BVerfGE 78, 391 - Totalverweigerung I


BVerfGE 78, 391 (391):

Zu den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen des Widerrufs der Aussetzung einer wegen Dienstflucht (§ 53 des Gesetzes über den Zivildienst der Kriegsdienstverweigerer) gegen einen Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas verhängten Strafe.
 
Beschluß
des Zweiten Senats vom 30. Juni 1988
-- 2 BvR 701/86 --
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn S... - Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Dr. Klaus-Peter Heym, D. Rüth, H. Eckermann, Herzogstraße 33, Neu-Isenberg - gegen den Beschluß des Landgerichts Kassel vom 30. Mai 1986 - 3 Qs 153/86 -.
Entscheidungsformel:
Der Beschluß des Landgerichts Kassel vom 30. Mai 1986 -- 3 Qs 153/86 -- verletzt Artikel 4 Absatz 3 in Verbindung mit Artikel 12 a Absatz 2 des Grundgesetzes und dem Rechtsstaatsprinzip. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.
Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
 
Gründe:
 
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, den Widerruf einer Strafaussetzung, die einem wegen Dienstflucht nach § 53 des Zivildienstgesetzes verurteilten Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas gewährt worden war, allein darauf zu gründen, daß der Verurteilte in der Bewährungszeit einer zweiten Einberufung zum Zivildienst nicht gefolgt ist.
I.
§ 15 a Abs. 1 des Gesetzes über den Zivildienst der Kriegsdienstverweigerer i.d.F. der Bekanntmachung vom 31. Juli 1986 (BGBl. I S. 1205; ZDG) bestimmt, daß anerkannte Kriegsdienstverweigerer, die aus Gewissensgründen gehindert sind, Ersatzdienst zu leisten, zum Zivildienst vorläufig nicht herangezogen werden, wenn sie

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erklären, daß sie ein Arbeitsverhältnis mit üblicher Arbeitszeit in einem Krankenhaus oder einer anderen Einrichtung zur Behandlung, Pflege und Betreuung von Personen begründen wollen oder wenn sie in einem solchen Arbeitsverhältnis tätig sind. Diese und weitere Regelungen des § 15 a ZDG tragen der Tatsache Rechnung, daß insbesondere Zeugen Jehovas sich regelmäßig aus Gewissensgründen außerstande sehen, Zivildienst zu leisten.
In der Praxis wird ein als Kriegsdienstverweigerer anerkannter Zeuge Jehovas vor seiner Einberufung vom Bundesamt für den Zivildienst unter Fristsetzung auf die Möglichkeit hingewiesen, statt des Zivildienstes ein freies Arbeitsverhältnis nach § 15 a ZDG abzuleisten. Hat der Kriegsdienstverweigerer bis zur Vollendung des 24. Lebensjahres kein solches Arbeitsverhältnis begründet, beruft ihn das Bundesamt zum Zivildienst ein. Folgt er der Einberufung nicht, hat er mit einer Anklage wegen Dienstflucht (§ 53 ZDG) zu rechnen. Wird er zu einer Freiheitsstrafe unter gleichzeitiger Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt, so beruft das Bundesamt -- jedenfalls wurde dies zur Zeit des Ausgangsfalles so gehandhabt -- den verurteilten Zeugen Jehovas erneut zur Ableistung des Zivildienstes ein. Weigert er sich, auch dieser Einberufung zu folgen, regt das Bundesamt bei der zuständigen Staatsanwaltschaft an, den Widerruf der Strafaussetzung zu beantragen.
II.
1. Der 1957 geborene Beschwerdeführer, ein anerkannter Kriegsdienstverweigerer, gehört -- wie schon seine Eltern -- der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas an. Er wurde zum Zivildienst einberufen, weil er dem Bundesamt kein freies Arbeitsverhältnis nach § 15 a Abs. 1 ZDG hatte nachweisen können. Der Einberufung leistete er keine Folge. Das Schöffengericht verurteilte ihn deshalb am 3. Mai 1983 wegen Dienstflucht (§ 53 ZDG) zu sechs Monaten Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Gleichzeitig erhielt er nach § 56 b StGB die Auflage, 60 Stunden gemeinnützige Arbeit zu leisten. In der Hauptverhandlung hatte ein als Zeuge vernommener Beamter des Bundesamtes

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für den Zivildienst bekundet, daß gerichtlich bestrafte Zeugen Jehovas nicht noch einmal zum Zivildienst einberufen würden. Der Beschwerdeführer hatte erklärt, daß er wegen seiner Glaubensüberzeugung grundsätzlich keinen Zivildienst leisten könne, und Bewerbungsschreiben bei nach § 15 a ZDG in Betracht kommenden Stellen überreicht.
In den Entscheidungsgründen führte das Schöffengericht aus, bei der Strafzumessung spiele der Gedanke der Verteidigung der Rechtsordnung eine entscheidende Rolle. Deshalb sei nach § 56 ZDG auf eine Freiheitsstrafe zu erkennen gewesen. Eine nähere Begründung für die Strafaussetzung gab das Gericht nicht.
Die gegen das Urteil eingelegte Berufung nahm der Beschwerdeführer zurück; der Auflage, 60 Stunden gemeinnützige Arbeit zu verrichten, kam er nach.
2. Am 12. Januar 1984 forderte das Bundesamt den Beschwerdeführer erneut auf, den Zivildienst anzutreten. Er kam der Aufforderung jedoch wiederum nicht nach. Die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kassel beantragte daraufhin beim Schöffengericht, die Strafaussetzung zur Bewährung zu widerrufen. Der Vorsitzende des Schöffengerichts wies den Antrag zurück. Die andauernde Weigerung des Beschwerdeführers, den Zivildienst abzuleisten, beruhe nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf einer einheitlichen Gewissensentscheidung. Indem er nach rechtskräftiger Verurteilung der neuerlichen Aufforderung zum Dienstantritt nicht nachkomme, begehe er dieselbe Tat im Sinne des Art. 103 Abs. 3 GG (BVerfGE 23, 191). Eine neue Straftat, die den Widerruf der Strafaussetzung rechtfertigen würde, liege deshalb nicht vor.
Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wurde der Beschwerdeführer vom Landgericht zunächst schriftlich angehört. Er wiederholte seine grundsätzlich ablehnende Haltung zur Leistung des staatlichen Zivildienstes und hob hervor, daß er trotz intensiver Bemühungen keine Arbeitsstelle in einer Kranken-, Heil- oder Pflegeanstalt gefunden habe, da durch den Stellenabbau im Sozialwesen die Arbeitsmarktsituation angespannt gewesen sei. Das Landgericht Kassel hob den Beschluß des Schöffengerichts auf und wi

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derrief mit Beschluß vom 30. Mai 1986 die Strafaussetzung zur Bewährung. Die erneute Verweigerung des zivilen Ersatzdienstes rechtfertige und erfordere den Widerruf der Strafaussetzung. Der Beschwerdeführer habe in der Bewährungszeit wiederum eine Straftat nach § 53 ZDG begangen und dadurch gezeigt, daß sich die der Strafaussetzung zugrundeliegende Erwartung nicht erfüllt habe (§ 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB).
III.
1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen den Beschluß des Landgerichts. Er rügt die Verletzung der Art. 1 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 und 3 sowie des Art. 103 Abs. 3 GG und bringt vor:
Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. März 1968 (BVerfGE 23, 191) sei die wiederholte Nichtbefolgung einer Einberufung zum zivilen Ersatzdienst aus Gewissensgründen nicht strafbar. Die Nichtbefolgung der neuerlichen Dienstantrittsaufforderung erfülle schon materiellrechtlich nicht den Straftatbestand des § 53 ZDG. Das auf einer ein für allemal getroffenen prinzipiellen Gewissensentscheidung beruhende Unterlassungsdelikt des Fernbleibens vom Dienst sei nicht als Dauerstraftat, sondern als Zustandsdelikt zu werten, so daß die weitere Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustandes keine erneute Tathandlung darstelle; allein diese Bewertung werde der Bedeutung der Gewissensentscheidung gerecht. Der Ausschluß einer erneuten Bestrafung müsse sich auf die Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 f StGB entsprechend auswirken.
2. Der Hessische Ministerpräsident hält die Verfassungsbeschwerde für zulässig, aber unbegründet.
Art. 103 Abs. 3 GG stehe dem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung nicht entgegen. Es liege keine mehrfache Bestrafung des Beschwerdeführers vor, vielmehr führe der Widerruf der Strafaussetzung nur dazu, daß die zur Bewährung ausgesetzte Strafe nunmehr vollstreckt werde.
Der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung verletze den

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Beschwerdeführer auch nicht in seinem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht gehe in seinen Entscheidungen zum Verbot der Mehrfachbestrafung davon aus, daß eine Bestrafung der einen Tat zulässig sei. Dann könne aber in der Vollstreckung dieser Strafe kein eigenständiger Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 GG liegen.
3. Der Bundesminister der Justiz hat mitgeteilt, daß die Bundesregierung von einer Stellungnahme absehe.
 
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffene Entscheidung des Landgerichts verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers (Art. 4 Abs. 3 i.V.m. Art. 12 a Abs. 2 des Grundgesetzes und dem Rechtsstaatsprinzip).
I.
1. Das Grundgesetz hat in Art. 4 Abs. 1 GG die Freiheit des Gewissens und seiner Entscheidungen, in denen sich die autonome sittliche Persönlichkeit unmittelbar äußert, als unverletzlich anerkannt (vgl. BVerfGE 12, 45 [53 f.]). Die von der Verfassung gewährleistete Gewissensfreiheit umfaßt nicht nur die Freiheit, ein Gewissen zu haben, sondern grundsätzlich auch die Freiheit, von der öffentlichen Gewalt nicht verpflichtet zu werden, gegen Gebote und Verbote des Gewissens zu handeln (vgl. Böckenförde, VVDStRL Heft 28 [1970], S. 33 [53]).
Für den Fall der Wehrpflicht legen die Art. 4 Abs. 3 und Art. 12 a Abs. 2 GG Reichweite und Wirkung der freien Gewissensentscheidung dahin fest, daß derjenige, der aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, dazu herangezogen werden kann, seinen Dienst auf andere Weise zu verrichten. Das Bundesverfassungsgericht hat daraus abgeleitet, an die Verletzung einer solchen Dienstpflicht könnten grundsätzlich auch dann strafrechtliche Folgen geknüpft werden, wenn das Verhalten des Dienstpflichtigen auf einer Gewissensentscheidung beruht (vgl. BVerfGE 19, 135 [138]; 23, 127 [132 f.]).


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2. Die ersatzdienstpflichtigen Zeugen Jehovas verweigern in ihrer weit überwiegenden Mehrzahl aus Gewissensgründen den Zivildienst. Sie nehmen dafür in Kauf, wegen Dienstflucht bestraft zu werden. Dieser Haltung liegt im Regelfall eine ein für allemal getroffene Gewissensentscheidung zugrunde, die als unabdingbares religiöses Gebot aufgefaßt wird. Der Senat hat dies bereits im Beschluß vom 7. März 1968 (vgl. BVerfGE 23, 191) festgestellt. Im Blick auf diese Besonderheit, für die die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas in der Vergangenheit vielfach Zeugnis abgelegt hat, läßt sich die Aussetzung einer gegen einen Zeugen Jehovas erkannten Freiheitsstrafe wegen Dienstflucht in der Regel nicht an die Erwartung knüpfen, der Verurteilte werde einer erneuten Einberufung Folge leisten. Sofern keine besonderen Umstände vorliegen, würde eine solche Erwartung jeglicher Grundlagen entbehren.
3. Wird eine gegen einen Zeugen Jehovas erkannte Freiheitsstrafe wegen Dienstflucht zur Bewährung ausgesetzt, so darf eine erneute Weigerung nicht zum Anlaß genommen werden, die gewährte Strafaussetzung zu widerrufen, wenn das Gericht davon ausgegangen ist, der Verurteilte werde aufgrund einer unumstößlichen Gewissensentscheidung auch in Zukunft der Einberufung zum Zivildienst keine Folge leisten. In einem solchen Falle verstieße der Widerruf nicht nur gegen die Vorschrift des § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB, wonach die Strafaussetzung nur dann widerrufen werden kann, wenn sich die ihr zugrunde liegende Erwartung nicht erfüllt hat. Er verletzte darüber hinaus auch das auf Art. 4 Abs. 3, Art. 12 a Abs. 2 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip beruhende verfassungskräftige Gebot, die Grundlagen des in Rechtskraft erwachsenen Urteils und das darauf gestützte Vertrauen des verurteilten Zeugen Jehovas zu respektieren, ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung werde nicht deshalb erfolgen, weil der Verurteilte den Geboten seines Gewissens folgend, den Ersatzdienst erneut verweigert.


BVerfGE 78, 391 (397):

II.
Dies verkennt der angegriffene Beschluß des Landgerichts.
Die Beschwerdekammer hat die erneute Weigerung des Beschwerdeführers, den Zivildienst anzutreten, ohne weitere Prüfung zum Anlaß genommen, die Strafaussetzung zur Bewährung zu widerrufen. Sie hat hierbei ersichtlich die verfassungsrechtlich bedeutsame Besonderheit der von dem Beschwerdeführer als Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas grundsätzlich ein für allemal getroffenen und den Kern seiner Persönlichkeit prägenden Gewissensentscheidung außer acht gelassen. Anhaltspunkte dafür, beim Beschwerdeführer sei das Vorliegen einer solchen grundlegenden Haltung zweifelhaft gewesen, sind weder den Gesamtumständen der vorausgegangenen Verurteilung noch dem im Widerrufsverfahren ermittelten Sachverhalt zu entnehmen. Der Beschwerdeführer hatte in der Hauptverhandlung ausdrücklich erklärt, er könne um seiner Glaubensüberzeugung willen keinen Zivildienst leisten. Wie die Vernehmung eines Bediensteten des Bundesamtes für den Zivildienst in der Hauptverhandlung zeigt, ist auch das Schöffengericht davon ausgegangen, der Beschwerdeführer werde einer zukünftigen Einberufung keine Folge leisten.
Im Blick darauf entbehrt die Feststellung der Strafkammer, der Beschwerdeführer habe die der Strafaussetzung zugrunde liegende Erwartung enttäuscht, jeder Grundlage. Das Landgericht hätte bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen eines Widerrufs nach § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB vorlagen, die Grundlagen der Entscheidung über die Strafaussetzung näher untersuchen und dabei berücksichtigen müssen, daß das Verhalten des Beschwerdeführers auf eine prinzipielle, durch den Glauben vorgegebene Gewissensentscheidung zurückzuführen ist. Die Begründung des Widerrufsbeschlusses, die sich zu diesen Problemen auch nicht andeutungsweise verhält, läßt erkennen, daß das Landgericht die durch Art. 4 Abs. 3, Art. 12 a Abs. 2 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip vorgegebenen verfassungsrechtlichen Forderungen nicht erkannt oder nicht gewürdigt hat.


BVerfGE 78, 391 (398):

III.
Die Entscheidung über die Auslagen folgt aus § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
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