BVerfGE 77, 275 - Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde |
1. Zum Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde. |
2. Soll die öffentliche Bekanntmachung einer Entscheidung eine ein wöchige Rechtsbehelfsfrist in Lauf setzen, gebietet der Anspruch auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes, daß darin zumindest der Entscheidungsausspruch selbst mitgeteilt wird. |
Beschluß |
des Ersten Senats vom 2. Dezember 1987 |
– 1 BvR 1291/85 – |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Firma P... Aktiengesellschaft, vertreten durch den Vorstand..., – Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Prof. Dr. Konrad Redeker, Prof. Dr. Hans Dahs, Dr. Dieter Sellner, Dr. Klaus D. Becker, Ulrich Keller, Ulrike Borger, Dr. Friedwald Lübbert, Hanns W. Feigen und Dr. Kay Artur Pape, Oxfordstraße 24, Bonn l – gegen den Beschluß des Landgerichts Hannover vom 26. September 1985 – 8 T 166/84 –. |
Entscheidungsformel: |
Der Beschluß des Landgerichts Hannover vom 26. September 1985 – 8 T 166/84 – verstößt gegen Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen. |
Das Land Niedersachsen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten. |
Gründe: |
A. |
Gegenstand des Verfahrens ist ein Beschluß, mit dem eine Beschwerde gegen die Festsetzung der Vergütung eines Vergleichsverwalters als unzulässig verworfen wurde.
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I. |
1. Die beschwerdeführende Aktiengesellschaft war Schuldnerin eines Vergleichsverfahrens. Mit Beschluß vom 16. Dezember 1983 setzte das Amtsgericht – Rechtspfleger – die Vergütung des Vergleichsverwalters für die Tätigkeit nach der Bestätigung des Vergleichs fest. Da das Vergleichsverfahren die Entlassung einer gro ßen Zahl von Mitarbeitern der Beschwerdeführerin zur Folge gehabt hatte und die verbleibenden Betriebsangehörigen auf erworbene Ansprüche verzichten mußten, befürchtete der Vorstand der Beschwerdeführerin eine Störung des Betriebsfriedens, wenn die Höhe der Vergütung bekannt werden würde. Auf seinen Wunsch hin erhielt die Beschwerdeführerin den Beschluß daher in der Weise, daß dem Vergleichsverwalter zwei Ausfertigungen unter Beifügung eines auf ihn lautenden Empfangsbekenntnisses übergeben wurden. Eine dieser Ausfertigungen händigte er am 22. Dezember 1983 dem Vorstand gegen Unterzeichnung des inzwischen auf die Beschwerdeführerin umgeschriebenen Empfangsbekenntnisses aus. |
Im Niedersächsischen Staatsanzeiger vom 2. Januar 1984 wurde der Beschluß bekannt gemacht. Die Veröffentlichung enthielt nur die Mitteilung, daß am 16. Dezember 1983 "die Vergütung und die Auslagen des Vergleichsverwalters für die Zeit nach der Vergleichsbestätigung" festgesetzt worden seien; über die Höhe der Beträge schwieg sie.
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§ 119 der Vergleichsordnung – VerglO – regelt die Form, den Inhalt und die Wirkung solcher öffentlichen Bekanntmachungen. Sein Absatz 2 lautet:
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Die öffentlichen Bekanntmachungen erfolgen durch mindestens einmalige Einrückung in das zur Veröffentlichung amtlicher Bekanntmachungen des Gerichts bestimmte Blatt; die Einrückung kann auszugsweise geschehen. Die Bekanntmachung gilt als bewirkt mit dem Ablauf des zweiten Tages nach der Ausgabe des die Einrückung oder die erste Einrückung enthaltenden Blattes.
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Nach § 119 Abs. 4 VerglO gilt eine solche Bekanntmachung als Zustellung an alle Beteiligten, auch wenn die Vergleichsordnung neben ihr eine besondere Zustellung vorschreibt. Die Rechtsmittel regelt § 121 VerglO. Absatz 2 dieser Bestimmung hat folgenden Inhalt:
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Soweit eine Anfechtung stattfindet, erfolgt sie durch sofortige Beschwerde. Die Beschwerdefrist (Notfrist) beträgt eine Woche. Die Frist beginnt mit der Verkündung der Entscheidung oder, wenn diese nicht verkündet wird, mit ihrer Zustellung.
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2. Die Hälfte der festgesetzten Vergütung überwies die Beschwerdeführerin dem Vergleichsverwalter vorbehaltlos am 15. Februar 1984. Da sie Anfang April 1984 rügte, ihr sei der Beschluß vom 16. Dezember 1983 nicht ordnungsgemäß zugestellt worden, erhielt sie ihn erneut am 12. April 1984, dieses Mal mit Postzustellungsurkunde. Daraufhin legte sie Erinnerung ein, weil sie die Vergütung des Vergleichsverwalters für das Nachverfahren für weit übersetzt hielt. Dem Rechtsbehelf halfen Rechtspfleger und Amtsrichter nicht ab. Das Landgericht verwarf die nunmehr als sofortige Beschwerde geltende Erinnerung als unzulässig. Es führte zunächst aus, daß die persönliche Überbringung des Beschlusses durch den Vergleichsverwalter keine wirksame Zustellung gewesen und dieser Mangel auch durch die Entgegennahme der Ausfertigung durch den Vorstand der Beschwerdeführerin nicht geheilt worden sei. Ob in der Berufung auf diesen Zustellungsmangel eine unzulässige Rechtsausübung der Beschwerdeführerin liege, ließ es offen, weil der Beschluß jedenfalls durch die Veröffentlichung im Niedersächsischen Staatsanzeiger nach § 119 Abs. 4 VerglO wirksam zugestellt worden sei. Dem stehe nicht entgegen, daß in der Veröffentlichung die festgesetzten Beträge nicht genannt worden seien. § 119 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 VerglO überlasse es dem Ermessen des Gerichts, von einer vollständigen Veröffentlichung abzusehen, und seine Entscheidung nur auszugsweise bekanntzumachen. Schützenswerte Belange der Beschwerdeführerin seien dadurch nicht verletzt worden; denn nach § 120 Abs. 1 VerglO habe sie die Akten einsehen und sich Abschriften daraus erteilen lassen können. Da das Aktenzeichen sowie das Datum der Beschlußfassung genannt worden seien, habe sie so die Möglichkeit gehabt, von dem vollständigen Inhalt der Entscheidung Kenntnis zu erlangen und zu überlegen, ob Anlaß zu einer gerichtlichen Nachprüfung bestehe. Die Zustellung des Beschlusses gelte daher nach § 119 Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 2 VerglO als mit Ablauf des 4. Januar 1984 bewirkt. Zu diesem Zeitpunkt habe gemäß § 121 Abs. 2 Satz 3 VerglO die einwöchige Beschwerdefrist begonnen. Infolgedessen sei die Erinnerung verspätet eingelegt worden. Daran ändere die nochmalige Zustellung am 12. April 1984 nichts; denn an die bereits eingetrete ne Rechtskraft des Beschlusses sei auch das Gericht gebunden gewesen. |
II. |
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG sowie einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip.
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Dazu trägt sie vor: Selbst wenn man unterstellen wollte, daß sie für die Dauer des Vergleichsverfahrens wegen der Bestimmung des § 119 VerglO den Niedersächsischen Staatsanzeiger zu abonnieren gehabt hätte, sei die Beschwerdefrist des § 121 Abs. 2 Satz 2 VerglO unerträglich kurz, zumal die Veröffentlichung keine Angaben über die Höhe der Vergütung des Vergleichsverwalters enthalten habe. Die Vorstellung des Landgerichts, sie hätte binnen einer Woche diese aus den Akten ermitteln, deren Rechtmäßigkeit prüfen und anschließend den Rechtsweg beschreiten können, sei abwegig. Eine Rechtsmittelfrist von einer Woche nach der öffentlichen Bekanntgabe einer Entscheidung sei mit Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar; sie höhle das Recht, den Rechtsweg zu beschreiten, untragbar aus. Hinzu komme, daß über diese Frist nicht einmal belehrt zu werden brauche. Entweder sei § 121 in Verbindung mit § 119 VerglO insgesamt verfassungswidrig oder § 119 Abs. 4 VerglO sei verfassungskonform dahin auszulegen, daß nach Möglichkeit eine persönliche Zustellung erfolgen müsse, die für die Wahrung der Rechtsmittelfrist allein maßgeblich sei. Die Auffassung des Landgerichts führe auch dazu, daß dem betroffenen Bürger das in Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistete rechtliche Gehör genommen werde. Diese Verfahrensgarantie sei zusätzlich dadurch verletzt worden, daß das Gericht die Beteiligten über ein Jahr ohne jede Einschränkung zu wechselseitigen Stellungnahmen aufgefordert habe, ohne seine Zulässigkeitsbedenken mitzuteilen. Ein Hinweis, zu dem das Gericht nach § 139 ZPO verpflichtet gewesen wäre, hätte sie veranlaßt, auf die in Wirklichkeit fehlende inhaltliche Bekanntmachung des Beschlusses aufmerksam zu machen. Schließlich sei die Entscheidung des Landgerichts auch nicht mit rechtsstaatlichen Verfahrensgrund sätzen vereinbar, wobei dahingestellt bleiben könne, ob diese Prinzipien hier ihre Ausprägung in Art. 19 Abs. 4 GG fänden. |
III. |
Zu der Verfassungsbeschwerde haben der Bundesminister der Justiz namens der Bundesregierung, der Niedersächsische Minister der Justiz und der frühere Vergleichsverwalter Stellung genommen.
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1. Der Bundesminister bezweifelt die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde, weil die Beschwerdeführerin in Anknüpfung an die Auffassung des Landgerichts zur Verspätung des Rechtsmittels Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hätte beantragen müssen. Daneben stellt er in Frage, ob die auf Art. 103 Abs. 1 GG zielende Rüge hinreichend substantiiert sei. Weiter führt er aus: Der auf diese Verfahrensgarantie gestützte Rechtsbehelf erscheine – seine Zulässigkeit unterstellt – begründet. Die Beschwerde habe nicht als verfristet verworfen werden dürfen. Die öffentliche Bekanntmachung habe keine wirksame Zustellung zur Folge gehabt, weil sie unvollständig gewesen sei. Zwar könne nach § 119 Abs. 2 Satz 1 VerglO die Einrückung im Veröffentlichungsblatt auszugsweise geschehen. Solle die öffentliche Bekanntmachung jedoch als Zustellung gelten, müsse der wesentliche Inhalt der Entscheidung – nämlich der Betrag, den der Vergleichsschuldner an den Vergleichsverwalter zu zahlen habe – mitgeteilt werden; andernfalls werde der Zweck einer Zustellung verfehlt. Allein diese Auffassung genüge den Anforderungen des Art. 103 Abs. 1 GG an die Auslegung des geltenden Verfahrensrechts; denn nur bei Bekanntgabe des Entscheidungsinhalts könne der Adressat die ihm nach der Vergleichsordnung eingeräumte Anfechtungsmöglichkeit in der Wochenfrist nutzen.
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2. Der Niedersächsische Minister der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde nicht für begründet: Durch § 119 Abs. 4 VerglO und die vergleichbare Vorschrift des § 76 Abs. 3 der Konkursordnung – KO – solle im Interesse der Sicherheit des Rechtsverkehrs erreicht werden, daß ein für alle Beteiligte gleichmäßiger und jedem erkenn barer Zeitpunkt für den Beginn der Rechtsmittelfrist festgelegt werde. Dies sei insbesondere in Verfahren mit einer großen Zahl von Beteiligten oder mit Beteiligten, deren Anschriften nicht sicher feststünden, von Bedeutung. Der Weg zum Beschwerdegericht werde dadurch nicht in unbilliger, rechtsstaatswidriger Weise erschwert. Auch die Auslegung und Anwendung des § 119 Abs. 4 VerglO durch das Landgericht lasse keinen Verfassungsverstoß erkennen. Fraglich sei allerdings, ob der im Niedersächsischen Staatsanzeiger veröffentlichte Text ausgereicht habe, die Beschwerdefrist in Lauf zu setzen. Für eine Zustellung genüge er jedenfalls nicht. Dieser einfachrechtliche Fehler des Landgerichts sei aber im Hinblick auf die generell bestehende Möglichkeit, Wiedereinsetzung zu beantragen, noch nicht als Verfassungsverstoß anzusehen. |
3. Der Vergleichsverwalter ist der Auffassung, die Verfassungsbeschwerde sei unzulässig: Zum Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2 BVerfGG gehöre auch ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, den die Beschwerdeführerin nicht gestellt habe. Sie habe es darüber hinaus unterlassen, ihre verfassungsrechtlichen Bedenken dem Fachgericht vorzutragen, sondern das Verfassungsrecht erst im nachhinein entdeckt. Das wolle der Grundsatz der Subsidiarität verhindern. Soweit sie sich auf Art. 103 Abs. 1 GG berufe, habe sie innerhalb der einmonatigen Beschwerdefrist nicht dargelegt, was sie bei der von ihr gewünschten Anhörung geltend gemacht hätte, sondern sich ausschließlich auf ihren Vortrag vor den Instanzgerichten bezogen. Auch in der Sache selbst liege kein Verstoß gegen ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs vor. Dem mit der Verfassungsbeschwerde verfolgten Anliegen werde ohnehin eher die auf Art. 19 Abs. 4 GG zielende Rüge gerecht. Aber auch diese Verfassungsnorm sei durch die öffentliche Bekanntmachung nicht verletzt worden. An einem Vergleichsverfahren sei häufig eine Vielzahl von Personen beteiligt. Es komme darauf an, für einen gleichmäßigen Fristablauf zu sorgen. Danach sei die öffentliche Bekanntmachung eine rechtsstaatlich zulässige Verlautbarungsform. Rechte der Beschwerdeführerin würden dadurch nicht verkürzt. Im Vergleichsverfahren sei für eine Reihe von Entscheidungen die öffentliche Bekanntmachung vorgesehen. Auf grund dieser Situation sei ihr die Lektüre eines Publikationsorgans zuzumuten gewesen, das sonst ohne Anlaß nicht gelesen werde. Auch die Länge der Beschwerdefrist sei nicht zu beanstanden. Das Bundesverfassungsgericht habe bereits Dreitagesfristen und Einwochenfristen gebilligt. Schließlich habe die Beschwerdeführerin die vermeintliche Verletzung ihrer Grundrechte selbst zu vertreten. Sie habe die Sach- und Rechtslage gekannt und sei daher nicht an der Einlegung von Rechtsmitteln gehindert gewesen. |
B. |
Die Verfassungsbeschwerde ist nur teilweise zulässig.
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I. |
Soweit die Beschwerdeführerin sich auf eine Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs beruft, ist ihr Rechtsbehelf unzulässig. Diese Rüge zielt zum einen darauf, sie sei in der Beschwerdeinstanz wegen der vom Gericht angenommenen Verspätung mit ihrem Sachvortrag nicht gehört worden, zum anderen beruht sie auf dem Vorwurf, das Gericht habe sie mit seiner Auffassung, die Beschwerde sei verspätet, überrascht. Beide Einwände sind einer Prüfung in der Sache nicht zugänglich.
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1. Die Rüge eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist nur dann hinreichend substantiiert, wenn sich der Beschwerdebegründung entnehmen läßt, was bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs geltend gemacht worden wäre; nur dann läßt sich feststellen, ob die Entscheidung auf dem vermeintlichen Grundrechtsverstoß beruht (vgl. BVerfGE 28,17 [20]; st. Rspr.). Dazu hat die Beschwerdeführerin innerhalb der Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG nichts vorgebracht. Die innerhalb dieser Zeit eingegangene Beschwerdeschrift enthält keine Angaben über den beim Landgericht beabsichtigten Sachvortrag. Auch dem Tatbestand der beigefügten Entscheidung läßt sich dazu nichts entnehmen. Dieser Teil der Verfassungsbeschwerde scheitert daher schon an den formalen Anforderungen, welche § 23 Abs. 1 und § 92 BVerfGG an die Begründung eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG stellen.
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2. Der Einwand, das Landgericht habe eine verfassungswidrige Überraschungsentscheidung getroffen, ist verspätet und damit ebenfalls unzulässig. Auf diesen Sachverhalt hat sich die Beschwerdeführerin erst nach Ablauf der Verfassungsbeschwerdefrist berufen. Zwar dient dieses Vorbringen zur weiteren Begründung des bereits mit der Beschwerdeschrift geltend gemachten Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG; es handelt sich jedoch um keine bloße Ergänzung des bis dahin Vorgetragenen, vielmehr wird ein neuer Lebenssachverhalt zur Entscheidung gestellt. Das ist nach Ablauf der Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG nicht zulässig (BVerfGE 18, 85 [89]; st. Rspr.). |
II. |
Soweit die Beschwerdeführerin eine Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG als eine Ausprägung rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien rügt, ist die Verfassungsbeschwerde zulässig.
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1. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG steht einer Sachprüfung nicht entgegen. Der in dieser Vorschrift zum Ausdruck kommende Gedanke der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gebietet, die Beseitigung des vermeintlich verfassungswidrigen Hoheitsakts zunächst mit den anderen, vom Gesetz zur Verfügung gestellten Rechtsbehelfen zu versuchen (BVerfGE 22,287 [290]; st. Rspr.). Zu diesen anderweitigen Möglichkeiten des Rechtsschutzes, die vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde erschöpft sein müssen, gehört auch ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (BVerfGE 42, 252 [256 f.]), der hier nach § 115 VerglO in Verbindung mit § 233 ZPO grundsätzlich statthaft gewesen wäre. Diese Pflicht zur Rechtswegerschöpfung besteht aber nur im Rahmen des Zumutbaren.
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Einen Wiedereinsetzungsantrag hätte die Beschwerdeführerin nur mit der Begründung stellen können, ohne Verschulden an der Einhaltung der einwöchigen Beschwerdefrist des § 121 Abs. 2 Satz 2 VerglO gehindert worden zu sein. Dazu hätte sie jedoch nichts geltend machen können, was nicht schon Gegenstand der angegriffenen Entscheidung war: die nach ihrer Auffassung unzureichende Bekanntmachung des Vergütungsbeschlusses und – daneben oder im Zusammenhang damit – die Kürze der Rechtsmittelfrist. Die Ordnungsmäßigkeit der Bekanntmachung hat das Landgericht ausdrücklich bestätigt. Zwar hat es die Wirksamkeit der gesetzlichen Frist nur stillschweigend vorausgesetzt. Das Prinzip der Subsidiarität würde indessen überspannt, verlangte man von der Beschwerdeführerin, die Verfassungswidrigkeit dieser Frist vorab ausdrücklich mit einem Wiedereinsetzungsantrag zu rügen – sei es generell, sei es für den Fall der Zustellung der Entscheidung durch öffentliche Bekanntmachung. Ein solcher Antrag wäre nicht nur aussichtslos, er wäre auch ungeeignet gewesen, eine inhaltliche Auseinandersetzung des Landgerichts mit diesem Argument herbeizuführen; denn das Wiedereinsetzungsverfahren dient nicht der Revision einer gerichtlichen Rechtsauffassung bei gleichbleibender Entscheidungsgrundlage. Diese Situation ist der einer Anhörungsrüge, die bei entsprechenden einfachrechtlichen Möglichkeiten vor den Fachgerichten zu erheben ist (vgl. BVerfGE 72,119 [121]; m.w.N.), nicht vergleichbar. Dort geht es nicht – wie hier – um die nachträgliche verfassungsrechtliche Beurteilung bereits angewandter Gesetze, sondern darum, dem Gericht durch die in den Prozeßordnungen vorgesehenen Rechtsbehelfe – also auch durch das Wiedereinsetzungsverfahren – Gelegenheit zu geben, sich mit sachlichem Vorbringen der Beteiligten auseinanderzusetzen, das es bisher nicht zur Kenntnis genommen oder in Erwägung gezogen hat. |
2. Das Gebot der Rechtswegerschöpfung kann es allerdings erfordern, bereits mit Einlegung des nach einfachem Recht verspäteten Rechtsmittels vorhandene verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese einfachrechtlichen Bestimmungen geltend zu machen. Eine solche prozessuale Last setzt aber zumindest voraus, daß sich der Rechtsmittelführer der Tatsache dieser Säumnis bewußt ist. Hält er seinen Rechtsbehelf für rechtzeitig und wird er erst durch die gerichtliche Entscheidung eines Besseren belehrt, kann von ihm nicht verlangt werden, schon vorsorglich mit der Rechtsmitteleinlegung die Verfassungswidrigkeit der maßgeblichen Vorschriften zu rügen. Etwas anderes mag gelten, wenn seine Vorstellung von der Rechtzeitigkeit seines Rechtsmittels auf Erwägungen beruht, denen das Gericht sich aller Voraussicht nach nicht anschließen wird. Dann kann es je nach den Umständen des Einzelfalls geboten sein, sich hilfsweise auf die Unvereinbarkeit der die Verspätung begründenden Vorschriften mit verfassungsrechtlichen Normen zu berufen. So lag es hier jedoch nicht. Der Beschwerdeführerin standen durchaus tragfähige, durch gutachtliche Äußerungen untermauerte Argumente für ihre Ansicht zur Seite, die öffentliche Bekanntmachung habe die Zustellungsfiktion des § 119 Abs. 4 VerglO nicht ausgelöst. |
C. |
Die im dargelegten Umfang zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.
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Die Auslegung der einschlägigen Vorschriften der Vergleichsordnung durch das Landgericht verstößt gegen die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG.
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I. |
Diese Verfahrensgewährleistung beschränkt sich nicht auf die theoretische Möglichkeit, die Gerichte gegen Akte der öffentlichen Gewalt anzurufen, sie gibt dem Bürger darüber hinaus einen substantiellen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle (BVerfGE 40, 272 [275]; st. Rspr.). Art. 19 Abs. 4 GG verbietet zwar keineswegs die Errichtung jeder Schranke vor dem Zugang zum Gericht (BVerfGE 9, 194 [199 f.]; 10, 264 [268]; 40, 237 [256 f.]). Die dem Gesetzgeber obliegende normative Ausgestaltung des Rechtswegs muß aber das Ziel dieser Gewährleistung – den wirkungsvollen Rechtsschutz – verfolgen; sie muß im Hinblick darauf geeignet und angemessen sowie für den Rechtsuchenden zumutbar sein (BVerfGE 60, 253 [268 f.]). Das muß auch der Richter bei der Auslegung dieser Normen beachten; er darf den Beteiligten den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (zuletzt BVerfGE 74, 228 [234]).
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Danach stehen der Zustellungsfiktion der öffentlichen Bekanntmachung nach § 119 Abs. 4 VerglO und der einwöchigen Frist des § 121 Abs. 2 Satz 2 VerglO jeweils für sich betrachtet keine verfassungsrechtlichen Einwände entgegen (II.). Bedenken wirft indessen die gleichzeitige Anwendung beider Normen auf; verfassungswidrig ist jedenfalls ihre Auslegung und Anwendung in der angegriffenen Entscheidung (III.). |
II. |
1. Daß die öffentliche Bekanntmachung einer Entscheidung die Wirkung einer Zustellung äußert, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden, solange der gerichtliche Rechtsschutz dadurch nicht unzumutbar eingeschränkt wird (BVerfGE 61, 82 [109 f.]). In Massenverfahren, in denen der Kreis der Betroffenen groß ist und sich nicht immer von vornherein überschauen läßt, ist diese Art der Zustellung sachgerecht und daher auch vom Gesetzgeber vielfach vorgesehen. Insolvenzverfahren weisen regelmäßig eine hohe Zahl von Beteiligten auf, deren Person und Wohnort nicht immer bekannt sind (vgl. Jäger, KO, 8. Aufl., Rdnr. 1 zu § 76). Darin findet die Zustellungsfiktion des § 119 Abs. 4 VerglO ihre verfassungsrechtliche Rechtfertigung. Das gilt selbst dann, wenn – wie hier – ein überschaubarer Kreis von Personen betroffen ist. Der Gesetzgeber darf bei solchen Regelungen typisieren. Da Normen notwendigerweise genereller Natur sind, ist er gezwungen,, aber auch berechtigt, von einem Gesamtbild auszugehen, das sich aus vorliegenden Erfahrungen ergibt (BVerfGE 11, 245 [254]). Es genügt, daß die Vorschrift für möglichst viele Tatbestände eine angemessene Regelung schafft (BVerfGE 13, 230 [236]).
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2. Verfassungsrechtliche Einwände lassen sich ebensowenig gegen die in § 121 Abs. 2 Satz 2 VerglO geregelte Rechtsmittelfrist erheben. Solche Fristen dürfen nicht unangemessen kurz sein, damit das Recht, den Rechtsweg zu beschreiten, nicht ausgehöhlt wird (BVerfGE 8, 240 [247]). Unter diesem Gesichtspunkt hat das Bundesverfassungsgericht bereits mehrfach einwöchiger Rechtsmittelfristen gebilligt (BVerfGE 40, 237 [257 f.]; 42, 128 [131]; sowie – im Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 GG – BVerfGE 36,298 [303]). Berücksichtigt man den im Vergleichsverfahren geltenden Beschleunigungsgrundsatz (Bley/Mohrbutter, VerglO, 4. Aufl., Rdnr. 1 Abschn. c zu § 121), der bezweckt, das Verfahren im Interesse aller Beteiligten sowie eines gesunden Kreditverkehrs zusammenzudrängen (vgl. dazu die Begründung der Reichstagsvorlage zur Vergleichsordnung des Jahres 1927, RTDrucks. III/2340, S. 14), besteht kein Anlaß, die hier in Rede stehende Einwochenfrist aus verfassungsrechtlicher Sicht anders zu beurteilen. |
III. |
1. Im Hinblick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes gibt die Frist des § 121 Abs. 2 Satz 2 VerglO jedoch zu Bedenken Anlaß, wenn sie durch eine öffentliche Bekanntmachung ausgelöst wird, ohne daß gleichzeitig eine wirksame Einzelzustellung erfolgt. Zwar gilt die Bekanntmachung nach § 119 Abs. 2 Satz 2 VerglO erst mit Ablauf des zweiten Tages nach der Ausgabe des Veröffentlichungsblattes als bewirkt; tatsächlich wird sie jedoch nicht immer schon zu diesem, vom Gesetz fingierten Zeitpunkt gelesen. Insofern liegt für den Betroffenen ein Unterschied darin, ob ihm die Entscheidung direkt zugesandt wird oder ob er sich die Kenntnis von ihr selbst verschaffen muß, sei es auch aus allgemein zugänglichen und gerade diesem Zweck dienenden Quellen. Stellt man diese nicht unerhebliche Erschwernis in Rechnung, muß bezweifelt werden, ob die einwöchige Rechtsmittelfrist noch den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG genügt, wenn die Zustellung ausschließlich durch öffentliche Bekanntmachung geschieht. Unter diesem Gesichtspunkt ist die von der Kommission für Insolvenzrecht vorgeschlagene Verlängerung der Frist auf zwei Wochen nicht nur aus Gründen der Rechtsvereinheitlichung zweckmäßig (vgl. Erster Bericht der Kommission für Insolvenzrecht, S. 98, Begründung des Leitsatzes Nr. 1.1.6), sondern möglicherweise auch verfassungsrechtlich geboten, falls die Regelung des § 119 Abs. 4 VerglO in das neue Recht übernommen wird (dies sieht der Zweite Bericht der Kommission für Insolvenzrecht, S. 190, Leitsatz Nr. 9.6, vor). Dieser Frage braucht hier jedoch nicht weiter nachgegangen zu werden, weil zumindest die Rechtsanwendung durch das Landgericht die Rechtsweggarantie verletzt. |
2. Die der angegriffenen Entscheidung zugrunde liegende Auffassung, die im vorliegenden Fall geübte Veröffentlichungspraxis habe die Zustellung des Vergütungsbeschlusses bewirkt, führt zu einer unangemessenen Verkürzung des Rechtsschutzes. Das Gesetz schreibt vor, daß die Bekanntmachung durch Einrückung in das zur Veröffentlichung amtlicher Bekanntmachungen des Gerichts bestimmte Blatt zu erfolgen hat. Zwar darf dies nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm auszugsweise geschehen; geht es jedoch um die Bekanntgabe einer Entscheidung, muß zumindest der Entscheidungsausspruch mitgeteilt werden, um die Wirkungen einer Zustellung herbeizuführen. Der bloße Hinweis, daß eine Entscheidung ergangen sei, reicht dazu nicht aus. Der Adressat vermag allein aufgrund einer solchen Veröffentlichung nicht zu beurteilen, ob und in welchem Ausmaß er betroffen ist. Die Bekanntmachung erfüllt nur noch eine Anstoßfunktion. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf einen Beschluß, dessen Inhalt nunmehr im Wege der Akteneinsicht nach § 120 VerglO ermittelt werden muß. Erst diese Einsichtnahme schafft die Kenntnis, welche die Zustellung bewirken sollte. Die Wahrung der einwöchigen Beschwerdefrist wird also doppelt erschwert. Notwendig ist nicht nur die Kenntnisnahme von der öffentlichen Bekanntmachung, weiter erforderlich ist der Weg zum Amtsgericht, um Art und Maß einer möglichen Beschwer festzustellen. Das kann dazu führen, daß nicht einmal genügend Zeit verbleibt, die Erwägungen anzustellen, die von einem verantwortungsbewußten Bürger vor der Beschreitung des Rechtswegs erwartet werden. Damit werden unzumutbare, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigende Schranken vor der Beschwerdeinstanz errichtet.
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(gez.) Herzog Niemeyer Heußner Henschel Seidl Grimm Söllner Dieterich |