GG notwendig gewesen. Mit seiner Zustimmung habe der Bundesrat, welcher nach dem Willen des Grundgesetzes bei Zustimmungsgesetzen gleichberechtigt mit dem Bundestag an der Gesetzgebung des Bundes mitwirke, die Ver

BVerfGE 37, 363 (372):

antwortung für das gesamte Gesetzeswerk übernommen. Wegen des inhaltlichen Aufeinanderbezogenseins von Änderungsgesetz und zu änderndem Gesetz berühre jede Gesetzesänderung diese Verantwortung des Bundesrates, auch wenn die geänderte Norm für sich gesehen nicht zustimmungsbedürftig sei. Diese Rechtsauffassung entspreche der ständigen Praxis des Bundesrates. Sie liege der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Oktober 1968 (BVerfGE 24, 184; betrifft die Ausstellung der Apostille nach dem Haager Übereinkommen vom 5. Oktober 1961) zugrunde. Wenn das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung die Zustimmung des Bundesrates schon für den Fall verlangt habe, daß eine Rechtsverordnung ein Zustimmungsgesetz näher ausführe, dann müsse ein Gesetz, welches das Zustimmungsgesetz teilweise ändere, erst recht zustimmungsbedürftig sein.
b) Das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz sei auch deswegen zustimmungsbedürftig gewesen, weil es Regelungen des Rentenreformgesetzes geändert habe, welche für dieses Gesetz die Zustimmungsbedürftigkeit begründet hätten oder mit solchen Bestimmungen untrennbar zusammenhingen. So hätten die durch die §§ 1248, 1254 Abs. 1 a RVO dem Versicherten gebotenen Möglichkeiten, den Rentenbeginn und die Rentenhöhe zu gestalten, auch das Verfahren der Rentenbewilligung beeinflußt. Daneben hätten die §§ 1248, 1254 RVO den Umfang der den Versicherungsträgern nach § 1325 RVO neuer Fassung obliegenden Registrierungs- und Auskunftspflichten - eindeutigen Verfahrensregelungen im Sinne des Art. 84 Abs. 1 GG - neu bestimmt und seien dadurch selbst zustimmungsbedürftig geworden.
c) Das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz regle selbst das von den Versicherungsträgern einzuhaltende Verwaltungsverfahren. § 1290 Abs. 3 Satz 3 RVO in der Fassung des Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes habe für eine große Personengruppe - die Empfänger vorgezogenen Altersruhegeldes, deren Erwerbstätigkeit geendet habe oder nicht mehr den Rahmen des § 1248 Abs. 4 Satz 1 und 2 RVO überschreite - den Antrag auf Wiedergewährung des Altersruhegeldes neu einge

BVerfGE 37, 363 (373):

führt. Dieser Antrag sei verfahrensrechtlicher Natur. Das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz berühre auch dadurch das Recht der Bundesländer, Bundesgesetze grundsätzlich als eigene Angelegenheit auszuführen, daß § 1248 Abs. 4 Satz 4 RVO den Versicherten nun verpflichte, den Beginn einer rentenschädlichen Tätigkeit anzuzeigen. Damit habe der Bundesgesetzgeber das Ermittlungsverfahren der Versicherungsträger reglementiert. Schließlich enthalte § 1254 RVO neuer Fassung eine Regelung des Verwaltungsverfahrens, indem er den Versicherungsträgern vorschreibe, wie sie die anrechnungsfähigen Versicherungsjahre und die persönliche Rentenbemessungsgrundlage dann zu berechnen haben, wenn ein Versicherter über sein 65. Lebensjahr hinaus erwerbstätig bleibt.
d) Endlich leitet die Landesregierung von Rheinland-Pfalz die Zustimmungsbedürftigkeit des Vierten Rentenversicherungs -Änderungsgesetzes daraus her, daß das Gesetz Vorschriften des Rentenreformgesetzes über die flexible Altersgrenze einerseits aufhebe, sie aber andererseits in Art. 2 § 1 für bestimmte Personengruppen wieder in Kraft setze. Damit verlängere das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz die Geltungsdauer des Rentenreformgesetzes; dies hätte ebenfalls der Zustimmung des Bundesrates bedurft.
2. Die Bayerische Staatsregierung hat sich im wesentlichen auf die Begründung des Antrages der Landesregierung von Rheinland-Pfalz bezogen und darauf hingewiesen, daß für die Entscheidung des Bundesrates, einem Gesetz zuzustimmen, auch materiell-rechtliche Erwägungen bedeutsam seien. Gerade dies verbiete, ein Zustimmungsgesetz ohne erneute Zustimmung des Bundesrates zu ändern.
IV.
1. Der Bundesrat teilt entsprechend seiner ständigen Praxis die Auffassung der Antragsteller, daß das Gesetz vom 30. März 1973 seiner Zustimmung bedurft hätte.
a) Nach seiner Meinung ergibt sich die Zustimmungsbedürftig

BVerfGE 37, 363 (374):

keit schon daraus, daß das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz unter anderem eine Reihe von Bestimmungen der Reichsversicherungsordnung förmlich ändert, die durch das mit Zustimmung des Bundesrates ergangene Rentenreformgesetz vom 16. Oktober 1972 neu gefaßt worden waren. Die Zustimmungsbedürftigkeit des Rentenreformgesetzes habe sich daraus ergeben, daß es in mehreren seiner Bestimmungen das Verwaltungsverfahren der Länder im Sinne des Art. 84 Abs. 1 GG regle, so z. B. in Art. 1 § 1 Nr. 25 betreffend § 1325 RVO.
Gesetze, die ein mit Zustimmung des Bundesrates ergangenes Bundesgesetz förmlich änderten, bedürften nach der Rechtsauffassung des Bundesrates seiner Zustimmung.
Das Grundgesetz regle diese Frage zwar nicht expressis verbis. Das Zustimmungserfordernis ergebe sich jedoch aus der föderativen Bedeutung des verstärkten Mitwirkungsrechts des Bundesrates bei Zustimmungsgesetzen und aus der Tragweite der Zustimmung, die der Bundesrat für das zu ändernde Gesetz erteile.
Bei Zustimmungsgesetzen wirke der Bundesrat in vollem Umfang gleichberechtigt neben dem Bundestag am Zustandekommen des Gesetzes mit. Die Zustimmung beziehe sich auf alle Normen des Gesetzes und nicht nur auf die, welche die Zustimmungsbedürftigkeit ausgelöst hätten. Wenn sich der Gesetzgeber für die Zusammenfassung von Normen in einem Gesetz entschieden habe, sei damit auch über die Zustimmungsbedürftigkeit aller in diesem Gesetz enthaltenen Normen befunden. Für die Zustimmung übernehme der Bundesrat die Mitverantwortung für alle Bestimmungen des Gesetzes. Der innere Grund hierfür liege darin, daß jedes Gesetz eine zweckbezogene und zweckgerichtete Einheit bilde. Zwischen seinen Vorschriften bestehe ein enger innerer Zusammenhang. Das gelte auch für das Verhältnis der materiell-rechtlichen Regelungen eines Gesetzes zu den Verfahrens- und Organisationsvorschriften. Letztere hätten die Aufgabe, den Vollzug des materiellen Rechts sicherzustellen; sie bestimmten den Weg, auf dem die materiellen Ziele erreicht werden könnten. Beide Normengruppen bedingten sich gegenseitig.


BVerfGE 37, 363 (375):

Die Interdependenz von materiellem und formellem Recht bilde im Falle des Art. 84 Abs. 1 GG den Grund dafür, daß die Zustimmung dem Gesetz als Ganzem zu erteilen sei.
Entscheidend für die Willensbildung des Bundesrates, einem Gesetz die Zustimmung zu erteilen oder zu versagen, sei die Gesamtwürdigung des Gesetzesinhalts. Ausschlaggebend für die Zustimmung des Bundesrates könnten sehr wohl die materiell-rechtlichen Regelungen sein, um deretwillen der Bundesrat bereit sein könne, Regelungen des Verwaltungsverfahrens in Kauf zu nehmen.
Übernehme der Bundesrat mit seiner Zustimmung die Verantwortung für das Gesetz als Ganzes, so müsse jede nachträgliche Änderung von Teilen des Gesetzes, falls sie ohne seine Zustimmung ergehen könnte, seiner gesetzgeberischen Ermessensentscheidung und der mit ihr übernommenen Gesamtverantwortung die Grundlage entziehen.
b) Darüber hinaus hält der Bundesrat das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz auch deshalb für zustimmungsbedürftig, weil es selbst - etwa in Art. 1 § 1 Nr. 3 (§ 1290 Abs. 3 Satz 3 RVO) - Regelungen des Verfahrens von Verwaltungsbehörden der Länder enthalte.
2. a) Die Bundesregierung unterstreicht die dem Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetz zugrunde liegenden sozialpolitischen Erwägungen. Das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz habe vor allem der Gefahr begegnen sollen, daß ein Versicherter angesichts der ihm im Rentenreformgesetz gebotenen finanziellen Anreize seine Gesundheit gefährde. Die noch nicht rentenberechtigten Versicherten hätten es auch kaum verstanden, daß sie die Renten von Arbeitskollegen aus ihren Versicherungsbeiträgen mitfinanzieren müßten, während diese zusätzlich zur Rente ihr volles Arbeitseinkommen weiter beziehen dürften; dies habe die Grundlagen der Sozialversicherung bedroht. Die Regelung der flexiblen Altersgrenze durch das Rentenreformgesetz habe schließlich auch die Gesamtfinanzierung der Rentenversicherung gefährdet.


BVerfGE 37, 363 (376):

b) Das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz sei gültig, obwohl der Bundestag das Gesetz nicht gemäß Art. 77 Abs. 4 Satz 1 GG bestätigt habe. Hiervon habe der Bundestag zutreffend abgesehen, weil der Bundesrat hier auf die bis 1968 geübte Verfahrensweise verzichtet habe, bei Gesetzen, die er im Gegensatz zum Bundestag und zu der Bundesregierung für zustimmungsbedürftig halte, ausdrücklich hilfsweise Einspruch einzulegen.
c) Das Grundgesetz verlange die Zustimmung des Bundesrates zu einem Gesetz nicht stets dann, wenn es Länderinteressen berühre. Der Bundesgesetzgeber könne den Ländern beliebige Aufgaben zur Durchführung in landeseigener Verwaltung übertragen, ohne daß den Ländern gegen ein solches Bundesgesetz ein anderes Mittel als der Einspruch durch den Bundesrat nach Art. 77 Abs. 2 GG offen stünde. Nur bei Vorliegen eines der im Grundgesetz abschließend genannten Zustimmungstatbestände könne der Bundesrat dem Gesetz mit dem unüberwindbaren Veto der Zustimmungsverweigerung begegnen.
Die Ansicht des Bundesrates über die Zustimmungsbedürftigkeit von Änderungsgesetzen widerstreite dem Verfassungsprinzip der Rechtssicherheit. Es sei äußerst schwierig festzustellen, ob ein das Zustimmungsrecht begründender untrennbarer Zusammenhang bestehe. Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Oktober 1968 (BVerfGE 24, 184 ff.) stütze die Bundesratsmeinung nicht. Diese Entscheidung beruhe auf dem durch Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG betonten formellen Verbund von ermächtigendem Gesetz und Rechtsverordnung. Das vom Bundesrat bei Änderungsgesetzen in Anspruch genommene Zustimmungsrecht sei schließlich kein geeigneter Ausgleich für einen den Ländern entstandenen Kompetenzverlust.
d) Nach Auffassung der Bundesregierung enthält das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz auch seinerseits keine zustimmungsbedürftigen Vorschriften. Das Gesetz regle nicht das von den Versicherungsträgern anzuwendende Verwaltungsverfahren. Der in Art. 1 § 1 Nr. 3 des 4. RVÄndG (§ 1290 Abs. 3 Satz 3 RVO) für die Wiedergewährung des Altersruhegeldes vor

BVerfGE 37, 363 (377):

geschriebene Antrag des Versicherten, habe ausschließlich materiell-rechtliche Bedeutung. Die in Art. 1 § 1 Nr. 1 des 4. RVÄndG (§ 1248 Abs. 4 Satz 4 RVO) statuierte Anzeigepflicht betreffe nur den Versicherten, nicht aber die Versicherungsträger.
Die Bestimmungen über die Berechnung des Rentenzuschlages enthielten ausschließlich materielle Regelungen; die Bedeutung dieser Normen erschöpfe sich darin, berücksichtigungsfähige Rechnungsposten zu bezeichnen und deren Wert festzusetzen. Das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz habe schließlich auch nicht die Geltungsdauer von Vorschriften des Rentenreformgesetzes verlängert; es habe lediglich bestimmt, welche Bereiche vom Änderungsgesetz nicht erfaßt sein und damit fortgelten sollen. Ein untrennbar innerer Zusammenhang von zustimmungspflichtigen Normen des Rentenreformgesetzes und Vorschriften des Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes bestehe nicht. Die Neuregelung vermehre zwar das Maß der von den Versicherungsträgern zu erledigenden Aufgaben, ohne aber damit das bei der Erfüllung dieser Aufgaben zu beachtende Verfahren zu regeln.
3. Die Regierung des Landes Baden-Württemberg ist der Ansicht, das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz sei nicht verfassungsgemäß zustande gekommen. Sie stützt sich auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 80 Abs. 2 GG und meint, daß die dort für die Zustimmungsbedürftigkeit von Rechtsverordnungen dargelegten Gesichtspunkte in gleicher Weise für die Änderung von Gesetzen gelten müßten, welche mit Zustimmung des Bundesrates ergangen seien. Das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz habe deshalb der Zustimmung des Bundesrates bedurft. Der Bundesrat habe gegen seinen Willen nicht aus der von ihm für das Rentenreformgesetz übernommenen Verantwortung verdrängt werden können. Im übrigen sei das Gesetz vom 30. März 1973 auch gemäß Art. 84 Abs. 1 GG zustimmungsbedürftig: Art. 1 § 1 Nr. 3 des Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (§ 1290 Abs. 3 Satz 3 RVO) enthalte neues Verfahrensrecht, indem er den Versicherungsträgern

BVerfGE 37, 363 (378):

vorschreibe, daß ihr Bewilligungsverfahren auf Antrag in Gang komme; § 1290 Abs. 3 Satz 3 RVO in Verbindung mit § 1248 Abs. 4 RVO erweitere ebenso wie § 1254 Abs. 1 a, b RVO jeweils in der Fassung des Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes das frühere Recht in sachlicher und personeller Hinsicht und regle dadurch auch das Verfahren der Sozialversicherungsträger neu.
4. Ähnlich hat sich die Landesregierung von Schleswig-Holstein geäußert.
5. Der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg hält das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz nicht für zustimmungsbedürftig. Zwar habe auch der Bundesrat für das Rentenreformgesetz Verantwortung übernommen. Das Maß dieser Verantwortung übersteige aber nicht das dem Bundesrat durch die Billigung eines Einspruchsgesetzes erwachsende Maß an Mitverantwortung. Ob ein Änderungsgesetz zustimmungsbedürftig sei oder den Bundesrat zum Einspruch berechtige, entscheide allein der Inhalt des jüngeren Gesetzes; auf dessen formalen Bezug zum älteren Zustimmungsgesetz komme es nicht an. Schließlich enthalte das beanstandete Gesetz auch keine Verfahrensvorschriften im Sinne des Art. 84 Abs. 1 GG.
 
B.
Die Anträge sind zulässig. Sie betreffen beide die Frage der Vereinbarkeit des Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes mit dem Grundgesetz; die beiden Verfahren sind deshalb zur gemeinsamen Entscheidung verbunden worden.
Die Antragsteller haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.
 
C.
Das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz ist mit dem Grundgesetz vereinbar.


BVerfGE 37, 363 (379):

I.
Der Bundesgesetzgeber war für den Erlaß dieses Änderungsgesetzes zuständig; es betrifft die Sozialversicherung (Art. 74 Nr. 12 GG).
II.
1. Der Zustimmung des Bundesrates zu diesem Gesetz bedurfte es nicht.
Das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz hat zwar das Rentenreformgesetz vom 16. Oktober 1972 geändert. Das geänderte Gesetz war mit Zustimmung des Bundesrates ergangen. Die Zustimmung war gemäß Art. 84 Abs. 1 GG erforderlich, weil das Gesetz durch die Neufassung des § 1325 Abs. 3 und 4 RVO das Verfahren der Landesversicherungsanstalten geregelt und außerdem den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung ermächtigt hat, weitere Regelungen durch Rechtsverordnung zu treffen.
Mit der Zustimmungsbedürftigkeit des Rentenreformgesetzes steht jedoch noch nicht fest, daß auch das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz der Zustimmung des Bundesrates bedurft hätte. Nicht jedes Gesetz, das ein Zustimmungsgesetz ändert, ist schon allein aus diesem Grunde zustimmungsbedürftig. Das Grundgesetz enthält keine Vorschrift, der sich ein solcher Grundsatz entnehmen ließe. Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage bisher nicht entschieden, sie vielmehr in seinem Beschluß vom 9. Oktober 1968 im Verfassungsstreit über den Erlaß der Verordnung betreffend die Ausstellung der sogenannten Apostille ausdrücklich offengelassen (BVerfGE 24, 184 [198]). Für die nunmehr getroffene Entscheidung sind folgende Gründe maßgebend:
a) Die im Grundgesetz vorgesehene Aufteilung der Staatsgewalt zwischen Bund und Ländern erfordert gewisse Schutzvorrichtungen dagegen, daß in dem föderalistischen Gefüge "Systemverschiebungen" am Grundgesetz vorbei im Wege der einfachen Gesetzgebung herbeigeführt werden. Diesem Zweck dienen - zu

BVerfGE 37, 363 (380):

gunsten der Länder - die Zustimmungsvorbehalte im Grundgesetz für den Bundesrat. Dazu gehört auch Art. 84 Abs. 1 GG. Er bindet deshalb ein Bundesgesetz, welches Vorschriften enthält, die das Verfahren der Landesverwaltung regeln, an die Zustimmung des Bundesrates als desjenigen Bundesorgans, durch das die Länder bei der Gesetzgebung des Bundes mitwirken. Dadurch, daß der Bundesrat dem Rentenreformgesetz als Ganzem zugestimmt hat, hat er auch sein Einverständnis mit der "Systemverschiebung" erklärt, die darin liegt, daß das Rentenreformgesetz in § 1325 RVO das Verfahren der Landesverwaltung geregelt hat. Dieser "Einbruch" in den den Ländern in Art. 83 GG im Grundsatz garantierten Bereich der verwaltungsmäßigen Ausführung der Bundesgesetze ist mit der Zustimmung des Bundesrates zum Rentenreformgesetz "genehmigt". Erfolgt in einem späteren Änderungsgesetz kein neuer Einbruch in das Landesreservat, also keine erneute Systemverschiebung, so fehlen die Voraussetzungen dafür, auch für dieses Gesetz die Zustimmung des Bundesrates zu verlangen.
b) Nach der Regelung des Grundgesetzes ist der Bundesrat nicht eine zweite Kammer eines einheitlichen Gesetzgebungsorgans, die gleichwertig mit der "ersten Kammer" entscheidend am Gesetzgebungsverfahren beteiligt wäre (hierzu und zum folgenden siehe Friesenhahn, Die Rechtsentwicklung hinsichtlich der Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen und Verordnungen des Bundes, in: Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft - Beiträge zum 25jährigen Bestehen des Bundesrates der Bundesrepublik Deutschland, 1974, S. 251 ff.).
Dies zeigt schon die Verkündungsformel für Gesetze, die selbst beim Zustimmungsgesetz nicht lautet: "Bundestag und Bundesrat haben das folgende Gesetz beschlossen", sondern: "Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen".
Nach Art. 77 Abs. 1 GG werden die Bundesgesetze vom Bundestag beschlossen. Der Bundesrat wirkt bei der Gesetzgebung lediglich mit (Art. 50 GG). Diese Mitwirkung konkretisiert sich

BVerfGE 37, 363 (381):

einmal durch die Ausübung des Initiativrechts (Art. 76 Abs. 1 GG), durch Stellungnahme zu den Vorlagen der Bundesregierung im ersten Durchgang (Art. 76 Abs. 2 GG), durch Anrufung des Vermittlungsausschusses (Art. 77 Abs. 2 GG), durch Einlegung des Einspruchs gegen ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz sowie durch Erteilung oder Verweigerung der Zustimmung (Art. 77 Abs. 3 GG). Dabei ist wesentlich, daß das Erfordernis der Zustimmung zu einem Gesetz nach dem Grundgesetz die Ausnahme ist. Die Zustimmung ist nur in bestimmten, im Grundgesetz einzeln ausdrücklich aufgeführten Fällen erforderlich, in denen der Interessenbereich der Länder besonders stark berührt wird (BVerfGE 1, 76 [79]). Aus diesem Grundsatz läßt sich ein allgemeines Kontrollrecht des Bundesrates nicht herleiten: Da die meisten Bundesgesetze Länderinteressen irgendwie berühren, würde die für Kompetenzvorschriften selbst notwendige Klarheit verlorengehen, wollte man eine so weit und allgemein gefaßte Kompetenz des Bundesrates annehmen (Friesenhahn, a.a.O.).
c) Es ist richtig, daß der Bundesrat jedes zustimmungsbedürftige Gesetz seinem ganzen Inhalt nach prüft und nicht nur die Vorschriften, die die Zustimmungsbedürftigkeit auslösen. Er darf deshalb auch einem Gesetz, das sowohl materielle Normen als auch Vorschriften über das Verfahren der Landesverwaltung enthält, deshalb die Zustimmung versagen, weil er nur mit der materiellen Regelung nicht einverstanden ist. Wenn der Bundesrat einem Gesetz zustimmt, so stimmt er stets dem gesamten Inhalt des Gesetzes zu.
d) Daraus, daß sich die Zustimmung des Bundesrates auf das ganze Gesetz als eine gesetzgebungstechnische Einheit bezieht, folgt aber nicht, daß jedes Änderungsgesetz wiederum der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Die Auffassung vom Zustimmungsgesetz als einer gesetzgebungstechnischen Einheit spricht vielmehr gegen die Zustimmungsbedürftigkeit von Änderungsgesetzen (Friesenhahn, a.a.O.; Hesse, Die Regelung von Rundfunkleistungen der Bundespost durch Rechtsverordnung, Beiträge zum Rundfunkrecht, Heft 8, S. 26 f.; Bettermann, Legislative

BVerfGE 37, 363 (382):

ohne Posttarifhoheit, Beiträge zum Rundfunkrecht, Heft 10, S. 34 f.; BVerwGE 28, 36 [43, 44]).
Auch das Änderungsgesetz ist eine gesetzgebungstechnische Einheit, bei dessen Erlaß, ebenso wie bei jedem anderen Gesetz, sämtliche Voraussetzungen der Gesetzgebung erneut und selbständig zu prüfen sind: Es muß festgestellt werden, ob der Bundesgesetzgeber für den Erlaß eines Gesetzes mit diesem Inhalt zuständig ist und ob das Gesetz seinem Inhalt nach zustimmungsbedürftig ist. Enthält das Gesetz nicht selbst auch zustimmungsbedürftige Vorschriften und ändert es auch keine solchen Vorschriften ab, so ist es nicht zustimmungsbedürftig. Die dem ursprünglichen - zustimmungsbedürftigen - Gesetz erteilte Zustimmung hat sich nur auf dieses Gesetz bezogen und konnte sich nur darauf beziehen. Die These, daß die Zustimmungsbedürftigkeit das Gesetz, durch dessen Inhalt sie ausgelöst worden ist, gewissermaßen "überlebt", daß sie also eine Fern- und Dauerwirkung haben soll mit der Folge, daß jedes Änderungsgesetz erneut der Zustimmung des Bundesrates bedarf, findet im Grundgesetz keine Stütze (Friesenhahn, a.a.O.).
e) Eine weitere Überlegung stützt dieses Ergebnis:
Der Bundestag ist nicht gehindert, in Ausübung seiner gesetzgeberischen Freiheit ein Gesetzesvorhaben in mehreren Gesetzen zu regeln (Friesenhahn, a.a.O.; Bettermann, a.a.O., S. 35; BVerwGE 28, 36 [43, 44]). Er kann z. B. die materiell-rechtlichen Vorschriften in ein Gesetz aufnehmen, gegen das dem Bundesrat nur ein Einspruch zusteht, und kann Vorschriften über das Verfahren der Landesverwaltung in einem anderen, zustimmungsbedürftigen Gesetz beschließen, wie das in der Praxis nicht selten geschieht.
Folgte man hier der Auffassung des Bundesrates, so wäre eine spätere Änderung des ersten Gesetzes, das nur materielles Recht enthält, nicht zustimmungsbedürftig; wären materielle und Verfahrensvorschriften aber in einem - dann zustimmungsbedürftigen - Gesetz enthalten, so wäre jede spätere Änderung dieses Gesetzes ebenfalls zustimmungsbedürftig. Es wäre aber wider

BVerfGE 37, 363 (383):

sinnig, wollte man diese beiden Fälle verschieden entscheiden (vgl. auch BVerwGE 28, 36 [43, 44]).
f) Wäre die Auffassung des Bundesrates richtig, so müßte eine erhebliche Verschiebung der Gewichte zwischen dem die Interessen der Länder vertretenden Bundesrat einerseits und dem Bundestag und der Bundesregierung andererseits im Bereich des Gesetzgebungsverfahrens insofern die Folge sein, als das Zustimmungsgesetz dann die Regel wäre und das Einspruchsgesetz die Ausnahme (Hesse, a.a.O., S. 26; BVerwGE 28, 36 [43, 44]). Die Zahl der Zustimmungsgesetze würde sich erheblich vermehren. Dies aber widerspräche der Gesamtkonzeption des Grundgesetzes, die von einer Gleichgewichtigkeit zwischen allen am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verfassungsorganen ausgeht.
g) Diese Entscheidung ist mit fünf gegen drei Stimmen ergangen.
2. Allerdings gibt es eine Reihe von Fällen, in denen für die Änderung eines Zustimmungsgesetzes wiederum die Zustimmung des Bundesrates erforderlich ist. Das liegt auf der Hand, wenn das Änderungsgesetz selbst neue Vorschriften enthält, die ihrerseits die Zustimmungsbedürftigkeit auslösen. Gleiches gilt, wenn von der Änderung solche Regelungen des geänderten Gesetzes betroffen sind, die seine Zustimmungsbedürftigkeit begründet hatten. Dazu gehört auch der Fall, daß ein Zustimmungsgesetz, das sowohl materiell-rechtliche Normen als auch Vorschriften über das Verfahren der Landesverwaltung (Art. 84 Abs. 1 GG) enthält, durch ein Gesetz geändert wird, das sich zwar auf die Regelung materiell-rechtlicher Fragen beschränkt, in diesem Bereich jedoch Neuerungen in Kraft setzt, die den nicht ausdrücklich geänderten Vorschriften über das Verwaltungsverfahren eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite verleihen.
Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
III.
Das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz wäre also dann nicht nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande

BVerfGE 37, 363 (384):

gekommen, wenn es Vorschriften für das Verfahren der Landesverwaltung enthielte, da es dann gemäß Art. 84 Abs. 1 GG nur mit Zustimmung des Bundesrates hätte ergehen dürfen.
Für die Prüfung dieser Frage kommt es nur auf diejenigen Bestimmungen des Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes an, die sich auf die Arbeiterrentenversicherung beziehen. Träger der Arbeiterrentenversicherung sind die Landesversicherungsanstalten; sie sind Landesbehörden. Dagegen sind die Träger der Angestelltenversicherung und der Knappschaftsversicherung Bundesanstalten: die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und die Bundesknappschaft.
Einstimmig verneint hat der Senat, daß § 1254 RVO neuer Fassung Bestimmungen für das Verwaltungsverfahren der Länder enthält. Die Abstimmung im Senat darüber, ob das Gesetz in den §§ 1290 Abs. 3 Satz 3 RVO neuer Fassung und in 1248 Abs. 4 Satz 4 RVO neuer Fassung solche Vorschriften nach Art. 84 Abs. 1 GG enthält, hat Stimmengleichheit ergeben. Deshalb kann gemäß § 15 Abs. 2 Satz 4 BVerfGG hinsichtlich dieser Vorschriften ein Verstoß gegen das Grundgesetz nicht festgestellt werden.
1. Die Auffassung, die die Entscheidung über §§ 1290 Abs. 3 Satz 3 RVO neuer Fassung und 1248 Abs. 4 Satz 4 RVO neuer Fassung trägt, beruht auf folgenden Gründen:
a) Die im Grundgesetz normierte Teilung der Staatsgewalt zwischen Bund und Ländern ist für den Bereich der Verwaltung in Art. 83 GG so geordnet, daß die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit ausführen, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zuläßt.
Um die Länder vor einem Eindringen des Bundes in den ihnen vorbehaltenen Bereich der Verwaltung zu schützen und damit eine Aushöhlung des Grundsatzes von Art. 83 GG zu verhindern, bindet Art. 84 Abs. 1 GG Bundesgesetze, die Vorschriften über das Verwaltungsverfahren der Landesbehörden enthalten, an die Zustimmung des Bundesrates.
In Art. 84 Abs. 1 GG steht, daß die Länder, wenn sie Bundesgesetze als eigene Angelegenheit ausführen, das Verwaltungsver

BVerfGE 37, 363 (385):

fahren regeln, soweit nicht Bundesgesetze mit Zustimmung des Bundesrates "etwas anderes bestimmen". Darunter sind nur solche Bundesgesetze zu verstehen, die selbst das Verwaltungsverfahren der Landesbehörden regeln (vgl. BVerfGE 10, 20 [49]; 14, 197 [219]).
b) Aus Art. 83 GG ergibt sich, daß die Länder nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet sind, zur Ausführung von Bundesgesetzen verwaltend tätig zu werden. Die Art und Weise aber, in der sie tätig sein sollen, das "Wie", wird bestimmt durch die Vorschriften über das Verwaltungsverfahren; sie regeln den Verwaltungsablauf im einzelnen.
c) § 1290 Abs. 3 Satz 3 RVO in der Fassung des Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes gewährt das vorgezogene Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 1 bis 3 RVO auf Antrag wieder, wenn die Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit wieder endet oder nicht mehr den Rahmen des § 1248 Abs. 4 Satz 1 und 2 RVO überschreitet.
aa) Das Bundesverfassungsgericht hat im vorliegenden Verfahren nicht darüber zu befinden, ob "ein" Bundesgesetz das Verfahren der Landesverwaltung gemäß Art. 84 Abs. 1 GG immer dann regelt, wenn es den an der Verwaltungsentscheidung Interessierten die Stellung eines Antrags vorschreibt. Hier wird nur entschieden, ob der in § 1290 Abs. 3 Satz 3 RVO in der Fassung des Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vorgesehene Antrag das Verfahren der Landesverwaltung, d. h. in diesem Falle der Landesversicherungsanstalten, regelt. Diese Frage ist zu verneinen.
Der Antrag nach § 1290 Abs. 3 Satz 3 RVO muß im Zusammenhang mit der Regelung des vorgezogenen Altersruhegeldes in § 1248 Abs. 1 bis 4 RVO in der Fassung des Rentenreformgesetzes und des Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes gesehen werden.
(1) § 1248 Abs. 1 RVO in der Fassung, die bis zum Inkrafttreten des Rentenreformgesetzes gegolten hat, hatte vorgesehen, daß Altersruhegeld der Versicherte erhält, der das 65. Lebensjahr vollendet hat, wenn die Wartezeit erfüllt ist. Der Anspruch ent

BVerfGE 37, 363 (386):

stand mit dem Beginn des Monats, in dem die gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen gegeben waren, unabhängig von der Stellung eines Antrages, unabhängig auch von der Stellung des Antrages auf Feststellung der Versicherungsleistungen nach § 1545 Abs. 1 Nr. 2 RVO und §§ 1613 ff. RVO. Eines Antrages im Sinne einer materiellen Anspruchsvoraussetzung bedurfte es damals nur für das Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 2 und 3 RVO (Arbeitslose über 60 Jahre und Frauen über 60 Jahre, die eine Erwerbstätigkeit nicht mehr ausübten [vgl. Dersch-Knoll-Brockhoff, Reichsversicherungsordnung, Gesamtkommentar, Band 2, Stand April 1974, Anm. 2 a zu § 1248]).
(2) Mit der Einführung der flexiblen Altersgrenze in dem durch das Rentenreformgesetz geänderten § 1248 Abs. 1 RVO erhielten die Versicherten, die bisher Altersruhegeld erst nach Vollendung des 65. Lebensjahres erhalten konnten, die Möglichkeit, Altersruhegeld schon nach Vollendung des 63. Lebensjahres oder - wenn schwerbeschädigt - des 62. Lebensjahres in Anspruch zu nehmen. Nun steht zwar in § 1248 Abs. 1 bis 3 RVO in der Fassung des Rentenreformgesetzes, daß das Altersruhegeld auf Antrag gewährt wird. Aus § 1290 Abs. 1 Satz 2 RVO, ebenfalls in der Fassung des Rentenreformgesetzes, geht jedoch hervor, daß der Anspruch auf Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 1 bis 3 RVO vom Ablauf des Monats an besteht, in dem seine Voraussetzungen erfüllt sind. Die Stellung eines Antrages ist Anspruchsvoraussetzung nur dann, wenn der Antrag später als drei Monate nach Erfüllung der Voraussetzungen gestellt wird: Dann ist das Altersruhegeld erst von Beginn des Antragsmonats an zu zahlen. Soweit der Antrag nach §§ 1248, 1290 Abs. 1 Satz 2 RVO nicht Anspruchsvoraussetzung ist, hat er lediglich die Bedeutung des in §§ 1545 Abs. 1 Nr. 2, 1613 ff. RVO vorgesehenen Antrages; im übrigen ist seine Erwähnung in § 1248 Abs. 1 bis 3 RVO in der Fassung des Rentenreformgesetzes nur eine Betonung des in § 1248 Abs. 6 RVO festgelegten Rechts des Versicherten, selbst zu bestimmen, in welchem Zeitpunkt der Versicherungsfall eintreten soll (Dersch-Knoll-Brockhoff, a.a.O., Anm. 2 a zu § 1248).


BVerfGE 37, 363 (387):

(3) Nach der Systematik der Reichsversicherungsordnung mußte der Gesetzgeber in den §§ 1248, 1290 Abs. 1 Satz 2 RVO für das vorgezogene Altersruhegeld nur die materiellen Anspruchsvoraussetzungen regeln, nicht aber das Verwaltungsverfahren der Versicherungsträger, weil dieses schon immer im Sechsten Buch der Reichsversicherungsordnung (Feststellung der Leistungen, I. Abschnitt, 1. Einleitung des Verfahrens) geregelt war. Dort bestimmt § 1545 RVO, daß die Leistungen aus der Reichsversicherung festzustellen sind, und zwar auf dem Gebiet der Unfallversicherung von Amts wegen, im übrigen auf Antrag. Dieser Antrag hat nur verfahrensrechtliche Bedeutung. Besondere Bestimmungen für das Verwaltungsverfahren der Versicherungsträger der Arbeiterrentenversicherung enthalten die §§ 1613 ff. RVO.
Wenn der Antrag in §§ 1248 Abs. 1 bis 3 und 1290 Abs. 1 Satz 2 RVO in der Fassung des Rentenreformgesetzes verfahrensrechtliche Bedeutung hätte, wäre er überflüssig, da, wie gesagt, schon nach § 1545 Abs. 2 Nr. 2 RVO Renten aus der Arbeiterrentenversicherung nur auf Antrag festgestellt werden. Lediglich die letztere Bedeutung kann der Antrag in § 1248 Abs. 1 bis 3 RVO noch haben. Der § 1290 Abs. 1 Satz 2 RVO hat dagegen eine darüber hinausgehende, also materiell-rechtliche Bedeutung (so für den alten § 1248 Abs. 2 und 3 RVO auch BSGE 13, S. 79 [81]; Aye-Brockhoff, Reichsversicherungsordnung, Gesamtkommentar, Band 3, Stand August 1973, Anm. 4 zu § 1545).
(4) Nichts anderes kann für den Antrag auf Wiedergewährung des Altersruhegeldes nach § 1290 Abs. 3 Satz 3 RVO in der Fassung des Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes gelten. Er ist die notwendige Ergänzung zu der in § 1248 Abs. 1 bis 3 RVO vorgesehenen Gewährung des Altersruhegeldes. Der Fall des Erlöschens und der späteren Wiedergewährung des Ruhegeldes kann deshalb eintreten, weil schon das Rentenreformgesetz für die Versicherten nach § 1248 Abs. 2 und 3 RVO (Arbeitslose und Frauen) eine Nebenverdiensthöchstgrenze eingeführt hatte, die das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz durch die Neufassung des § 1248 Abs. 4 RVO auf alle Versicherten aus

BVerfGE 37, 363 (388):

gedehnt hat. Wie eine rentenschädliche Nebentätigkeit den Rentenanspruch zum zeitweiligen Erlöschen bringen kann, so muß er nach Beendigung der rentenschädlichen Tätigkeit auch wieder neu entstehen können. Diese materiell-rechtliche Folge tritt ein, wenn der Antrag auf Wiedergewährung gestellt wird.
Der Antrag nach § 1290 Abs. 3 Satz 3 RVO ist also nur eine materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung, enthält aber keine verfahrensrechtliche Regelung.
bb) Selbst wenn man annehmen wollte, daß § 1290 Abs. 3 Satz 3 RVO in der Fassung des Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes mit der Vorschrift über die Antragstellung auch das Verwaltungsverfahren der Versicherungsträger betrifft, so hätte auch dies die Zustimmungsbedürftigkeit des Gesetzes nicht auslösen können. Das Verwaltungsverfahren ist - wie erwähnt - im Sechsten Buch der Reichsversicherungsordnung geregelt, wo §§ 1545, 1613 ff. RVO für die Feststellung von Leistungen aus der Reichsversicherung die Stellung eines Antrages vorschreiben.
§ 1290 Abs. 3 Satz 3 RVO ändert die §§ 1545, 1613 ff. RVO nicht; die in diesen Vorschriften enthaltene Regelung des Verwaltungsverfahrens bleibt vielmehr unverändert bestehen. Dann bedeutet aber § 1290 Abs. 3 Satz 3 RVO auch keinen neuen "Einbruch" in die Verwaltungshoheit der Länder, und Art. 84 Abs. 1 GG kann keine Anwendung finden (so auch Dersch-Knoll-Brockhoff, a.a.O., Anm. 5 b zu § 1248 RVO).
Auch die Überlegung, daß § 1290 Abs. 3 Satz 3 RVO sich etwa mit einem stillschweigenden Hinweis auf § 1545 RVO auf eine Vorschrift beziehe, die nach den Regeln des Grundgesetzes - Art. 84 Abs. 1 GG - zustimmungsbedürftig wäre, weil sie das Verfahren der Landesversicherungsanstalten regle, führt nicht zur Zustimmungsbedürftigkeit des § 1290 Abs. 3 Satz 3 RVO: § 1545 RVO gilt seit dem Erlaß der Reichsversicherungsordnung im Jahre 1911 unverändert und ist unter einer anderen Verfassungsordnung, die ein anderes Gesetzgebungsverfahren vorsah, Bestandteil der deutschen Rechtsordnung geworden. Der § 1545

BVerfGE 37, 363 (389):

RVO ist also nie eine "zustimmungsbedürftige Vorschrift" im Sinne des Art. 84 Abs. 1 GG gewesen.
cc) Das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz war auch nicht deshalb zustimmungsbedürftig, weil es den § 1290 Abs. 3 RVO in der Fassung des Rentenreformgesetzes personell und sachlich erweitert hat. Der Antrag auf Wiedergewährung des Altersruhegeldes kann zwar jetzt für eine größere Zahl von Versicherten praktisch werden. Dadurch ist jedoch nicht das Verwaltungsverfahren der Landesversicherungsanstalten anders als bisher geregelt worden. Nur ihr Geschäftsanfall hat sich möglicherweise vermehrt.
d) § 1248 Abs. 4 Satz 4 RVO in der Fassung des Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes verpflichtet den Versicherten, die Aufnahme oder Ausübung einer Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit, die den Rahmen von Satz 1 und 2 überschreitet, dem Rentenversicherungsträger unverzüglich anzuzeigen. Diese Vorschrift ist ebenfalls notwendig geworden durch die Einführung einer Nebenverdiensthöchstgrenze. Sie steht daher in engem Zusammenhang mit dem Antrag nach § 1248 Abs. 1 bis 3 RVO und § 1290 Abs. 3 Satz 3 RVO. Auch sie enthält keine Regelung des Verwaltungsverfahrens. Sie löst nur ein Verwaltungshandeln der Landesversicherungsanstalt aus, indem sie diese veranlaßt, die Einstellung der Rentenzahlung zu verfügen. § 1248 Abs. 4 Satz 4 RVO ist aber nicht so zu verstehen, daß eine solche Maßnahme nur auf Grund dieser Anzeige erfolgen darf. Die Landesversicherungsanstalt wird durch § 1248 Abs. 4 Satz 4 RVO in ihrer Freiheit bei der Ermittlung rentenschädlicher Umstände bei den Versicherten nicht beschränkt.
2. Die von den anderen vier Richtern vertretene Auffassung, daß die §§ 1248 Abs. 4 Satz 4 und 1290 Abs. 3 Satz 3 RVO in der Fassung des Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes Vorschriften über das Verwaltungsverfahren in den Ländern enthalten und das Gesetz deshalb der Zustimmung des Bundesrates bedurft hätte, beruht auf folgenden Erwägungen:
a) Art. 84 Abs. 1 GG fordert die Zustimmung des Bundesrates

BVerfGE 37, 363 (390):

zu Bundesgesetzen, die "etwas anderes bestimmen" nicht nur dann, wenn sie das Verwaltungsverfahren mit Wirkung für die Länder ausdrücklich regeln, sondern auch dann, wenn sie in anderer Weise unmittelbar die Kompetenz der Länder berühren, das Verwaltungsverfahren selbst und eigenverantwortlich zu gestalten. Nur diese Auslegung des Art. 84 Abs. 1 GG wird der Bedeutung der Vorschrift für den föderativen Aufbau der Bundesrepublik gerecht: Der weitgehenden und im Laufe der Verfassungsentwicklung zunehmenden Konzentration der Gesetzgebungszuständigkeiten beim Bund (Art. 73 ff. GG) steht das Prinzip, daß im Regelfall die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten ausführen, gleichrangig zur Seite.
b) Vorschriften, die im Sinne von Art. 84 Abs. 1 GG das Verwaltungsverfahren regeln, sind alle gesetzlichen Bestimmungen, die den Weg und die Form der Willensbildung der Verwaltung bei der Gesetzesausführung betreffen, von der Vorbereitung und dem Beginn des Verwaltungshandelns bis hin zur Entscheidung selbst und deren Durchsetzung ggf. im Wege der Vollstreckung sowie der Entscheidungskontrolle im Bereich der Verwaltung. Die Vorschriften des Verwaltungsverfahrens richten sich dabei nicht nur an die Verwaltung, sondern - wie stets, wenn an einem Entscheidungsprozeß mehrere beteiligt sind - auch an das Gegenüber der Verwaltung, den Bürger. Das ist besonders sinnfällig in den Bereichen der Verwaltung, in denen Leistungen gewährt oder "Ausnahmen" von Regelpflichten eingeräumt werden, wie z. B. bei Steuererleichterungen und Gebührenbefreiungen, in Bereichen also, in denen die Sammlung der für das Verwaltungshandeln erforderlichen Daten nicht allein Sache der Verwaltung ist und sein kann, sondern einer Mitwirkung des Bürgers in bestimmten Formen und Fristen bedarf. Es kommt häufig vor, daß Vorschriften über das Verfahren und Normen materiell-rechtlichen Inhalts nicht nur gesetzgebungstechnisch, sondern auch von der Natur der Sache her eng miteinander verbunden sind, wie etwa eine Fristbestimmung oder Formvorschrift mit einer - materiell-rechtlich wirkenden - Sanktion des Frist- oder Formenverstoßes. Es kann

BVerfGE 37, 363 (391):

auch sein, daß eine Norm sowohl verfahrensrechtlichen wie materiell-rechtlichen Inhalt hat, wie bei einem Antragserfordernis, bei dem das "nur auf Antrag" zugleich eine Modalität des Beginns der Verwaltungstätigkeit im Einzelfall und eine Bedingung für das Entstehen eines materiell-rechtlichen Anspruchs regelt. Diese Umschreibung möglicher Normen des Verwaltungsverfahrens entspricht dem Tatbestand staatlicher Verwaltungstätigkeit, wie er sich in der Wirklichkeit darstellt. Art. 84 Abs. 1 GG knüpft daran an. Das enge Miteinander oder auch das "Ineinander" von Normen verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Inhalts vermag auch und gerade vom Sinn und Zweck des Art. 84 Abs. 1 GG her gesehen nichts daran zu ändern, daß eine solche Norm als - oder als auch - dem Verwaltungsverfahren zugehörig zu qualifizieren ist und damit die Zustimmungsbedürftigkeit des Art. 84 Abs. 1 GG auslöst. Im Gegenteil: der Bundesrat erteilt oder verweigert seine Zustimmung einem Gesetz, auf dessen Inhalt er zwar im Gesetzgebungsverfahren einwirken konnte, dessen endgültige Gestaltung jedoch allein auf der Beschlußfassung des Bundestages beruht (Art. 77 Abs. 1, Abs. 2 Satz 5 GG). Die Entscheidung über das Ausmaß einer "Verschränkung" von materiellrechtlichen und verfahrensrechtlichen Normen in dem von ihm beschlossenen Gesetz trifft mithin der Bundestag. Enthält es sowohl materiell-rechtliche wie verfahrensrechtliche Normen oder kommt einer Vorschrift sowohl materiell-rechtliche wie verfahrensrechtliche Bedeutung zu, so darf das nicht dazu führen, deshalb Art. 84 Abs. 1 GG nicht anzuwenden. Denn sonst wäre nicht mehr gewährleistet, daß der Regelfall der Ausführung der Bundesgesetze als eigene Angelegenheit und damit die Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens "Hausgut" der Länder bleibt, das nach dem Willen des Grundgesetzes vom Bundestag nur von Fall zu Fall und nur mit Zustimmung des Bundesrates geregelt werden darf.
c) Bei Anlegung dieses Maßstabes ergibt sich, daß § 1290 Abs. 3 Satz 3 und § 1248 Abs. 4 Satz 4 RVO in der Fassung des Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes das Verwaltungsverfah

BVerfGE 37, 363 (392):

ren der Landesversicherungsanstalten betreffen und damit die Zustimmung des Bundesrates zu dem Änderungsgesetz erforderten:
(1) § 1290 Abs. 3 Satz 3 RVO in der Fassung des Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes bestimmt, daß vorgezogenes Altersruhegeld auf Antrag wiedergewährt wird, wenn rentenschädliche Umstände, die zum Erlöschen des Rentenrechts geführt haben, wieder weggefallen sind. Hierdurch wird dem Versicherten eine Wahlmöglichkeit eröffnet: Er kann von sich aus einen "rentenschädlichen" Tatbestand beseitigen, z. B. eine die Nebenverdienstgrenze übersteigende Tätigkeit aufgeben, um die Anspruchsvoraussetzungen für ein vorgezogenes Altersruhegeld neu zu schaffen. Er wird ferner auch dann, wenn er die Nebentätigkeit unfreiwillig aufgibt, nicht bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres daran festgehalten, daß er bereits früher einmal aus dem Kreis der Empfänger des vorgezogenen Altersruhegeldes ausgeschieden ist. Insoweit hat die Vorschrift materiell-rechtlichen Inhalt. Sie betrifft aber auch das Verwaltungsverfahren, indem sie dem Versicherten als förmliches Mittel für die Ausübung seines Wahlrechts und zur Geltendmachung seines Anspruchs einen Antrag vorschreibt und damit zugleich die Verwaltung anweist, ohne Antrag, also von Amts wegen, überhaupt nicht tätig zu werden. Die gesetzgeberische Entscheidung darüber, ob die Verwaltung Sachverhalte von Amts wegen oder nur auf Antrag aufgreift, ist allemal eine Entscheidung, die - zumindest auch - das Verwaltungsverfahren betrifft (vgl. Bettermann, VVDStRL 17, 1959, S. 123 u. ö.; BVerfGE 24, 184 [195]). Sie beeinflußt nicht nur den Geschäftsanfall der Behörden im Sinne der Zahl der zu bearbeitenden Fälle, also das rein quantitative Ausmaß der Verwaltungstätigkeit, das die Länder auf Grund ihrer Pflicht zur Gesetzesausführung ohnehin übernehmen müssen, sondern auch die verfahrensrechtliche Stellung der Beteiligten und die verwaltungsverfahrensmäßigen Vorkehrungen im einzelnen, die beim Amtsverfahren nicht unerheblich anders zu gestalten sind als beim reinen Antragsverfahren.


BVerfGE 37, 363 (393):

(2) Ist danach die Zustimmungsbedürftigkeit für das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz nach Maßgabe des Art. 84 Abs. 1 GG zu bejahen, so kann dem nicht mit dem Argument begegnet werden, selbst wenn § 1290 Abs. 3 Satz 3 RVO in der Fassung des Änderungsgesetzes das Verwaltungsverfahren regele, so entfalle die Zustimmungsbedürftigkeit doch deshalb, weil das Antragserfordernis von Anfang an für die Leistungen der Rentenversicherung gemäß §§ 1545, 1613 ff. RVO gegolten habe und von diesem Prinzip auch bei der Einführung der flexiblen Altersgrenze mit Zustimmung des Bundesrates in §§ 1248 Abs. 1 bis 3, 1290 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 Satz 3 RVO in der Fassung des Rentenreformgesetzes ausgegangen worden sei. Das Änderungsgesetz hat, und das war seine erklärte Zielsetzung, durch die Beschränkung der Nebenverdienstmöglichkeiten den Kreis der Anspruchsberechtigten für das vorgezogene Altersruhegeld erheblich anders abgegrenzt, damit zugleich die Grundlagen der Entscheidungen der Versicherten verschoben und so - insbesondere im Bereich der Wiedergewährung des Altersruhegeldes - eine Vielzahl neuer, qualitativ anderer Verwaltungsfälle geschaffen. Wenn bei derart weittragenden Neuregelungen des materiellen Rechts für die damit verbundene Regelung des Verwaltungsverfahrens auf verfahrensrechtliche Einrichtungen desselben Gesetzes - etwa das Antragserfordernis - zurückgegriffen wird, sei es durch Wiederholung des Wortlauts einer allgemeinen Norm, sei es durch Verweisung auf diese oder sei es - wie hier - eingebettet in eine zugleich materiell-rechtliche Regelung, so vermag das die Zustimmungsbedürftigkeit im Sinne von Art. 84 Abs. 1 GG nicht zu beseitigen. Denn das Verfahrensrecht ist keine leere Hülse, die unter Umgehung des Art. 84 Abs. 1 GG mit beliebigen Inhalten gefüllt werden könnte. Darauf aber läuft bei Lichte besehen die Argumentation der gemäß § 15 Abs. 2 Satz 4 BVerfGG maßgeblichen Auffassung unter C III 1 dieses Beschlusses hinaus.
Sie vermag auch deshalb nicht zu überzeugen, weil sie an einem inneren Widerspruch leidet. Wie der Senat einstimmig festgestellt

BVerfGE 37, 363 (394):

hat, kann ein ein Zustimmungsgesetz änderndes Gesetz schon deshalb zustimmungsbedürftig sein, weil es sich zwar auf die Regelung materiell-rechtlicher Normen beschränkt, in diesem Bereich jedoch Neuerungen in Kraft setzt, die den nicht ausdrücklich geänderten Vorschriften über das Verwaltungsverfahren eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite verleihen (vgl. oben C II 2), so muß das um so mehr gelten, wenn ein Antragserfordernis nicht nur stillschweigend, sondern ausdrücklich auf eine neue Kategorie von Fällen erstreckt wird. Das ist hier der Fall.
(3) Aber auch abgesehen davon bedurfte das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz jedenfalls schon deshalb der Zustimmung des Bundesrates gemäß Art. 84 Abs. 1 GG, weil es in § 1248 Abs. 4 Satz 4 RVO den Versicherten eine Anzeigepflicht betreffend die Aufnahme oder Ausübung einer "rentenschädlichen" Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit auferlegt. Hierbei handelt es sich um die Statuierung einer verfahrensbezogenen Verpflichtung des Versicherten. Der Versicherte muß, um der Verwaltung die Kontrolle zu ermöglichen, ob die Anspruchsvoraussetzungen noch vorhanden sind, von sich aus der Verwaltung in Form einer Anzeige Daten liefern. Der Bundesgesetzgeber schreibt also für einen eindeutig verfahrensrechtlichen Vorgang, nämlich die Art und Weise des Sammelns entscheidungserheblicher Daten, die Mitwirkungspflicht eines Verfahrensbeteiligten verbindlich vor. Das ist eine Regelung des Verwaltungsverfahrens. Denn in welcher Art und Weise sich die Verwaltung Kenntnis von entscheidungserheblichen Tatsachen verschafft, ist Bestandteil ihres Verfahrens. Werden dabei dem am Verfahren beteiligten Bürger rechtliche Pflichten auferlegt, so ist das eine Regelung des Verwaltungsverfahrens im Sinne von Art. 84 Abs. 1 GG.
Dieses Ergebnis läßt sich auch nicht mit dem Hinweis in Frage stellen, daß § 1248 Abs. 4 Satz 4 RVO in der Fassung des Änderungsgesetzes im übrigen die Freiheit der Landesversicherungsanstalten bei der Ermittlung rentenschädlicher Umstände nicht beschränke. Entscheidend ist, daß - auch mit Wirkung für die

BVerfGE 37, 363 (395):

Landesverwaltung - ein Weg der Tatsachenermittlung durch Einführung der Anzeigepflicht verbindlich vorgeschrieben und geregelt worden ist.
3. § 1254 der Reichsversicherungsordnung in der Fassung des Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes enthält ausschließlich materiell-rechtliche Vorschriften; er regelt weder das Verwaltungsverfahren der Landesbehörden noch berührt er Interessen der Länder bei der verwaltungsmäßigen Ausführung des Gesetzes.
Der § 1254 RVO schränkt einmal den Kreis der zuschlagsberechtigten Versicherten gegenüber der Fassung des Rentenreformgesetzes wieder ein, indem nunmehr nur noch die Zeiten nach dem 65. Lebensjahr den - erhöhten - Rentenzuschlag erbringen (§ 1254 Abs. 1 a Satz 1 RVO in der Fassung des Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes). Ferner hat sich die Auswirkung des Rentenzuschlags auf die Berechnung des Altersruhegeldes gewandelt: Beeinflußte die Zahl der zuschlagsberechtigenden Monate nach § 1254 Abs. 1 a RVO in der Fassung des Rentenreformgesetzes nur die Gesamtzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre (§ 1254 Abs. 1 a Satz 2 RVO), so wirkt sie sich nun auch auf die Ermittlung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage (§ 1255 RVO) aus. Insgesamt hat das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz damit die Rentenberechnung modifiziert. Die Bestimmungen über die Rentenberechnung enthalten aber nur eine materielle Regelung und betreffen nicht das Verwaltungsverfahren.
4. Das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz ist demnach auch insoweit nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommen.
IV.
Der Bundesrat hat in seiner 389. Sitzung vom 2. Februar 1973 (Sitzungsbericht S. 25 B) die Anrufung des Vermittlungsausschusses beschlossen, der den Gesetzesbeschluß des Bundestages am 21. Februar 1973 bestätigt hat (BTDrucks. 7/224, Sitzungsbericht

BVerfGE 37, 363 (396):

des Bundesrates über die 390. Sitzung, S. 38 A). Daraufhin hat der Bundesrat in seiner 390. Sitzung vom 23. Februar 1973 (Sitzungsbericht S. 40 A) dem Gesetz seine Zustimmung versagt. Müßte dieser Beschluß des Bundesrates dahin gedeutet werden, daß er damit vorsorglich gleichzeitig Einspruch gegen das vom Bundestag beschlossene Gesetz eingelegt hat, so wäre das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz nicht nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommen, weil der Bundestag diesen Einspruch nicht nach Art. 77 Abs. 4 GG zurückgewiesen hat.
Das Recht des Bundesrates, neben der Verweigerung der Zustimmung zu einem nach seiner Meinung zustimmungsbedürftigen Gesetz gleichzeitig für den Fall, daß das Gesetz nicht zustimmungsbedürftig sein sollte, dagegen vorsorglich Einspruch einzulegen, ist unbestritten. Jedoch liegt dieser Fall hier nicht vor. § 90 Abs. 1 Satz 2 der Geschäftsordnung des Bundesrates vom 1. Juli 1966 (BGBl. I S. 437) schreibt vor, daß die Abstimmung des Bundesrates über ein zustimmungsbedürftiges Gesetz eindeutig ergeben muß, ob der Bundesrat zugestimmt hat oder nicht. Ebenso muß die Abstimmung zweifelsfrei offenbaren, ob der Bundesrat beschlossen hat, Einspruch nach Art. 77 Abs. 3 Satz 1 GG gegen ein Gesetz einzulegen. Aus dem Sitzungsbericht über die 390. Sitzung vom 23. Februar 1973 (Sitzungsbericht S. 40 A) ergibt sich eindeutig, daß der Bundesrat nur beschlossen hat, dem Gesetz die - nach seiner Auffassung erforderliche - Zustimmung zu versagen. Daher bestand für den Bundestag kein Anlaß, seinerseits den Weg des Verfahrens nach Art. 77 Abs. 4 GG zu beschreiten. Auch insoweit ist also das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommen.
Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
V.
Mit der Feststellung, daß das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommen ist, hat es aber nicht sein Bewenden. Das Bun

BVerfGE 37, 363 (397):

desverfassungsgericht hat im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle die Gültigkeit des ganzen Gesetzes und jeder einzelnen seiner Bestimmungen unter allen rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen (BVerfGE 1, 14 [41]; 3, 187 [196 f.]). Es war daher auch zu prüfen, ob das Gesetz vom 30. März 1973 mit dem Grundgesetz im übrigen, insbesondere mit den Grundrechten, vereinbar ist. Diese Prüfung kann sich nicht auf diejenigen Bestimmungen beschränken, die sich auf die Arbeiterrentenversicherung beziehen, sondern muß sich auf die - im wesentlichen gleichlautenden - Änderungen des Angestelltenversicherungs- und des Reichsknappschaftsgesetzes erstrecken.
1. Die Änderung des Rentenreformgesetzes durch das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz hat die Versicherten insbesondere dadurch benachteiligt, daß sie nunmehr vorgezogenes Altersruhegeld nur erhalten können, wenn sie ihr bisheriges Arbeitseinkommen mindestens bis zur Nebenverdiensthöchstgrenze reduzieren.
Belastende Gesetze, die nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreifen - Gesetze mit echter Rückwirkung - sind grundsätzlich verfassungswidrig. Dies beruht auf dem Gedanken des Vertrauensschutzes, der dem Rechtsstaatsprinzip innewohnt. Das Vertrauen der Betroffenen in das Fortbestehen der geltenden Rechtslage wird nicht geschützt, wenn zwingende Gründe des gemeinen Wohls die nachträgliche Änderung der Rechtslage rechtfertigen oder wenn sie in dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolge vom Gesetz zurückgezogen wird, mit einer solchen Regelung rechnen mußten (BVerfGE 13, 261 [271, 272] mit weiteren Nachweisen; 30, 367 [387]; 27, 167 [174]).
a) Das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 30. März 1973 entfaltet eine echte Rückwirkung, da es mit Wirkung vom 1. Januar 1973 in Kraft getreten ist und die von diesem Tag an bis zum 30. März 1973 in Geltung stehenden Vorschriften des Rentenreformgesetzes über die flexible Altersgrenze teilweise außer Kraft gesetzt hat; dabei hat es in bereits abgeschlossene

BVerfGE 37, 363 (398):

Vorgänge - bereits gestellte Rentenanträge, neu begründete Versicherungsverhältnisse - zum Nachteil der Versicherten eingegriffen. Die Versicherten konnten aber nicht mehr auf den Fortbestand der ihnen günstigeren Vorschriften des Rentenreformgesetzes über das vorgezogene Altersruhegeld vertrauen, nachdem der Bundestag am 20. Dezember 1972 beschlossen hatte, dieses Recht mit Wirkung vom 1. Januar 1973 an zu ändern.
Diese Entscheidung ist mit sieben Stimmen gegen eine Stimme ergangen.
b) Versicherte, welche vor dem 20. Dezember 1972 nicht mehr getan haben als bei den Rentenversicherungsträgern das vorgezogene Altersruhegeld zu beantragen, genießen keinen Vertrauensschutz, weil sie vor dem 1. Januar 1973 noch keinen Rechtsanspruch auf die Bewilligung von Altersrente neben vollem Arbeitseinkommen erwerben konnten. Sie konnten auf Grund des Art. 6 § 8 Abs. 1 RRG nur die Erwartung hegen, ihnen werde vom 1. Januar 1973 an ein solcher Anspruch zustehen. Diese Erwartung mußte der Gesetzgeber bei dem Änderungsgesetz nicht berücksichtigen.
Diese Entscheidung ist mit fünf gegen drei Stimmen ergangen.
2. Es verletzt nicht das Gleichbehandlungsgebot (Art. 3 Abs. 1 GG), daß der Gesetzgeber die §§ 1248 RVO, 25 AVG und 48 RKG in der Fassung des Rentenreformgesetzes nur in den in Art. 2 § 1 des 4. RVÄndG genannten Fällen weitergelten läßt. Der Gesetzgeber hat diese übergangsweise gewährte Vergünstigung aus einleuchtenden, sachlich gerechtfertigten, also keineswegs willkürlichen Gründen nicht auf alle Versicherten ausgedehnt, welche im Vertrauen auf das Inkrafttreten der ursprünglichen Regelung der flexiblen Altersgrenze belastende Dispositionen unternommen haben.
Art. 2 § 1 des Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes begünstigt die Versicherten, welche in der Zeit vom 21. September 1972 bis zum 21. Dezember 1972 wegen ihres Rechts, vorgezogenes Altersruhegeld bei unbeschränkter Weiterarbeit zu erhalten, die bisherige Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit geändert

BVerfGE 37, 363 (399):

- meist eingeschränkt - oder sie aufgegeben hatten und ein neues, sie weniger belastendes Beschäftigungsverhältnis eingegangen waren.
Diese von Art. 2 § 1 des Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes bevorzugten Dispositionen unterscheiden sich wesentlich von rein finanziellen, zur Herbeiführung des Rentenrechts unternommenen Anstrengungen. Änderte ein Versicherter seine bisherige Erwerbstätigkeit oder entschloß er sich zum Eintritt in ein neues Beschäftigungsverhältnis, so betraf dies die Grundlage seines Arbeitsverhältnisses, den Arbeitsvertrag (BT- Drucks. 7/3 S. 7 oben). Einen solchen Schritt hätte der Versicherte einseitig nicht rückgängig machen können; das Einverständnis des Arbeitgebers zu einer erneuten Umgestaltung des Arbeitsvertrages konnte gerade der ältere Versicherte nicht ohne weiteres erwarten. Jedenfalls mußte der Versicherte damit rechnen, daß sein Vertragspartner sich der erneuten Umgestaltung des Arbeitsverhältnisses widersetzen werde und daß ein weiterer Wechsel auf einen der Nebenverdienstgrenze angepaßten Arbeitsplatz für ihn - den Versicherten - wenn überhaupt, so doch angesichts seines Alters nur unter erheblich verschlechterten Bedingungen möglich sein würde. Wäre es dem Versicherten jedoch nicht gelungen, eine die Nebenerwerbsgrenze wahrende Tätigkeit zu finden, dann hätte ihm nur ein gemindertes Arbeitseinkommen zur Verfügung gestanden - ein Umstand, der die Lebensführung jedenfalls der Mehrzahl der so betroffenen Versicherten ebenso empfindlich beeinflußt hätte, wie wenn sie die Erwerbstätigkeit völlig aufgegeben und sich mit der Altersrente begnügt hätten. Art. 2 § 1 des Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes erweist sich so im Kern als Schutznorm zugunsten der sozial schwachen Versicherten.
Dieser Aspekt des sozialen Schutzes gilt grundsätzlich nicht für die Fälle, in denen nach Art. 1 § 1 Nr. 2 b, § 2 Nr. 2b RRG versicherungspflichtigen Selbständigen oder den gemäß Art. 1 § 1 Nr. 4b, § 2 Nr. 4 b RRG neu zur freiwilligen

BVerfGE 37, 363 (400):

Rentenversicherung zugelassenen Personen (z. B. Hausfrauen) die Früchte eines finanziellen Einsatzes (vgl. Art. 2 § 1 Nr. 12 und § 2 Nr. 13 RRG) nicht in dem zunächst erwarteten Umfang zufallen. Hier sind zum Zwecke der Einkommensminderung keine arbeitsvertraglichen Dispositionen notwendig gewesen. Erstrebt ein selbständig Tätiger auch nach Inkrafttreten des Vierten Rentenversicherungs -Änderungsgesetzes das vorgezogene Altersruhegeld, so dürfte es ihm in vielen Fällen möglich sein, seine bisherige Einkommensquelle Dritten gegen Entgelt zu überlassen, wobei die so erzielten Einnahmen nicht unter die Nebenverdienstgrenze des Sozialversicherungsrechts fallen. Es kann dem Versicherten auch gelingen, innerhalb eines Pachtverhältnisses oder dergleichen eine Tätigkeit beizubehalten, deren Umfang und Vergütung die Grenzen der §§ 1248 Abs. 4 Satz 1 RVO, 25 Abs. 4 AVG wahrt. Jedenfalls kann ein Selbständiger seine Erwerbstätigkeit durch eigenen Entschluß so reduzieren, daß sein Einkommen das Rentenbezugsrecht nicht in Frage stellt.
Ein Grund, der es rechtfertigt, diese Personengruppe in Art. 2 § 1 des 4. RVÄndG nicht zu berücksichtigen, ist auch darin zu sehen, daß ihr bereits durch die Zulassung zur Sozialversicherung ein erheblicher Vorteil gewährt worden ist. Die für die Herbeiführung des Rentenrechts erforderlichen Aufwendungen (z. B. Beitragsnachzahlungen gemäß Art. 2 § 1 Nr. 12 oder § 2 Nr. 13 RRG) bleiben weit hinter dem zurück, was in eine Lebensversicherung hätte eingebracht werden müssen, um eine gleich hohe Rente zu erhalten. Diese Vergünstigung besteht fort. Sie belastet die Gemeinschaft der Sozialversicherten, welcher ganz überwiegend pflichtversicherte Arbeitnehmer angehören. Zu deren Schutz ist die Sozialversicherung geschaffen worden. Sie wird als Ganzes auch nach der vor allem mit dem Rentenreformgesetz vollzogenen Öffnung der Sozialversicherung von dem Grundsatz beherrscht, daß die sozial Schwächeren geschützt werden sollen. Deshalb durfte der Gesetzgeber die Übergangsregelung des Art. 2 § 1 des 4. RVÄndG auf die Gruppe der nichtselbständig tätigen Sozialversicherten beschränken.
Diese Entscheidung ist mit sechs gegen zwei Stimmen ergangen.


BVerfGE 37, 363 (401):

3. Gegen die übrigen Vorschriften des Vierten Rentenversicherungs- Änderungsgesetzes bestehen - wie der Senat einstimmig festgestellt hat - ebenfalls keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
Seuffert, Dr. v. Schlabrendorff, Dr. Rupp, Dr. Geiger, Hirsch, Dr. Rinck, Dr. Rottmann, Wand
 
Abweichende Meinung der Richter Dr. v. Schlabrendorff, Dr. Geiger und Dr. Rinck zu C II 1 (S. 379 ff.) der Begründung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juni 1974 - 2 BvF 2, 3/73 -
Das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 30. März 1973 bedurfte der Zustimmung des Bundesrates nicht nur, weil es Vorschriften enthält, die das Verwaltungsverfahren regeln (vgl. C III 2 = S. 389 ff. der Beschlußbegründung), sondern auch, weil es ein Zustimmungsgesetz - das Rentenreformgesetz vom 16. Oktober 1972 - ändert:
1. Keine Meinungsverschiedenheit besteht darüber, daß das Grundgesetz nicht ausdrücklich eine Vorschrift enthält, nach der jedes Gesetz, das ein Zustimmungsgesetz ändert, seinerseits zustimmungsbedürftig ist. Daraus läßt sich jedoch, zumal nach der Entscheidung vom 24. Februar 1970 die Fälle der Zustimmungsbedürftigkeit eines Gesetzes im Grundgesetz nicht abschließend enumerativ aufgeführt sind (BVerfGE 28, 66 [78]), nicht das Geringste dafür herleiten, daß das Änderungsgesetz nur dann zustimmungsbedürftig sei, wenn es selbst nach der Regel des Art. 84 Abs. 1 GG oder nach einer anderen ausdrücklichen Vorschrift des Grundgesetzes zustimmungsbedürftig ist.
2. Ebensowenig läßt sich aus den im Grundgesetz ausdrücklich

BVerfGE 37, 363 (402):

geregelten Fällen, in denen eine bundesgesetzliche Regelung nur in der Form eines Zustimmungsgesetzes getroffen werden kann oder sonst zu einer Maßnahme des Bundes die Zustimmung des Bundesrates erforderlich ist, ein allgemeiner verfassungsrechtlicher Rechtssatz entwickeln, ein Zustimmungsgesetz sei nur erforderlich, wenn der Interessenbereich der Länder besonders stark berührt werde, um daraus dann den Schluß zu ziehen, das Änderungsgesetz zu einem Zustimmungsgesetz bedürfe, wenn es nach seinem Inhalt nicht selbst zustimmungsbedürftig sei, der Zustimmung nicht, weil es vitale Interessen der Länder nicht (mehr) verletze. Auf der gleichen Linie liegt der Versuch, einen selbständigen allgemeinen Verfassungsrechtssatz zu entwickeln, nach dem die Zustimmung des Bundesrates nur verhindern soll, daß im Wege eines (einfachen) Änderungsgesetzes eine "Systemverschiebung" im föderalistischen Gefüge der Bundesrepublik Deutschland bewirkt wird, und daraus den Schluß zu ziehen, ein einmal durch ein Zustimmungsgesetz verfassungsmäßig herbeigeführter "Einbruch" in den den Ländern vorbehaltenen Bereich der verwaltungsmäßigen Ausführung von Bundesgesetzen schaffe Raum für den Erlaß von einfachen Änderungsgesetzen des Bundes, die nur das materielle Recht des Zustimmungsgesetzes ändern. Man kann nicht ohne weiteres ein - hier einmal unterstelltes - Motiv des Verfassungsgesetzgebers zum Verfassungsrechtssatz erheben. Maßgebend muß auch in diesem Zusammenhang der in der Norm zum Ausdruck gebrachte objektivierte Wille des Gesetzes bleiben. Abgesehen davon ergibt sich das "föderalistische Gefüge" oder das verfassungsrechtlich gebotene "Gleichgewicht zwischen Bund und Ländern" aus den einzelnen grundgesetzlichen Vorschriften und dem Zusammenhang, in dem sie stehen, und nicht umgekehrt der Inhalt dieser Vorschriften aus einem postulierten allgemeinen Grundsatz über das föderalistische Gefüge des Grundgesetzes oder über das Gleichgewicht zwischen Bund und Ländern.
3. Entscheidend für die Lösung der in Rede stehenden verfassungsrechtlichen Frage ist die präzise Erfassung ihres Tatbestandes: Politisch mag es um einen Interessenausgleich zwi

BVerfGE 37, 363 (403):

schen Bund und Ländern gehen. Die Entscheidung der Frage - gleichgültig wie immer sie ausfällt - mag auch ihre rechtlichen Auswirkungen auf das föderalistische Gefüge des Grundgesetzes haben. Rechtlicher Gegenstand der zu entscheidenden Frage ist allein die grundgesetzliche Abgrenzung zwischen den Kompetenzen zweier Bundesverfassungsorgane oder - was zugespitzt auf den zu entscheidenden Fall dasselbe ist - die exakte Bestimmung der Kompetenzen des Bundesrates in einer bestimmten Art von Gesetzgebungsverfahren des Bundes. Es ist also auch keine spezielle Frage des Art. 84 Abs. 1 GG, sondern eine Frage, die sich für alle Zustimmungsgesetze, die geändert werden sollen, in gleicher Weise stellt.
a) Dazu sind wiederum zunächst zwei methodische Vorbemerkungen zu machen:
Wer behauptet, die Annahme, jedes Änderungsgesetz zu einem Zustimmungsgesetz bedürfe seinerseits der Zustimmung des Bundesrates, führe zu einer Veränderung des Gleichgewichts zwischen den gesetzgebenden Körperschaften des Bundes zum Nachteil des Bundestags, setzt voraus, was erst zu beweisen wäre, daß nämlich dieses im Grundgesetz bestimmte Gleichgewicht zwischen den gesetzgebenden Körperschaften u.a. gerade dadurch gekennzeichnet ist, daß ein Änderungsgesetz zu einem Zustimmungsgesetz nur dann der Zustimmung des Bundesrates bedarf, wenn es nach seinem Inhalt selbst zustimmungsbedürftig ist. Sollte dagegen das im Grundgesetz bestimmte Gleichgewicht zwischen den gesetzgebenden Körperschaften des Bundes u.a. dadurch gekennzeichnet sein, daß jedes Änderungsgesetz, wenn und weil es ein Zustimmungsgesetz - gleich an welcher Stelle - ändert, seinerseits zustimmungsbedürftig ist, kann zwar ebenfalls eine Änderung des Gleichgewichts zwischen den gesetzgebenden Körperschaften, aber diesmal nicht zum Nachteil des Bundestags, sondern zum Nachteil des Bundesrates eintreten, dann nämlich, wenn das Änderungsgesetz der Zustimmung des Bundesrates nur unterworfen wird, wenn es nach seinem Inhalt selbst zustimmungsbedürftig ist. Das "Argument", das Gleichgewicht zwischen den

BVerfGE 37, 363 (404):

gesetzgebenden Körperschaften des Bundes würde verschoben, wenn man jedes Änderungsgesetz, weil es ein Zustimmungsgesetz ändert, für zustimmungsbedürftig hält, ist also in Wahrheit überhaupt kein Argument zum Beweis dafür, daß ein Änderungsgesetz nur zustimmungsbedürftig ist, wenn es selbst nach seinem Inhalt der Zustimmung des Bundesrates bedarf.
Ebensowenig beweist es etwas, wenn man von einem Verhältnis "Regel - Ausnahme" ausgeht und dann argumentiert: Wären alle Änderungsgesetze zu einem Zustimmungsgesetz ihrerseits zustimmungsbedürftig, würden sich die zustimmungsbedürftigen Gesetze derart vermehren, daß die Ausnahme (das Zustimmungsgesetz) zur Regel und die Regel (das einfache Bundesgesetz) zur Ausnahme würde. Zuerst einmal ist die "Regel-Ausnahme- Figur" in einer Verfassungsurkunde nicht mehr als ein gesetzestechnisches Mittel zur klaren und insbesondere lückenlosen Abgrenzung zwischen (verwandten) Tatbeständen, die verschieden behandelt werden sollen. Statt die beiden Gruppen je selbständig allgemein zu umschreiben (mit der möglichen Folge, daß sich Überschneidungen ergeben) oder die einzelnen Fälle der beiden Gruppen je enumerativ aufzuzählen (mit der möglichen Folge, daß der eine oder andere Fall nicht erfaßt wird), entscheidet sich der Gesetzgeber für die Aufzählung der Fälle einer Gruppe, die er genauer zu übersehen vermeint, und verweist alle übrigen Fälle in die andere Gruppe oder er stellt eine Regel auf und schränkt sie durch die Verweisung auf ausdrücklich geregelte Ausnahmen ein. Damit schließt er mit Sicherheit aus, daß sich die beiden Fallgruppen überschneiden oder daß irgendein Fall von der Regelung nicht erfaßt wird. Man mag nun die enumerativ aufgezählten Fälle als "Ausnahmen" den nicht einzeln aufgezählten übrigen Fällen gegenüberstellen und die Regelung, die sich auf letztere bezieht, als Regel und die Regelung für die enumerativ aufgezählten Fälle als die "Ausnahme-Regelung" bezeichnen. Über die Zahl der Fälle in der einen oder anderen Gruppe ist damit nicht das Geringste ausgesagt. Besonders deutlich wird das, wenn man die vier zentralen Regelungen des Grundgesetzes, die

BVerfGE 37, 363 (405):

Kompetenzabgrenzungen zum Gegenstand haben und die nach dem Muster von Regel und Ausnahme formuliert sind, ins Auge faßt: Art. 30, Art. 70 Abs. 1, Art. 83 und Art. 104 a Abs. 1 GG. Was evidenterweise im Bereich der Gesetzgebung gilt, trifft auch in den drei anderen Bereichen zu: Überall spricht die Regel zwar zugunsten der Länder, die Ausnahmen zugunsten des Bundes sind aber nach Zahl und Gewicht größer als das, was den Ländern verbleibt. Legt man also für den hier erheblichen Zusammenhang als Regel das einfache Gesetz zugrunde, dann erscheint das Zustimmungsgesetz als Ausnahme. Aber ungeachtet dessen kann die Zahl der Zustimmungsgesetze unverhältnismäßig größer sein als die Zahl der einfachen Gesetze. Und so war es in der Tat von Anfang an seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes. Der Parlamentarische Rat mag sich "verrechnet" haben, als er die Fälle ausdrücklich regelte, in denen ein Zustimmungsgesetz erforderlich ist. Daß sich, wenn man die geregelten Fälle eines Zustimmungsgesetzes ernst nimmt, eine größere Anzahl von Zustimmungsgesetzen als erwartet und vorausgesehen ergibt und am Ende tatsächlich die Ausnahme zur Regel und die Regel zur Ausnahme wird, ist kein rechtliches Argument, das die Absicht rechtfertigen kann, im Wege der Auslegung der Vorschriften, die ein Zustimmungsgesetz erfordern, die Zahl der Zustimmungsgesetze "möglichst klein zu halten". Für jede Vorschrift, auch für eine Ausnahmevorschrift, gilt, daß sie korrekt und das heißt hier ihrem eindeutigen Inhalt und Sinn entsprechend auszulegen ist. Der Charakter einer Ausnahmevorschrift verbietet nur, sie über ihren eindeutigen Inhalt und Sinn hinaus ausdehnend auszulegen; mehr gibt die Formel "Ausnahmevorschriften sind eng auszulegen" nicht her.
b) Für die hier zu entscheidende Frage der Abgrenzung einer bestimmten Kompetenz des Bundesrates ist es völlig belanglos, wie allgemein das Verhältnis zwischen Bundestag und Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren zu bestimmen ist. Die Stellung des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren, das ein einfaches Bundesgesetz betrifft, interessiert hier nur insofern, als sie eindeutig

BVerfGE 37, 363 (406):

und erheblich schwächer ist als im Gesetzgebungsverfahren, das ein Zustimmungsgesetz betrifft. Bei einem Zustimmungsgesetz ist die Stellung des Bundesrates nicht schwächer als die des Bundestags. Ohne Zustimmung des Bundesrates kommt das Gesetz nicht zustande. Soll es zustande kommen - und das ist vernünftigerweise das Ziel eines Gesetzgebungsverfahrens -, so hat bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden gesetzgebenden Körperschaften der Bundesrat auf dem Weg über den Vermittlungsausschuß denselben Einfluß auf den Inhalt des Gesetzes wie der Bundestag. Daran ist nichts zu deuteln. Zustimmung zum Gesetz bedeutet, worüber Einverständnis besteht, Zustimmung zum ganzen Gesetz als gesetzgebungstechnischer Einheit, nicht nur zu den Vorschriften, die die Zustimmungsbedürftigkeit auslösen. Das will ernst genommen sein: Das heißt, es bedeutet nicht nur, daß der Bundesrat auch die übrigen Vorschriften zum Gegenstand seiner politischen Überlegungen und Wertungen machen und dem Gesetz aus Gründen, die in diesen Vorschriften (und nicht in den die Zustimmungsbedürftigkeit auslösenden Vorschriften) liegen, seine Zustimmung versagen kann, sondern auch, daß er zu allen Vorschriften Alternativen, Ergänzungen, Änderungen vorschlagen und im Vermittlungsausschuß zur Abstimmung bringen kann, und insbesondere, daß die Zustimmung zum ganzen Gesetz notwendigerweise die Zustimmung zu jeder einzelnen Vorschrift dieses Gesetzes impliziert (BVerfGE 24, 184 [195]).
Als gesetzgebungstechnische Einheit bildet das Änderungsgesetz gewiß das Produkt eines neuen und selbständigen Gesetzgebungsverfahrens. Und so betrachtet scheint sich auch die Frage der Zustimmungsbedürftigkeit für dieses Gesetz neu zu stellen und nach dem Inhalt des Änderungsgesetzes zu beantworten. Damit ist aber das Problem nicht zu Ende gedacht: Das Änderungsgesetz ist gewiß eine neue gesetzgebungstechnische Einheit. Hier kommt es aber darauf an, daß es keine neue und selbständige Sinneinheit, keine selbständige in sich sinnvolle, insbesondere ausführungsfähige Regelung eines Gesetzgebungsgegenstandes darstellt, sondern seinen Sinn nur gewinnt in Anknüpfung an das Gesetz, das

BVerfGE 37, 363 (407):

geändert wird. Das im Änderungsgesetz enthaltene neue Recht ist angelegt auf Inserieren dieser Neuerung in das alte Gesetz, so daß eine neue Regelung der im Gesetz behandelten Materie, also das alte Gesetz in neuer Fassung entsteht. Das heißt aber: Der wesentliche Inhalt des Änderungsgesetzes wird notwendigerweise Teil eines Gesetzes, das zweifellos wegen seines Inhaltes zustimmungsbedürftig war und, solange es besteht, zustimmungsbedürftig bleibt. Aus dieser Besonderheit eines Änderungsgesetzes, "eins zu werden" mit dem Zustimmungsgesetz, ergibt sich die Notwendigkeit der Zustimmungsbedürftigkeit des Änderungsgesetzes. Das ist nicht eine "Fern- oder Dauerwirkung" der Zustimmungsbedürftigkeit eines Gesetzes auf ein anderes Gesetz, sondern die Folge davon, daß kein Teil eines Zustimmungsgesetzes der Zustimmung des Bundesrates entzogen werden darf.
Das wird noch deutlicher, wenn man erwägt: Einfache Gesetze und Zustimmungsgesetze ergehen in zwei verschiedenen Arten von Gesetzgebungsverfahren (ähnlich der auf anderer Ebene liegenden Verschiedenheit des Gesetzgebungsverfahrens bei einfachen Gesetzen und bei Verfassungsänderungen). Die Stellung des Bundesrates ist, wie dargelegt, im Verfahren, das ein Zustimmungsgesetz betrifft, erheblich stärker als im Gesetzgebungsverfahren, das ein einfaches Bundesgesetz betrifft. Dann kann aber ein einfaches Gesetz nicht die Kraft haben, ein Zustimmungsgesetz zu ändern. Geändert werden kann es nur durch ein Zustimmungsgesetz. Andernfalls würde die Stellung des Bundesrates, die das Grundgesetz ihm bei Zustimmungsgesetzen einräumt, unterlaufen und in diesem Punkt tatsächlich die hier in Betracht kommenden Gewichte zwischen Bundestag und Bundesrat verschoben werden. Es gibt hierzu eine Parallele zwischen Bundesregierung und Bundestag (ebenfalls zwischen zwei Bundesverfassungsorganen!): Völkerrechtliche Vereinbarungen, die die Bundesregierung trifft, bedürfen in bestimmten Fällen der Zustimmung des Bundestags in der Form eines Bundesgesetzes (Art. 59 Abs. 2 GG). War die Zustimmung des Bundestags erforderlich und gegeben, dann kann die Vereinbarung nicht durch eine Zusatzvereinbarung, die nur

BVerfGE 37, 363 (408):

zwischen Bundesregierung und Vertragspartner ohne Zustimmung des Bundestags geschlossen wird, geändert werden mit der Begründung, diese Vereinbarung für sich allein betrachtet bedürfe nach ihrem Inhalt nicht der Zustimmung des Bundestags gemäß Art. 59 Abs. 2 GG.
Schließlich ergibt sich die Zustimmungsbedürftigkeit eines Änderungsgesetzes, das sich auf ein Zustimmungsgesetz bezieht, noch aus einer Überlegung, die davon ausgeht, daß Legiferieren ein politischer Prozeß ist, der bei Meinungsverschiedenheiten über die konkrete Regelung einer Gesetzesmaterie in der Demokratie einen Kompromiß erfordert. In einem Gesetzgebungsverfahren, in dem Bundestag und Bundesrat sich "zusammenraufen" müssen, wenn das Gesetz nicht am Veto des Bundesrates scheitern soll, wird das Zustimmungsgesetz mit seinem ganz konkreten Inhalt immer für beide gesetzgebenden Körperschaften sich als ein eben noch von ihnen für vertretbar gehaltener Kompromiß darstellen. Mit dem vom Änderungsgesetz herbeigeführten Inhalt des Gesetzes in seiner neuen Fassung verändert sich der Inhalt jenes Kompromisses und es kann nicht nur nicht ausgeschlossen werden, sondern ist in aller Regel wahrscheinlich, daß der Bundesrat diesem (neuen) Kompromiß nicht zugestimmt hätte. Könnte also das Änderungsgesetz als einfaches Gesetz ergehen, würde jedesmal der Bundestag den Bundesrat überspielen können. Das müßte im politischen Prozeß der Gesetzgebung mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, daß der Bundestag den Wünschen des Bundesrates zunächst nachkommt, um die Zustimmung zum Gesetz zu erhalten, und dann durch das Änderungsgesetz sein Entgegenkommen in materiellen Vorschriften, die nicht der Zustimmung bedürfen, zurücknimmt. Man wird diese Erfahrung nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in dieser Sache studieren können. Der Bundesrat andererseits wird sich darauf einstellen, künftig diese drohende Entwicklung mit einer häufigeren Verweigerung der Zustimmung zu beantworten. Das kann der Gesetzgebung, soweit Zustimmungsgesetze nötig sind, gewiß nicht förderlich sein. Rechtlich entscheidend bleibt indessen, daß die Er

BVerfGE 37, 363 (409):

öffnung dieses Weges, ein Zustimmungsgesetz durch einfaches Gesetz ändern zu können, die Kompetenzen des Bundesrates bei der Mitwirkung an Zustimmungsgesetzen aushöhlt, indem nur die Urfassung des Zustimmungsgesetzes der Zustimmung des Bundesrates unterworfen wird, die Neufassung desselben Gesetzes aber ohne Zustimmung des Bundesrates durchgeführt werden kann. Das ist mit der Rolle des Bundesrates bei Zustimmungsgesetzen unvereinbar, und das heißt schlicht verfassungswidrig.
4. Im übrigen liegt dieses Ergebnis durchaus in der Linie dessen, was das Bundesverfassungsgericht bisher schon judiziert hat:
Im Gutachten des Bundesverfassungsgerichts vom 22. November 1951 ist die Frage, ob ein Gesetz schon deshalb zustimmungsbedürftig ist, weil es eine materielle Änderung eines Zustimmungsgesetzes enthält, offengelassen (BVerfGE 1, 76 [80]). Die Begründung der Entscheidung zum Preisgesetz (BVerfGE 8, 274) stellt zwar ganz auf den Fall ab, daß ein Gesetz die Geltungsdauer eines zeitlich befristeten Zustimmungsgesetzes verlängert. Sie verlangt für das Verlängerungsgesetz die Zustimmung des Bundesrates, weil das Zeitgesetz (Preisgesetz) ein zustimmungsbedürftiges Gesetz war. "Denn die Verlängerung der Geltungsdauer des Preisgesetzes kam dem Erlaß neuer Gesetze mit dem Inhalt des Preisgesetzes gleich ..." (BVerfGE 8, 274 [295]). Dieser Gedanke trägt auch die Entscheidung zu dem Fall des Änderungsgesetzes zu einem Zustimmungsgesetz. Das Verlängerungsgesetz knüpft an das ursprüngliche Gesetz derart an, daß beide zu einer Einheit werden, zu einem Gesetz mit der neuen längeren Geltungsdauer. Es kann keinen Unterschied machen, ob die Änderung des ursprünglichen Gesetzes in einer Änderung der Geltungsdauer oder in der Änderung des sonstigen materiellen Inhalts dieses Gesetzes besteht.
In der Entscheidung vom 9. Oktober 1968 ist zwar ausdrücklich gesagt, der vorliegende Verfassungsrechtsstreit gebe keine Veranlassung, die Frage zu entscheiden, ob alle ein Zustimmungsgesetz ändernden Gesetze wiederum der Zustimmung des Bundesrates bedürfen (BVerfGE 24, 184 [198]). Aber die diesem Satz

BVerfGE 37, 363 (410):

vorausgehenden allgemeinen Erwägungen tragen auch die Schlußfolgerung, daß jedes Änderungsgesetz zu einem Zustimmungsgesetz der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Es heißt dort wörtlich: "Die Zustimmung des Bundesrates zu einem Bundesgesetz bezieht sich auf alle Normen des Gesetzes, nicht nur auf die, die seine Zustimmungsbedürftigkeit ausgelöst haben. Der Bundesrat übernimmt durch seine Zustimmung die Verantwortung für das Gesetz als Ganzes. Dem entspricht es, daß alle zur Durchführung oder Ergänzung des Gesetzes ergehenden Rechtsverordnungen die Zustimmung des Bundesrates finden müssen. Die Normen des Gesetzes und die der Verordnungen, die auf Grund einer in ihm enthaltenen Ermächtigung erlassen werden, bilden eine Einheit. Bezieht sich die Zustimmung des Bundesrates zum Gesetz auf alle Normen des Gesetzes, so ist es folgerichtig, daß alle auf Grund des Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Insofern kann die Zustimmung des Bundesrates zu Verordnungen nach Art. 80 Abs. 1 GG als Fortsetzung der Zustimmung des Bundesrates zu dem Gesetz verstanden werden. Sinn und Zweck der Regelung des Art. 80 Abs. 2 GG liegt darin, dem Bundesrat - durch das Zustimmungserfordernis - maßgeblichen Einfluß auf alle Normen einzuräumen, die zur Durchführung und Ergänzung der gesetzlichen Vorschriften ergehen, auf die sich die Zustimmung des Bundesrates bezieht und die ohne diese Zustimmung nicht zustande gekommen wären" (BVerfGE 24, 184 [197 f.]). Es wäre kaum noch verständlich anzunehmen, daß zwar Verordnungen, die das Zustimmungsgesetz ergänzen, aus den wiedergegebenen Erwägungen der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, Änderungsgesetze dagegen nicht.
Noch eindeutiger für die hier vertretene Auffassung spricht die Entscheidung vom 24. Februar 1970 (BVerfGE 28, 66): Sie betrifft § 14 des Postverwaltungsgesetzes, der die Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnungen über die Bedingungen und Gebühren für die Benutzung der Einrichtungen des Post- und Fernmeldewesens enthält und ausdrücklich bestimmt, daß diese

BVerfGE 37, 363 (411):

Verordnungen nicht der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. In den Gründen wird ausgeführt, daß wegen dieses § 14 das Postverwaltungsgesetz als Zustimmungsgesetz ergehen mußte. Abgeleitet wird dies aus Art. 80 Abs. 2 GG. Aber anders als in der vorher erwähnten Entscheidung (BVerfGE 24, 184), in der der innere Grund für die Zustimmungsbedürftigkeit der Verordnungen, die auf Grund einer in einem Zustimmungsgesetz enthaltenen Ermächtigung erlassen werden, dargelegt wird, geht es in der Entscheidung zum Postverwaltungsgesetz an der für unseren Zusammenhang entscheidenden Stelle darum, ob in dem Satzteil des Art. 80 Abs. 2 GG "Vorbehaltlich anderweitiger bundesgesetzlicher Regelung" diese anderweitige gesetzliche Regelung der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Wörtlich heißt es dazu: "Der Vorbehalt in Art. 80 Abs. 2 GG bezieht sich nicht nur auf die Rechtsverordnungen über Grundsätze und Gebühren für die Benutzung von Post und Eisenbahn, sondern auch - 'sowie' - auf Rechtsverordnungen, die auf Grund von Bundesgesetzen ergehen, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Es wäre aber von der Natur der Sache her widersinnig und würde zu einer von der Verfassung nicht gewollten Verkürzung der Mitwirkung des Bundesrates an der Rechtsetzung führen, wenn das Erfordernis der Zustimmung zu diesen Rechtsverordnungen durch ein späteres einfaches Bundesgesetz ohne Zustimmung des Bundesrates beseitigt werden könnte..." (BVerfGE 28, 66 [77]). Hier wird - zwar in einem anderen Zusammenhang - genau unsere Frage entschieden: Das in den zitierten Sätzen herausgehobene Zustimmungsgesetz muß, wenn Art. 80 Abs. 2 GG überhaupt anwendbar sein soll, eine Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnungen (und zwar nicht notwendig von Rechtsverordnungen, die das Verwaltungsverfahren der Länder regeln!) enthalten; ermächtigt die Vorschrift (in Übereinstimmung mit der Regel des Art. 80 Abs. 2 GG) zum Erlaß von Rechtsverordnungen mit Zustimmung des Bundesrates, so bedarf nach der zitierten Rechtsprechung das Änderungsgesetz, das das Zustimmungserfordernis in der Ermächtigung des Zustimmungsgesetzes beseitigt, der Zu

BVerfGE 37, 363 (412):

stimmung des Bundesrates. Es ist dann nicht mehr einzusehen, warum zwar das zu einem Zustimmungsgesetz erlassene Änderungsgesetz, in dem eine Ermächtigungsnorm des Zustimmungsgesetzes geändert wird (die für sich genommen keineswegs die Zustimmungsbedürftigkeit auslöst) der Zustimmung des Bundesrates bedarf, ein zu einem Zustimmungsgesetz erlassenes Änderungsgesetz, das eine andere Vorschrift als eine Ermächtigungsnorm des Zustimmungsgesetzes ändert, nicht ebenfalls der Zustimmung des Bundesrates bedürfen soll. - Wenn auch die zitierte Entscheidung (BVerfGE 28, 66 [77 f.]) wiederum vermerkt, die allgemeine Frage, ob das ein Zustimmungsgesetz ändernde Gesetz schon wegen der Änderung eines Zustimmungsgesetzes der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bleibe offen, heißt das ja nicht, es bestehe Grund zur Annahme, daß die offengelassene grundsätzliche und besonders weittragende Frage anders als die entschiedene konkretere Frage entschieden werden müßte!
5. Um am Ende noch dem "Einwand" zu begegnen, es sei im Ergebnis "widersinnig", daß - unterstellt, der Bundestag habe die materiellen Vorschriften und die Verfahrensvorschriften je in einem besonderen Gesetz untergebracht - jene materiellen Vorschriften durch einfaches Bundesgesetz geändert werden können, daß dagegen - unterstellt, der Bundestag habe beides, materielle und Verfahrensvorschriften, in einem Gesetz zusammengefaßt - dasselbe Änderungsgesetz nur mit Zustimmung des Bundesrates soll ergehen können: Wenn zwei Wege von A nach B führen, kann es sein, daß ich auf dem einen Weg durch eine Verkehrsbeschränkung aufgehalten werde, auf dem anderen Weg nicht. Das ist nicht widersinnig, das ist allenfalls unbefriedigend, in aller Regel aber ganz natürlich. Der Bundesgesetzgeber hat - bis zur Grenze der Willkür - die Freiheit der Wahl, ob er materielles Recht und Verfahrensrecht in einem Gesetz zusammenfassen oder ob er zwei Gesetze erlassen und im einen die materiellrechtlichen Vorschriften und im anderen die verfahrensrechtlichen Vorschriften unterbringen will. Je nach dem Weg, den er einschlägt, ist das verfassungsrechtlich garantierte Mitwirkungsrecht

BVerfGE 37, 363 (413):

des Bundesrates verschieden groß: Im einen Fall gewinnt er die Kompetenz, zuzustimmen oder nicht zuzustimmen, hinsichtlich eines Gesetzes, das sowohl materiellrechtliche wie verfahrensrechtliche Vorschriften enthält. Im anderen Fall beschränkt sich diese Kompetenz auf das Gesetz, das die Verfahrensvorschriften enthält. Die Folge davon ist, daß sich das Änderungsgesetz, das nur materiellrechtliche Vorschriften enthält, im ersten Fall auf ein Zustimmungsgesetz bezieht, im zweiten Fall dagegen auf ein einfaches Bundesgesetz. Aus diesem Unterschied kann sich dann natürlich für die Behandlung des Änderungsgesetzes im Gesetzgebungsverfahren etwas Verschiedenes ergeben. Als "widersinnig" läßt sich das nur bezeichnen, wenn man auf den Inhalt des Änderungsgesetzes abhebt, der im ersten und im zweiten Fall derselbe ist, und zum Ausdruck bringen will, daß von daher unter dem Maßstab des föderalistischen Gefüges der Bundesrepublik Deutschland nicht einzusehen ist, daß das Gesetz einmal als Zustimmungsgesetz ergehen muß und das andere Mal als einfaches Gesetz ergehen kann. Aber genau diese Sicht wird der verfassungsrechtlichen Frage, die allein hier zur Entscheidung steht, nicht gerecht: Es geht um die Kompetenz eines Bundesverfassungsorgans, des Bundesrates, im Gesetzgebungsverfahren des Bundes. Und in diesem Zusammenhang muß die dargelegte Entscheidung des Gesetzgebers für den einen oder anderen Weg und der damit verbundene Unterschied im Gesetzgebungsverfahren auch zu einem verschiedenen Ergebnis hinsichtlich der Behandlung desselben Änderungsgesetzes führen können. Das ist nicht widersinnig, sondern entspricht der Logik.
Dr. v. Schlabrendorff, Dr. Geiger, Dr. Rinck
 


BVerfGE 37, 363 (414):

Abweichende Meinung des Richters Dr. v. Schlabrendorff zu dem Beschluß des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juni 1974 - 2 BvF 2, 3/73 -
Nach meiner Überzeugung ist das Vierte Rentenversicherungs- Änderungsgesetz vom 30. März 1973 auch insoweit nichtig, als es Versicherte dadurch benachteiligt, daß die Regelung des vorgezogenen Altersruhegeldes reduziert wird.
I.
Die Senatsmehrheit unterscheidet zwei Fälle:
a) Nach dem Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 30. März 1973 werden mit Wirkung vom 1. Januar 1973 Vorschriften über die flexible Altersgrenze teilweise außer Kraft gestellt. Dadurch wird in schon vorher begründete Versicherungsverhältnisse zum Nachteil der Versicherten eingegriffen.
b) Außerdem gehen Versicherte, die schon zur Zeit des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972 Verträge abgeschlossen haben, ihrer Rechtsansprüche auf vorgezogenes Altersruhegeld verlustig.
II.
In beiden Fällen geht die Mehrheit des Senats davon aus, daß es sich um einen Akt echter Rückwirkung handelt. Die Mehrheit beruft sich auf folgende Erwägung: Es handle sich zwar um belastende Gesetze, die in der Vergangenheit angehörende Tatbestände nachträglich eingriffen. Das sei zwar grundsätzlich verfassungswidrig. In diesem Falle aber werde das Vertrauen der Betroffenen in das Fortbestehen der geltenden Rechtslage nicht geschützt, weil zwingende Gründe des gemeinen Wohls die nachträgliche Änderung der Rechtslage rechtfertigten und weil die Betroffenen schon vor Eintritt der Rechtsfolge mit einer Änderung hätten rechnen müssen.
Diese Erwägung der Mehrheit befindet sich in Einklang mit

BVerfGE 37, 363 (415):

der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Rechtsprechung über das Problem der Rückwirkung im Hinblick auf den Vertrauensschutz. In dieser Rechtsprechung ist die Tendenz sichtbar, dem Rückwirkungscharakter Raum zu gewähren, wenn es sich um Fragen des Gemeinwohls handelt und wenn das rückwirkende Gesetz schon längere Zeit vor der Verkündung im Parlament erörtert worden ist (vgl. BVerfGE 14, 288 [297]).
III.
Nach meiner Überzeugung verstößt diese Betrachtungsweise gegen das Rechtsstaatsprinzip und gegen das Sozialstaatsprinzip.
IV.
Schon frühzeitig ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über die Frage der Rückwirkung hart kritisiert worden; die Kritik hat diese Rechtsprechung als verschachtelt, uneinheitlich und widersprüchlich gekennzeichnet (Eckhardt, Walter/Hillebrecht, Arno: Problematik rückwirkender Steuergesetze, 1960, S. 18 f.; Scheerbarth, Hans Walter: Die Anwendung von Gesetzen auf früher entstandene Sachverhalte (sogenannte Rückwirkung von Gesetzen), 1961, S. 57 mit Anm. 11; Kimminich, Otto: Die Rückwirkung von Gesetzen - zu dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Dezember 1961, JZ 1962, S. 518 (519 linke Spalte mit Anm. 12); Kisker, Gunter: Die Rückwirkung von Gesetzen - eine Untersuchung zum anglo-amerikanischen und deutschen Recht, 1963, S. 15 f.; Klein, Friedrich: Dürfen Steuergesetze rückwirkend belasten? Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht, N.F. XV (1965), S. 25-62; Klein-Barbey: Bundesverfassungsgericht und Rückwirkung von Gesetzen, Institut FSt. Heft 72, 1964).
Nach Ansicht des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts liegt eine echte Rückwirkung nur vor, wenn das Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift (vgl. BVerfGE 13, 206 [212 ff.]). Das Bundesverfassungsgericht hat schon frühzeitig gesehen, daß es sich hier um das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit handelt. Aus diesem Grunde sagte es: "Das Rechtsstaatsprinzip verbietet ... nicht jede Rückwirkung, auch dann nicht, wenn nachträglich an einen in der Vergangenheit liegenden abgeschlossenen Tatbestand angeknüpft

BVerfGE 37, 363 (416):

wird... Zur Rechtsstaatlichkeit gehört nicht nur die Voraussehbarkeit, sondern auch die Rechtssicherheit und die materielle Richtigkeit oder Gerechtigkeit. Schon diese verschiedenen Seiten des Rechtsstaatsprinzips selbst können in der Gesetzgebung nicht immer gleichmäßig berücksichtigt werden. Darüber hinaus enthält das Rechtsstaatsprinzip keine in allen Einzelheiten eindeutig bestimmten Gebote oder Verbote von Verfassungsrang, sondern ist ein Verfassungsgrundsatz, der der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten bedarf..." (vgl. BVerfGE 7,89 [92 f.]).
Diese Prinzip läuft darauf hinaus, die Nichtrückwirkung zur Regel und die Rückwirkung zur Ausnahme zu machen. Es muß aber den Kritikern dieser Rechtsprechung recht gegeben werden, daß in dieser Behauptung folgende These enthalten ist: Das Gesetz bewertet einen Sachverhalt nicht "ein für allemal", sondern nur "bis auf weiteres". Dann aber ist die getroffene Bewertung frei widerruflich. Mit Recht machen demgegenüber Klein und Barbey geltend: Aus dem Wesen der gesetzgeberischen Entscheidung folge, daß diese notwendig eine endgültige Verwertung eines konkreten Lebenssachverhalts darstellt (vgl. Klein - Barbey, a.a.O., S. 67).
Natürlich liegt es im Wesen des Staates, der gezwungen ist, zu regieren, daß er Dinge, die in der Zukunft liegen, anders regeln kann als Dinge der Vergangenheit. Warum? Das Denken desjenigen, der gezwungen ist, zu regieren, und das Denken des philosophischen Kopfes sind einander gehirnfremd.
Was aber die Vergangenheit angeht, so zwingt der Verfassungsstaat zu folgendem Schluß: Durch ein die Vergangenheit betreffendes Gesetz ist nicht nur der Gewaltunterworfene, sondern auch der Gesetzgeber selber ein und für allemal gebunden. Eine Ausnahme hiervon kann nur gestattet sein, wenn entweder das sich auf die Vergangenheit beziehende Gesetz krasse Züge des Unrechts trägt oder wenn durch inzwischen eingetretene umstürzende Ereignisse, wie z.B. ein Krieg, die Voraussetzungen beseitigt worden sind, die den Erlaß des früheren Gesetzes zuließen.
Was nun die Frage des Vertrauensschutzes angeht, so hat das

BVerfGE 37, 363 (417):

Bundesverfassungsgericht Möglichkeiten gefunden, "wo das Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt wäre" (vgl. BVerfGE 13, 271). Hierzu sagt Klaus Roth-Stielow in NJW 1963, S. 571 (572), daß die vom Bundesverfassungsgericht gefundenen Ausnahmen den Vertrauensschutz des Bürgers auf die Unverbrüchlichkeit eines Gesetzes im Ergebnis bis zur Bedeutungslosigkeit durchlöchern, weil eine dieser Ausnahmen sich immer benutzen lassen wird. Klaus Roth-Stielow fährt fort: "Die für diese Ausnahmen gefundenen Formulierungen klingen zunächst sehr überzeugend. Die darin enthaltenen Voraussetzungen überfordern schon die meisten Juristen, ganz sicher aber den rechtsuchenden und nach Ordnung seines Lebens strebenden Bürger. Das Bundesverfassungsgericht möchte mit dem Grundsatz des Rückwirkungsverbotes aber gerade diesen Bürger als Laien schützen. Die Zulässigkeit der Rückwirkung erhält durch jene Ausnahmen eine Breite, deren Inhalt nicht mehr in etwa objektiv bestimmt werden kann, sondern weitgehendst subjektiv geprägt, d.h. von der Beurteilung durch den jeweils entscheidenden Richter abhängig ist. Wie oft werden z.B. Gesetzesänderungen oder die Einführung eines neuen Gesetzes in der Öffentlichkeit erörtert, ohne daß es zu entsprechenden Maßnahmen kommt. Wie soll bei einer solchen Lage ernsthaft geplant und vorausberechnet werden? Wann ist für einen Laien, der durch die Fülle und Unklarheit neuerer Bestimmungen ohnehin verwirrt ist, eine Rechtslage so ungeklärt, daß er mit dem Erlaß neuer, nun rückwirkend gültiger Bestimmungen rechnen muß? Wann ist für diesen Laien eine Rückwirkungsanordnung, sachlich gerechtfertigt' oder wann darf der Bürger auf den Inhalt einer Norm nicht mehr vertrauen? Wie soll er die Ungültigkeit einer Regelung erkennen? Unter welchen Voraussetzungen haben die Belange der Allgemeinheit den Vorrang vor der Rechtssicherheit?
Der Auffassung der Senatsmehrheit liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Im Oktober 1972 öffnet der Staat seine Versicherungsarme und verspricht für viele Bürger große Vorteile, die am 1. Januar 1973 in Kraft treten sollen. Schon am 20. Dezember

BVerfGE 37, 363 (418):

1972 nimmt der gleiche Gesetzgeber durch Parlamentsbeschluß die Vorteile wieder zurück. Das Gesetz über die Rücknahme der Vorteile wird erst am 30. März 1973 verkündet, tritt aber schon mit dem 1. Januar 1973 in Kraft. Mit anderen Worten: An dem gleichen Tage, an dem die Vorteile Gesetzeskraft erlangt hatten, werden die Vorteile mit rückwirkender Kraft fortgenommen. Was die Senatsmehrheit zu erwägen vergißt, ist die Tatsache, daß zwischen dem ersten viele Vorteile versprechenden Gesetz und dem nachfolgenden wieder wegnehmenden Gesetz die Bundestagswahlen vom November 1972 lagen. Dieser Umstand läßt den Verdacht aufkommen, daß der Gesetzgeber vor der Wahl aus Gründen, die auf der Hand liegen, bereit gewesen ist, alles zu versprechen, um nach der Wahl die Vorteile wieder zu streichen. Kein ehrbarer Kaufmann könnte so handeln. Nun ist gewiß der Staat kein ehrbarer Kaufmann. Aber er täte vielleicht gut daran, sich in seinem Verhalten den ehrbaren Kaufmann zum Vorbild zu nehmen.
Wie oben dargelegt, wird man um Ausnahmen, die für jedermann auf der Hand liegen, nicht herumkommen. Dennoch bleibt es wahr, was Klaus Roth-Stielow in die Worte kleidet: "Sehr viel schlimmer ist die Gefahr des Mißbrauches jener Ausnahmen aus politischen Gründen. Begriffe wie Gemeinwohl, Gerechtigkeit oder Sittenwidrigkeit können über ein, gesundes Volksempfinden' oder Anwendung nach Partei-Grundsätzen sehr leicht mißbraucht werden. Die Gefahr des Mißbrauchs und der zu unbestimmten Anwendungsmöglichkeiten gibt Anlaß, das Prinzip des Verbots im Erlaß von rückwirkend geltenden Normen mit belastenden Folgen als ein solches zu verteidigen, das keinerlei Ausnahmen duldet. Die Gefahr des Mißbrauchs mag im Augenblick nicht bestehen. Der Fortbestand der augenblicklichen Verhältnisse in der Bundesrepublik ist aber nicht verbürgt. Ein Rückfall in die zwischen 1933 und 1945 geschehene Rechtsentwicklung bleibt möglich ... Das Verbot des Erlasses von rückwirkenden Normen im Bereich des Privatrechts wurde schon für das römische Recht vertreten. Dieses Verbot findet sich als Norm in vielen Gesetzen. Es

BVerfGE 37, 363 (419):

war für die Verfasser des BGB eine Selbstverständlichkeit... Die Rechtsprechung hat die Beachtung eines solchen Verbotes zunächst einmütig verneint. Die Wurzel dieser Haltung dürfte in einem unkritischen Bekenntnis zu der Unfehlbarkeit und Allmacht des Staates zu suchen sein. Diese Rechtsprechung hat sich jetzt gewandelt. Die darin zum Ausdruck kommende bessere und reale Einsicht wird solange keine Hilfe für den Bürger sein, wie das Bundesverfassungsgericht Ausnahmen vom Grundsatz zuläßt und sich damit gegen die abendländische Rechtsentwicklung stellt" (vgl. NJW 1963, S. 572).
In dem hier vom Senat entschiedenen Fall konnte sich der Bürger ohne Zweifel auf die Positionen stützen, die ihm das Gesetz vom 16. Oktober 1972 öffnete und konnte Versicherungsanträge stellen sowie Gelder im voraus bezahlen.
Die Senatsmehrheit verzichtet darauf, das Gesetz vom 30. März 1973 mit seiner rückwirkenden Kraft auszuloten. Das spätere, gewisse Vorteile kassierende Gesetz trägt zwar das Datum vom 30. März 1973. Es ist aber vom Bundestag schon am 20. Dezember 1972 beschlossen worden. Wer wie die Senatsmehrheit meint, es sei nicht die Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt maßgebend, sondern schon der Tag, an dem das Parlament das Gesetz beschlossen habe, verlangt vom Staatsbürger folgendes: dieser muß seine Tageszeitung so genau lesen, daß er von einem im Dezember 1972 gefaßten Parlamentsbeschluß Kenntnis nimmt, obwohl dieser Parlamentsbeschluß erst am 30. März 1973 verkündet wird. Wer so denkt, muß aber mindestens das Ursprungsgesetz vom 16. Oktober 1972 bis zum 20. Dezember 1972 gelten lassen, weil in diesem Zeitraum der Staatsbürger beim besten Willen nicht von einer Änderungsabsicht des im Oktober 1972 beschlossenen Gesetzes wissen konnte. Das Argument, das Gesetz vom 16. Oktober 1972 sei in bestimmten Punkten erst am 1. Januar 1973 in Kraft getreten, sticht nicht. Ein Gesetz im Oktober 1972 zu machen, das in seinen wesentlichen Punkten erst am 1. Januar 1973 in Kraft tritt, am 20. Dezember 1972 ein Änderungsgesetz zu beschließen, das zwar erst am 30. März 1973 im Bundesgesetz

BVerfGE 37, 363 (420):

blatt verkündet wird, seine Wirkungen aber auf den 1. Januar 1973 zurückbezieht, ist ein Verfahren, das den Stempel des Verstoßes gegen Treu und Glauben an der Stirn trägt.
Deshalb geht Coing soweit zu sagen: "Unvorhersehbar rückanknüpfende Gesetze verstoßen gegen den Grundsatz von Treu und Glauben: nämlich das Verbot der Arglist und des willkürlichen Wechsels des eigenen maßgeblichen Verhaltens; an den Grundsatz von Treu und Glauben ist auch der Machtträger im Verhältnis zum Gewaltunterworfenen gebunden; das folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip" (vgl. Helmut Coing, Betriebsberater 1954, S. 137; ebenso Meyer-Cording, JZ 1953, S. 420).
V.
Nach meiner Überzeugung verstößt aber auch die von der Senatsmehrheit gefaßte Entscheidung gegen das Sozialstaatsprinzip.
In einem anders gelagerten Falle, den der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden hat, hat dieser die vom Gesetzgeber vorgenommene Rechtsänderung - es handelte sich um den Ausschluß der "Österreich-Fälle" von der Entschädigung für Verfolgungsschäden in den Vertreibungsgebieten - gutgeheißen. Hier hat das Bundesverfassungsgericht sich die Ansicht zu eigen gemacht, daß ein gesetzlicher Eingriff mit echter Rückwirkung ausnahmsweise zulässig sei, wenn das Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt und daher nicht schutzwürdig sei (vgl. BVerfGE 32, 111 [123]).
Hiergegen hat sich die Richterin Frau Rupp-v. Brünneck gewandt (vgl. BVerfGE 32, 129 ff.). Sie hat sich in ihrer Abweichenden Meinung auf folgenden Standpunkt gestellt: Die Auffassung der Mehrheit, das Vertrauen der betroffenen Verfolgten auf den Fortbestand der früheren Regelung sei nicht mehr schutzwürdig gewesen, vermöge nicht zu überzeugen.
Vor allem aber hat die Richterin Frau Rupp-v. Brünneck die Ansicht vertreten, daß die vom Senat getroffene Entscheidung das Sozialstaatsprinzip verletze. In diesem Zusammenhang hat die

BVerfGE 37, 363 (421):

Richterin Frau Rupp-v. Brünneck folgendes ausgeführt: "Wenn der Staat einer bestimmten Gruppe von Bürgern Leistungen gewährt, um einem sozialen oder sonstigen anerkennenswerten Bedürfnis Rechnung zu tragen, so darf er sich nicht beliebig dieser Leistung entziehen und die betroffenen Einzelnen wieder sich selbst überlassen, d.h. sie zum bloßen Objekt wechselnder Willensentscheidungen machen" (vgl. a.a.O., S. 139 f.).
Dieser Grundsatz trifft auch für die Entscheidung des Zweiten Senats über das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 30. März 1973 zu.
Die in dem Rentenreformgesetz vom 16. Oktober 1972 gewährten Vorteile tragen sozialen Charakter. Sie waren durch den Fürsorgezweck der Versicherung geprägt. Der Bevorteilte erhielt "konkrete, nach den gesetzlichen Vorschriften berechenbare Geldansprüche, die für den Berechtigten einen Vermögenswert darstellten" (vgl. a.a.O., S. 142).
Solche Ansprüche durch ein nachfolgendes Gesetz vernichten, heißt, die Fürsorgepflicht verletzen. Wenn - wie in diesem Falle - der Gesetzgeber in dem ersten Gesetz den 1. Januar 1973 zum Stichtag macht und mit dem nachfolgenden Gesetz vom 30. März 1973 die früher gewährten Ansprüche am gleichen Stichtag vernichtet, so ist es schwer, einen Fall zu bilden, der die Verletzung des Sozialstaatsprinzips offenbarer macht als hier. Auch in diesem Falle gilt das Wort der Richterin Frau Rupp-v. Brünneck: "Die Entscheidung der Mehrheit läßt ein Eingehen auf diese Frage vermissen" (vgl. a.a.O., S. 141).
Ist man vor die Notwendigkeit gestellt, eine Frage des Sozialstaatsprinzips zu entscheiden, so ist es gut, sich die Genesis der Gesetzesmaterie vor Augen zu halten. Bismarck, der Urheber der staatlichen Versicherung, hat am 26. Juni 1881 zu Moritz Busch geäußert:
    "Der Staat muß die Sache in die Hand nehmen. Nicht als Almosen, sondern als Recht auf Versorgung, wo der gute Wille zur Arbeit nicht mehr kann. Wozu soll nur der, welcher im Kriege erwerbsunfähig geworden ist oder als Beamter, durch Alter, Pension haben, und nicht auch der Soldat der Arbeit? Diese Sache wird sich durchdrücken. Die hat ihre Zukunft. Es ist möglich, daß unsere Politik einmal zugrunde geht, wenn ich tot bin. Aber der Staatssozialismus paukt sich durch. Jeder, der diesen Gedanken wieder aufnimmt, wird ans Ruder kommen" (vgl. Gesammelte Werke 8, S. 419).
Dr. v. Schlabrendorff