BVerfGE 55, 100 - Kinderzuschuß für Enkel |
Stellt das Bundesverfassungsgericht fest, daß eine gesetzliche Regelung wegen eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, so ist der Gesetzgeber bei einer Neuregelung gehalten, auch für die Vergangenheit eine den Grundsätzen des allgemeinen Gleichheitssatzes entsprechende Regelung zu erlassen. |
Beschluß |
des Ersten Senats vom 8. Oktober 1980 |
-- 1 BvL 122/78, 61/79 und 21/77 -- |
in den Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des § 17 Nr. 2, § 15 Nr. 10 b in Verbindung mit § 32 Abs. 1 des Neunzehnten Rentenanpassungsgesetzes vom 3. Juni 1976 (BGBl. I S. 1373) a) Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21. September 1978 (L 2 Kn 96/75) - 1 BvL 122/78 -, b) Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. April 1979 (L 15 Kn 29/77) - 1 BvL 61/79 -, c) Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Sozialgerichts Bayreuth vom 27. September 1977 (S 3 Ar 608/76) - 1 BvL 21/77 -. |
Entscheidungsformel: |
§ 17 Nummer 2, § 15 Nummer 10 b in Verbindung mit § 32 Absatz 1 des Neunzehnten Gesetzes über die Anpassung der Renten aus den gesetzlichen Rentenversicherungen sowie über die Anpassung der Geldleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung und der Altersgelder in der Altershilfe für Landwirte (Neunzehntes Rentenanpassungsgesetz -- 19. RAG) vom 3. Juni 1976 (Bundesgesetzbl. I S. 1373) verstoßen, soweit sie zur Folge haben, daß bis zum 30. Juni 1976 für Enkel ein Kinderzuschuß zur Knappschaftsrente (§ 60 Absatz 2 des Reichsknappschaftsgesetzes) und zur Versichertenrente (§ 1262 Absatz 2 der Reichsversicherungsordnung) nur gewährt wird, wenn die Voraussetzungen des § 2 Absatz 1 Satz 1 Nummer 7 des Bundeskindergeldgesetzes "vor Eintritt des Versicherungsfalles erfüllt worden sind", gegen Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und sind nichtig. |
Gründe: |
A. |
Gegenstand der zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Vorlagen ist die Frage, ob es verfassungswidrig ist, wenn der Gesetzgeber eine verfassungsmäßige Regelung nur mit Wirkung für die Zukunft einführt, nachdem das Bundesverfassungsgericht die vorherige Regelung als mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt hat.
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I. |
1. Das Bundesverfassungsgericht hatte mit Beschluß vom 6. Mai 1975 (BVerfGE 39, 316 ff.) ausgesprochen:
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§ 60 Abs. 2 Nr. 8 des Reichsknappschaftsgesetzes in der Fassung des § 38 Nr. 2 des Bundeskindergeldgesetzes vom 14. April 1964 (Bundesgesetzbl. I S. 265) ist, soweit für Enkel ein Kinderzuschuß zur Knappschaftsrente nur gewährt wird, wenn die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 des Bundeskindergeldgesetzes "vor Eintritt des Versicherungsfalles erfüllt worden sind", mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip unvereinbar.
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Die mit diesem Beschluß beanstandeten Normen hatten im Zeitpunkt der Entscheidung folgenden Wortlaut:
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Als Kinder im Sinne dieses Gesetzes werden berücksichtigt: 1. ... bis 6. ... 7. Enkel und Geschwister, die der Berechtigte in seinen Haushalt aufgenommen hat oder überwiegend unterhält. ... |
§ 60 Abs. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes a.F. (= § 1262 Abs. 2 RVO a.F.= § 39 Abs. 2 AVG a.F.) |
Als Kinder gelten 1. ... bis 7. ... 8. die Enkel und die Geschwister unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 des Bundeskindergeldgesetzes, wenn diese vor Eintritt des Versicherungsfalles erfüllt worden sind. |
Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Regelung einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip gesehen, weil Großeltern, die ihre Enkel vor Eintritt des Versicherungsfalles in ihren Haushalt aufgenommen hatten, ohne sachlichen Grund anders gestellt waren als Großeltern, die Enkel erst nach Eintritt des Versicherungsfalles in ihren Haushalt aufgenommen hatten (BVerfGE 39, 316 [326 f.]). Die Erklärung der Unvereinbarkeit der Regelung mit dem Grundgesetz ist damit begründet worden (a.a.O. [332 f.]), daß eine Nichtigerklärung des Satzteils "vor Eintritt des Versicherungsfalles erfüllt worden sind" aus § 60 Abs. 2 Nr. 8 RKG a.F. ausscheide, da mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung des Verfassungsverstoßes beständen und die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers gewahrt bleiben müsse. Für die Annahme, der Gesetzgeber werde die Einschränkung ersatzlos streichen, bestehe keine hinreichende Sicherheit. Vielmehr ließe sich nicht gänzlich ausschließen, daß der Gesetzgeber die Voraussetzungen, unter denen für Enkel ein Kinderzuschuß zur Rente gezahlt werde, anders regele. Auch die Möglichkeit eines Verzichts auf den Kinderzuschuß für Enkel könne nicht ganz außer Betracht bleiben (a.a.O. [333]).
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§ 17
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Das Reichsknappschaftsgesetz wird wie folgt geändert: 1. ... 2. In § 60 Abs. 2 werden in Nummer 6 nach dem Wort "Versicherten" das Komma durch einen Punkt ersetzt und die Nummern 7 und 8 gestrichen. 3. ... |
Durch § 15 Nr. 10 b des 19. RAG wurde der dem § 60 Abs. 2 entsprechende § 1262 Abs. 2 RVO a.F., durch § 16 Nr. 2 des Gesetzes der entsprechende § 39 Abs. 2 AVG a.F. in gleicher Weise geändert.
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Nach § 32 Abs. 1 des 19. RAG traten diese Bestimmungen am 1. Juli 1976 in Kraft. Das hatte zur Folge, daß seit dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes für Großeltern, die ihre Enkel in ihren Haushalt aufgenommen hatten oder überwiegend unterhielten, auch dann kein Kinderzuschuß zur Rente mehr gezahlt wird, wenn sie diese schon vor dem Eintritt ihres Versicherungsfalles in ihren Haushalt aufgenommen hatten. Dieser Personenkreis erhielt indessen durch die Neuregelung des Kindergeldgesetzes seit dem 1. Januar 1975 Kindergeld, auch wenn das Enkelkind einziges Kind im Hause ist. Das Kindergeld ist jedoch niedriger als der zuvor gewährte Zuschuß zur Rente.
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II. |
Die vorlegenden Gerichte beanstanden, daß es wegen des Inkrafttretens der genannten Normen des 19. Rentenanpassungsgesetzes bis zum 1. Juli 1976 bei der verfassungswidrigen Rechtslage verblieben sei.
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1. Erste Vorlage des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (1 BvL 122/78)
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Der Kläger des Ausgangsverfahrens bezog seit 1970 Knappschaftsrente. Sein Enkelkind lebte zusammen mit seiner Mutter seit 1965 in seinem Haushalt. Es blieb dort, als die Mutter im Jahr 1973 einen eigenen Haushalt begründete. Die im Ausgangsverfahren beklagte Knappschaft lehnte die Gewährung eines Kinderzuschusses ab, weil das Enkelkind nicht vor dem Versicherungsfall in den Haushalt des Klägers aufgenommen worden war. Das Sozialgericht wies die dagegen erhobene Klage ab. Auf die Berufung setzte das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen das Verfahren aus und legte dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, ob |
1. § 17 Nr. 2 des 19. RAG wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 GG) verfassungswidrig sei, soweit hiernach für die Zeit vor dem 1. Juli 1976 auch in nicht rechtskräftig oder bindend abgeschlossenen Fällen eine Änderung des § 60 Abs. 2 Nr. 8 RKG im Hinblick auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Mai 1975 - 1 BvR 332/72 -- nicht erfolgt sei, 2. die in § 60 Abs. 2 Nr. 8 RKG enthaltene Regelung, daß die Aufnahme in den Haushalt vor Eintritt des Versicherungsfalles erfolgt sein müsse, demzufolge nichtig sei. |
Das Gericht ist der Meinung, daß die Bestimmung des § 60 Abs. 2 RKG a.F., nach der ein Kinderzuschuß nur gewährt werde, wenn Großeltern ihr Enkelkind vor dem Versicherungsfall in ihren Haushalt aufgenommen hätten, verfassungswidrig sei, weil der Gesetzgeber dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts, eine Neuregelung auch für die Zeit vor dem 1. Juli 1976 zu schaffen, nicht gefolgt sei. Es habe nicht in der Entschließungsfreiheit des Gesetzgebers gelegen, für die Vergangenheit auf eine verfassungsgemäße Regelung zu verzichten. Aus § 79 Abs. 2 BVerfGG ergebe sich zwar, daß in der Vergangenheit liegende abgeschlossene Rechtsverhältnisse unberührt blieben, wenn sie auf Rechtsvorschriften beruhten, deren Verfassungswidrigkeit festgestellt sei. Dieser Grundsatz dürfe aber auf nicht abgeschlossene Fälle nicht übertragen werden. Im vorliegenden Fall sei auch zwischenzeitlich keine Neuregelung getrof fen, die eine so erhebliche Änderung in der Bewertung der betroffenen Interessen bedeute, daß dadurch für die Vergangenheit der vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Gleichheitsverstoß entfallen sei. Insbesondere könne die am 1. Januar 1974 erfolgte Einführung des Kindergeldes von 50,- DM auch für das erste Kind nicht als solche maßgebliche Neuordnung gewertet werden. |
2. Zweite Vorlage des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (1 BvL 61/79)
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Der Kläger des Ausgangsverfahrens bezog seit Januar 1969 Knappschaftsrente. Im Juli 1969 hat er ein Kind seines Sohnes in seinen Haushalt aufgenommen. Sein im März 1976 gestellter Antrag auf Gewährung eines Kinderzuschusses zur Rente für sein Enkelkind wurde von der Knappschaft zurückgewiesen. Das gegen diesen Bescheid angerufene Sozialgericht verurteilte die beklagte Knappschaft zur Zahlung des Kinderzuschusses und führte aus, daß die der Zahlung entgegenstehende Vorschrift des § 60 Abs. 2 Nr. 8 RKG a.F. nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr angewandt werden dürfe. Die Neuregelung des § 17 Nr. 2 des 19. RAG gelte erst ab 1. Juli 1976. Für die Zwischenzeit müsse so verfahren werden, als stehe die Einschränkung, nach der Großeltern Kinderzuschuß nur erhielten, wenn sie ihr Enkelkind vor dem Versicherungsfall in ihren Haushalt aufgenommen hätten, nicht im Gesetz.
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Auf die Berufung der beklagten Knappschaft hat das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen das Verfahren mit gleicher Vorlagefrage und im wesentlichen gleicher Begründung wie in der Sache 1 BvL 122/78 dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt.
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3. Vorlage des Sozialgerichts Bayreuth (1 BvL 21/77)
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Der Kläger des Ausgangsfalles bezog aufgrund eines am 1. November 1972 eingetretenen Versicherungsfalles ab 1. Dezember 1972 eine Erwerbsunfähigkeitsrente aus der Arbeiterrentenversicherung. Am Tag des Eintritts des Versicherungsfalles lebte noch seine Tochter mit ihrem Kind in seinem Haushalt. Am Tag danach zog die Tochter aus. Das Enkelkind blieb bei den Großeltern. Die Landesversicherungsanstalt lehnte die Gewährung eines Kinderzuschusses zur Rente ab, weil das Kind vor Eintritt des Versicherungsfalles noch nicht im Haushalt des Klägers aufgenommen gewesen sei. Auf die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage setzte das angerufene Sozialgericht das Verfahren aus und legte dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, ob |
es auch nach dem Inkrafttreten des 19. Rentenanpassungsgesetzes vom 3. Juni 1976 (BGBl. I S. 1373) gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) verstoße, daß in der Rentenversicherung für Arbeiter bis zum 30. Juni 1976 ein Kinderzuschuß für Enkel nur gewährt worden sei, wenn der Rentner sie "vor Eintritt des Versicherungsfalles" in seinen Haushalt aufgenommen oder überwiegend unterhalten habe (§ 1262 Abs. 2 Nr. 8 RVO a.F.).
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Das vorlegende Gericht meint, die Verfassungswidrigkeit, die das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der Norm des § 60 Abs. 2 Nr. 8 RKG a.F. festgestellt habe, betreffe auch die mit ihr übereinstimmende Norm des § 1262 Abs. 2 Nr. 8 RVO a.F. Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Mai 1975 (BVerfGE 39, 316) finde daher auch für Fälle aus der Arbeiterrentenversicherung Anwendung. Die Veränderung der Norm durch das 19. Rentenanpassungsgesetz mit Wirkung vom 1. Juli 1976 beseitige die Verfassungswidrigkeit für die Zeit davor nicht. Die Verfassungswidrigkeit entfalle auch nicht deswegen, weil dem Gesetzgeber eine angemessene Zeit zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit zur Verfügung stehen müsse. Da der Gesetzgeber für die Vergangenheit keine Neuregelung geschaffen habe, würde die Abweisung einer Klage aus § 1262 Abs. 2 Nr. 8 RVO a.F. bedeuten, daß ein verfassungswidriges Gesetz Grund lage einer Entscheidung wäre. Auf ein solches Gesetz dürfe aber keine Entscheidung gestützt werden. Es gebe für das Gericht auch keine Möglichkeit zu einer verfassungskonformen Auslegung. Aus der Neuregelung des 19. Rentenanpassungsgesetzes könne nicht entnommen werden, ob der Gesetzgeber für die Zwischenzeit den Fortfall der Einschränkung des Kinderzuschusses oder -- wie für die Zukunft -- die ersatzlose Streichung des Kinderzuschusses auch für die Vergangenheit gewollt habe. |
III. |
Zu den Vorlagen hat die Bundesregierung durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Stellung genommen. Ferner haben drei oberste Bundesgerichte sich geäußert.
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1. Nach Auffassung des Bundesministers hatte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Mai 1975 hinsichtlich des § 60 Abs. 2 Nr. 8 RKG a.F. die Wirkung, daß auch § 1262 Abs. 2 Nr. 8 RVO a.F. mit dem Grundgesetz unvereinbar war. Daher sei mit dem 19. Rentenanpassungsgesetz auch diese Vorschrift aufgehoben worden. Wenn die Aufhebung erst am 1. Juli 1976 in Kraft gesetzt sei, müsse darin die Anordnung des Gesetzgebers gesehen werden, daß es für die vorhergehende Zeit mit der bisherigen Regelung sein Bewenden habe.
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Daraus folge, daß die vom Sozialgericht Bayreuth in 1 BvL 21/77 vorgelegte Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des § 1262 Abs. 2 Nr. 8 RVO a.F. nicht entscheidungserheblich und daher unzulässig sei. Es käme nur auf die Frage an, ob das 19. Rentenanpassungsgesetz insoweit verfassungswidrig sei, als es die Aufhebung der beanstandeten Regelung erst mit Wirkung vom 1. Juli 1976 anordne.
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Jedenfalls seien die Bedenken der vorlegenden Gerichte unbegründet. Entgegen ihrer Auffassung seien die beanstandeten Normen des § 60 Abs. 2 Nr. 8 RKG a.F. und des § 1262 Abs. 2 Nr. 8 RVO a.F. für die Zeit bis zum 30. Juni 1976 weiter anwendbar gewesen. Zwar habe die Erklärung des Bundesverfassungsgerichts, daß eine Norm mit der Verfassung unvereinbar sei, grundsätzlich für Zukunft und Vergangenheit die gleiche Wirkung. § 79 BVerfGG verhindere aber, daß die Wirkung einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung ex tunc zu Rechtsunsicherheit führe. |
Hätte der Gesetzgeber allerdings die gebotene Gleichheit durch die Streichung der Einschränkung des § 60 Abs. 2 Nr. 8 RKG a.F. "vor Eintritt des Versicherungsfalles" herstellen wollen, wäre es rechtlich möglich gewesen, diese Entscheidung auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts zurückzubeziehen. Da der Gesetzgeber sich aber für die Streichung des Kinderzuschusses entschieden habe, sei es aus Gründen des Vertrauensschutzes ausgeschlossen gewesen, eine volle wirtschaftliche und rechtliche Gleichstellung aller Rentner zu erreichen. Denn im Falle einer Streichung der Zuschußregelung für die Vergangenheit hätten zumindest bereits gezahlte Kinderzuschüsse den Empfängern belassen werden müssen (§ 1301 RVO). Im übrigen sei dem Gesetzgeber für die relativ kurze Zeit, die zwischen der Bekanntgabe des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts und dem Inkrafttreten des 19. Rentenanpassungsgesetzes lag, der Erlaß einer Übergangsvorschrift nicht zuzumuten gewesen.
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2. Die obersten Bundesgerichte, die zu den Vorlagen Stellung genommen haben, vertreten unterschiedliche Auffassungen.
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a) Der 4. Senat des Bundessozialgerichts hält die Vorschriften des § 60 Abs. 2 Nr. 8 RKG a.F. und des § 1262 Abs. 2 Nr. 8 RVO a.F. entgegen der Auffassung der vorlegenden Gerichte bis zum 30. Juni 1976 für weiter anwendbar. Das Bundesverfassungsgericht habe es dem Gesetzgeber überlassen, auf welche Weise die Verfassungswidrigkeit der beanstandeten Vorschrift zu beseitigen sei. Der Gesetzgeber habe daraufhin mit Wirkung vom 1. Juli 1976 die Ungleichheit beseitigt. Die verbleibende Ungleichheit vor diesem Termin könne für eine Übergangszeit hingenommen werden, denn soweit vor dem 1. Juli 1976 Kinderzuschüsse bewilligt und gezahlt worden seien, sei die Rückforderung nach der einschränkenden Vorschrift des § 1301 RVO ohnedies praktisch ausgeschlossen gewesen. Andererseits würde sich der Gesetzgeber mit einer Regelung, die vordem von der Leistung ausgeschlossenen Rentnern bis zum 30. Juni 1976 Kinderzuschüsse gewährt hätte, in einen schwer verständlichen Widerspruch zu der für die Zukunft getroffenen Regelung gesetzt haben. Grundsätzlich dürfe zwar eine Norm, deren Verfassungswidrigkeit festgestellt sei, vom Zeitpunkt der Entscheidung an nicht mehr angewandt werden. Indessen sei der Gesetzgeber nach dem in § 79 Abs. 2 BVerfGG zum Ausdruck gekommenen Rechtsgedanken nicht verpflichtet, eine Ungleichheit auch für die Vergangenheit zu beseitigen. Im übrigen unterscheide sich die getroffene Regelung nur formal von einer möglichen Regelung, welche die Normen des § 1262 Abs. 2 Nr. 8 RVO a.F., § 60 Abs. 2 RKG Nr. 8 a.F. für die Vergangenheit gestrichen, die ausgezahlten Beträge aber den Empfängern belassen haben würde. |
b) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den 2., 5. und 7. Senat und durch den 1. Wehrdienstsenat Stellung genommen. Die Senate legen dar, daß die Auswirkungen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, welche die Unvereinbarkeit von Normen mit der Verfassung ausspreche, nach der jeweiligen Fallgestaltung unterschiedlich seien.
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c) Der Bundesfinanzhof hat sich durch seinen IV., V. und VI. Senat geäußert. Die Senate weisen darauf hin, daß die Fälle, in denen das Bundesverfassungsgericht eine Norm für verfassungswidrig erkläre, sehr unterschiedlich lägen. Jedenfalls aber dürfe eine für verfassungswidrig erklärte Norm nicht mehr angewandt werden. Gerichte und Verwaltung müßten ihre Verfahren aussetzen, bis der Gesetzgeber tätig geworden sei. Die Anforderungen an den Gesetzgeber könnten aber je nach der Materie sehr verschieden sein. Grundsätzlich müsse die vom Gesetzgeber zu erlassende Norm mit Rückwirkung ausgestattet sein, da alle noch anhängigen Verfahren unter diese Norm fielen. Der Gesetzgeber könne daher auch eine Norm, die der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts inhaltlich gerecht wer de, nicht durch die Einführung eines Stichtags begrenzen. Sei eine Gruppe verfassungswidrig von einer Leistung ausgeschlossen, sei es nicht vertretbar, ihr weiterhin die Leistung vorzuenthalten. Wegen des grundsätzlichen Verbots, belastende Gesetze rückwirkend zu erlassen, sei es regelmäßig auch nicht zulässig, eine dem Art. 3 Abs. 1 GG gerecht werdende Rechtslage dadurch herzustellen, daß Leistungen für die Vergangenheit ersatzlos entfielen. |
B. |
Die Vorlagen sind zulässig.
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Der Zulässigkeit der Vorlage des Sozialgerichts Bayreuth steht nicht entgegen, daß dieses Gericht mit der Vorlagefrage die Verfassungsmäßigkeit des § 1262 Abs. 2 Nr. 8 RVO a.F. zur Prüfung stellt. Der Gesamtzusammenhang der Vorlage läßt erkennen, daß auch dieses Gericht -- wie die vorlegenden senate des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen -- die Regelung des 19. Rentenanpassungsgesetzes insoweit für verfassungswidrig hält, als durch diese eine Änderung des § 1262 Abs. 2 Nr. 8 RVO a.F. für die Zeit vor dem 1. Juli 1976 unterblieben ist.
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C. -- I. |
Wenn das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit einer Norm feststellt, so hat das ebenso wie eine Nichtigerklärung die Wirkung, daß Gerichte und Verwaltung die Norm, soweit sich das aus der Entscheidung ergibt, nicht mehr anwenden dürfen (vgl. BVerfGE 37, 217 [261]). Für den Gesetzgeber begründet eine solche Entscheidung die Pflicht zur Herstellung einer der Verfassung entsprechenden Gesetzeslage. Der Gesetzgeber ist dabei zwar -- soweit keine Fristsetzung erfolgt (vgl. BVerfGE 39, 169 [194 f.]) -- verfassungsrechtlich nicht gebunden, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt eine neue gesetzliche Regelung zu treffen. Andererseits aber darf er eine als mit der Verfassung unvereinbar festgestellte Rechtslage nicht unverändert bestehen lassen. Beruht die Erklärung des Bundesverfassungsgerichts, daß eine Regelung mit der Verfassung unvereinbar sei, auf einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG, ist der Gesetzgeber daher gehalten, den Anforderungen dieses Grundrechts auch für die seiner Entscheidung vorangehende Zeit gerecht zu werden. |
Verändert der Gesetzgeber im Hinblick auf einen Ausspruch des Bundesverfassungsgerichts die beanstandete Regelung, so unterliegt die Neuregelung wiederum der verfassungsrechtlichen Prüfung, die nicht nur auf die Zukunft beschränkt ist.
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Gegenstand der verfassungsrechtlichen Prüfung ist daher das 19. Rentenanpassungsgesetz, soweit es durch die Normen des § 17 Nr. 2, § 15 Nr. 10 b i.V.m. § 32 Abs. 1 eine Regelung getroffen hat, nach der § 60 Abs. 2 Nr. 8 RKG a.F., der nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Mai 1975 mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, und die entsprechende Vorschrift des § 1262 Abs. 2 Nr. 8 RVO a.F. bis zum 30. Juni 1976 fortgelten.
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II. |
Prüfungsmaßstab für die beanstandete Regelung ist Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip. Dabei hat die Prüfung davon auszugehen, daß die Regelung des § 60 Abs. 2 Nr. 8 RKG a.F. und die entsprechende Vorschrift des § 1262 Abs. 2 Nr. 8 RVO a.F. bis zum 30. Juni 1976 gegolten haben. Das ergibt sich daraus, daß nach § 32 Abs. 1 des 19. RAG die Neuregelung erst ab 1. Juli 1976 in Kraft gesetzt worden ist. Es entspricht danach dem Gesetz, daß Großeltern, die ihre Enkelkinder nach dem Eintritt des Versicherungsfalles in ihren Haushalt aufgenommen haben, keinen Kinderzuschuß zu ihrer Rente erhalten, während andere Großeltern, deren Enkel schon vor dem Versicherungsfall bei ihnen aufgenommen sind, weiterhin bis 30. Juni 1976 diesen Zuschuß erhalten.
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Soweit sich diese Rechtsfolge aus nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen ergibt, die auf der mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärten Regelung beruhen, ist das nach § 79 Abs. 2 BVerfGG unbedenklich (vgl. BVerfGE 20, 230 [235] m.w.N.). Im übrigen verstößt diese Regelung aus den gleichen Gründen, die in der Entscheidung vom 6. Mai 1975 dargelegt sind (BVerfGE 39, 316 [326 ff.]), gegen Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip. Dort hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, daß Rentner, die erst nach Eintritt des Versicherungsfalles ein Enkelkind in ihren Haushalt aufgenommen haben oder überwiegend unterhalten, zum einen gegenüber Rentnern benachteiligt werden, bei denen diese Voraussetzungen bereits vor Eintritt des Versicherungsfalles erfüllt sind, zum anderen gegenüber solchen Rentnern, die einen Kinderzuschuß nach § 60 Abs. 2 Nrn. 1-6 RKG erhalten. Für diese Differenzierung ließen sich keine vernünftigen, sachlich einleuchtenden Gründe finden. Vom Blickpunkt sozialer Gerechtigkeit erscheine die Regelung als unangemessen und sachwidrig. |
Diese Beurteilung gilt auch für den Zeitraum bis zum 1. Juli 1976, von dem ab der Gesetzgeber die Ungleichheit beseitigt hat, die bis dahin zwischen Großeltern bestand, die vor oder nach dem Versicherungsfall ihre Enkel aufgenommen hatten. Vom Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bis zum 30. Juni 1976 haben sich die Verhältnisse nicht so geändert, daß deswegen für diesen Zeitraum etwas anderes gelten könnte.
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Insbesondere ändert sich die verfassungsrechtliche Beurteilung nicht dadurch, daß seit dem 1. Januar 1975 Großeltern, die nach dem Versicherungsfall ein Enkelkind aufgenommen haben, Kindergeld erhalten konnten. Dieser Anspruch auf Kindergeld, das geringer als der Kinderzuschuß zur Rente ist, bestand auch schon im Zeitpunkt der Entscheidung vom 6. Mai 1975 (vgl. BVerfGE 39, 316 [320]).
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Unterschiedlich ist die Situation im Zeitraum nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bis zur Neuregelung nur insofern, als nach den Darlegungen des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung in der Zwischenzeit an diejenigen Rentner, denen vorher der Kinderzuschuß für ihre Enkel gewährt worden war, in der Regel der Zuschuß weiter ausgezahlt worden ist. Der Gesetzgeber hätte unter solchen Umständen durch Streichung des Kinderzuschusses für die Vergangenheit eine wirtschaftliche Gleichstellung der Rentner nur unter Inkaufnahme erheblicher rechtlicher und tatsächlicher Schwierigkeiten bewirken können. Indessen sind solche Schwierigkeiten kein sachgerechter Grund, der eine Fortdauer der Ungleichbehandlung über den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinaus rechtfertigen könnte. |
III. |
Somit verstoßen die vorgelegten Bestimmungen des 19. Rentenanpassungsgesetzes insoweit gegen Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip, als sie für den Zeitraum vor dem 1. Juli 1976 die verfassungswidrige Regelung des § 60 Abs. 2 Nr. 8 RKG a.F. und des § 1262 Abs. 2 Nr. 8 RVO a.F. bestehen lassen.
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Das Bundesverfassungsgericht ist jedoch im Zeitpunkt dieser Entscheidung, anders als bei der Entscheidung vom 6. Mai 1975 (a.a.O. [332 f.]), nicht mehr gehalten, nur die Unvereinbarkeit der Regelung mit der Verfassung festzustellen.
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Verletzt eine gesetzliche Regelung das Grundgesetz, so hat das grundsätzlich zur Folge, daß sie für nichtig zu erklären ist. Davon hat die Rechtsprechung nur dann eine Ausnahme gemacht, wenn dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit blieben. Diese Möglichkeit ist aber im vorliegenden Fall aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen derart gering, daß kein Anlaß besteht, lediglich die Unvereinbarkeit der beanstandeten Regelung mit der Verfassung festzustellen. Im jetzigen Zeitpunkt bleibt dem Gesetzgeber praktisch nur die Möglichkeit, den verfassungsrechtlichen Anforderungen dadurch zu genügen, daß er für die Zeit bis zum 30. Juni 1976 denjenigen Großeltern nachträglich den Zuschuß gewährt, die nur deswegen keinen Kinderzuschuß erhielten, weil sie ihr Enkelkind nach dem Versicherungsfall in ihren Haushalt aufnahmen. Unter diesen Umständen kann davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber bei Kenntnis der Verfassungswidrigkeit der jetzt vorgelegten Regelung den Weg der Einräumung von Ansprüchen für die Vergangenheit gegangen wäre. |
Benda Simon Faller Hesse Katzenstein Niemeyer Heußner |