BVerfGE 71, 158 - Legende vom toten Soldaten |
Beschluß |
des Ersten Senats vom 8. November 1985 |
-- 1 BvR 1290/85 -- |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn L... - Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Gabriele Heinecke, Karen Mücher, Sigrid Töpfer, Thomas Mammitzsch, Ulrich Wittmann, Kaiser-Wilhelm-Straße 53, Hamburg 36 - gegen a) den Beschluß des Oberverwaltungsgerichts Koblenz vom 6. November 1985 - 7 B 71/85 - 1 L 98/85 -, hier: Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung. |
Entscheidungsformel: |
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. |
Gründe: |
I. |
1. Der Beschwerdeführer meldete bei der Stadt Bitburg die Absicht an, am Sonntag, dem 10. November 1985 auf dem Gelände des Ehrenfriedhofes "Kolmeshöhe" im Freien eine szenische Darstellung des Gedichts "Legende vom toten Soldaten" von Bertolt Brecht zu veranstalten. Das Gedicht beschreibt den Kriegstod eines deutschen Soldaten im vierten Jahr des Ersten Weltkrieges, der wenig später von einer militärärztlichen Kommission exhumiert, untersucht, für kriegsverwendungsfähig gehalten und an die Front zurück eskortiert wird.
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Der für die Inszenierung vorgesehene Regisseur gab der Stadt gegenüber eine kurze Schilderung der geplanten Darstellung. Sie wolle sich an den Text des Gedichts von Brecht halten. Die aufführenden Personen sollten so in Erscheinung treten, wie es sich mit der Würde des Ortes vereinbaren lasse. Keine der dargestellten Personen werde das Gräberfeld betreten, auch werde kein wirkliches Grab geöffnet und kein tatsächlich gestorbener Soldat ausgegraben.
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2. Die Stadtverwaltung Bitburg untersagte nach § 15 Abs. 1 des Versammlungsgesetzes die angezeigte Veranstaltung. Die Darstellung lasse sich nicht mit der Würde des Ortes vereinbaren. Die Gefühle und Empfindungen der Angehörigen der Toten sowie der übrigen Friedhofsbesucher würden aufs gröbste verletzt. Es sei davon auszugehen, daß die Darstellung als Herabwürdigung des Andenkens der Toten verstanden werde und nicht voraussehbare Reaktionen auslöse. Im übrigen bedürfe die Veranstaltung einer Genehmigung des Friedhofsträgers, die nicht erteilt werde. Gleichzeitig wurde die sofortige Vollziehung angeordnet.
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3. Ein beim Verwaltungsgericht Trier gestellter Antrag des Beschwerdeführers auf einstweiligen Rechtsschutz blieb erfolglos. Das Oberverwaltungsgericht hat die Beschwerde zurückgewiesen. Die Verfügung der Stadtverwaltung Bitburg sei nach derzeitigen Erkenntnissen offensichtlich rechtmäßig. Die beab sichtigte Versammlung verletze unmittelbar die öffentliche Sicherheit. Sie widerspreche auch der für den Ehrenfriedhof geltenden Benutzerordnung. Die grundsätzlich verbürgte Freiheit der Kunst zwinge zu keiner anderen Beurteilung, denn sie werde nicht unverhältnismäßig eingeschränkt. Die szenische Darstellung als solche sei nicht untersagt, sie könne an einem anderen Ort aufgeführt werden. Wenn dieses zu einer Beschränkung der von ihr ausgehenden tatsächlichen Wirkung führe, so sei das zwangsläufige Folge des Schutzes der genannten Rechtsgüter. |
4. Der Beschwerdeführer rügt mit der gegen die verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen erhobenen Verfassungsbeschwerde eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1, aus Art. 8 und aus Art. 3 GG und beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung unter Abänderung der verwaltungsgerichtlichen Beschlüsse die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Verfügung der Stadt Bitburg wiederherzustellen.
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Die beabsichtigte Aufführung in Bitburg sei Teil eines Gesamtkunstwerkes, das am 9. November 1985 in Verdun mit der Aufführung des Gedichts und der "Ausgrabung" eines Soldaten des Ersten Weltkrieges beginnen, am 10. November 1985 mit der "Ausgrabung" eines Soldaten des Zweiten Weltkrieges in Bitburg fortgesetzt werden und anläßlich einer Truppenparade vor dem Bundeskanzler und dem Kabinett am 13. November 1985 in Bergen-Hohne mit einer Wiederholung des Gedichts und Übergabe der "ausgegrabenen" Soldaten beider Weltkriege an den Bundeskanzler enden solle. Die Aufführung sei eine Warnung vor neuen Kriegsvorbereitungen. Bei Verhinderung nur eines der Aufführungsteile werde das gesamte Kunstwerk in seinem Sinn und seiner Symbolik zerstört. Bei den für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung erforderlichen Abwägungen müsse daher davon ausgegangen werden, daß der Sofortvollzug des Verbotes zu einer endgültigen Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung führe, denn die Aufführung sei absolut termingebunden.
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II. |
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist zulässig, aber unbegründet.
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Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 64, 67 [69]; 68, 233 [235]). Das Bundesverfassungsgericht muß vielmehr die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (BVerfGE 34, 341 [342] m.w.N.).
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Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Die im Verfahren der einstweiligen Anordnung zu treffende Abwägung ergibt, daß die Voraussetzungen für den Erlaß einer solchen Anordnung nicht vorliegen.
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Erginge die einstweilige Anordnung, dann dürfte der Beschwerdeführer die beabsichtigte Aufführung mit allen vom Oberverwaltungsgericht dargelegten Folgen durchführen. Er könnte also irreparable, mit dem Grundgesetz unvereinbare Tatsachen schaffen, bevor die Rechtslage einschließlich der Befugnis zur Benutzung des Friedhofes geklärt ist und obwohl sich später der Sofortvollzug eines Verbotes als rechtmäßig erweist. Dieser beträchtliche Nachteil könnte nur dann in Kauf genommen werden, wenn im umgekehrten Fall die Belange des Beschwerdeführers erheblich schwerer wiegen würden. Das ist jedoch nicht erkennbar. Die Nachteile, die eintreten, wenn die einstweilige Anordnung unterbleibt, die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet beurteilt wird, sind nicht irreparabel. Der Beschwerdeführer kann dann zwar die Aufführung nicht zu dem gewählten Zeitpunkt im Rahmen seiner Gesamtkonzeption veranstalten. Das entwertet sein Vorhaben jedoch nicht endgültig. Ob die Nachteile auf seiner Seite auch deshalb geringer wiegen, weil die Aufführung nach Meinung des Oberverwaltungsgerichts an einem anderen Ort stattfinden könnte, mag dahingestellt bleiben. |
Herzog Simon Hesse Katzenstein Niemeyer Heußner |