BVerfGE 88, 187 - Herausnahme aus der Pflegefamilie |
Beschluß |
des Ersten Senats vom 21. April 1993 |
– 1 BvL 1/90 – |
in dem Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung des § 1696 Abs. 2 BGB, soweit er bestimmt, daß Maßnahmen nach § 1671 Abs. 5 BGB aufzuheben sind, wenn eine Gefahr für das Wohl des Kindes nicht mehr besteht, – Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Amtsgerichts Mainz vom 12. Dezember 1989 mit Ergänzungsbeschlüssen vom 31. Januar und 14. September 1990 (30 F 373/88) –. |
Entscheidungsformel: |
Die Vorlage ist unzulässig. |
Gründe: |
A. |
Die Vorlage betrifft die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Anordnung einer Vormundschaft nach § 1671 Abs. 5 BGB gemäß § 1696 Abs. 2 BGB aufzuheben ist, wenn das Kind seit längerer Zeit in einer Pflegefamilie lebt.
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I. |
1. Durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge vom 18. Juli 1979 (BGBl. I S. 1061) sind die Voraussetzungen, unter denen das Recht der elterlichen Sorge eingeschränkt oder entzogen werden kann, neu geregelt worden. Nach § 1666 Abs. 1 Satz 1 BGB hat das Vormundschaftsgericht die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes durch mißbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, Vernachlässigung des Kindes, unverschuldetes Versagen der Eltern oder durch das Verhalten eines Dritten gefährdet wird und die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, sind nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise begegnet werden kann; die gesamte Personensorge darf nur entzogen werden, wenn andere Maßnahmen erfolglos geblieben sind oder wenn anzunehmen ist, daß sie zur Abwendung der Gefahr nicht ausreichen (§ 1666 a BGB). Ergibt sich im Zusammenhang mit der Trennung oder der Scheidung der Eltern eine Gefahr für das Wohl des Kindes, so kann das Familiengericht die Personensorge oder die Vermögenssorge einem Vormund oder Pfleger übertragen, wenn dies zur Abwendung der Gefahr erforderlich ist (§ 1671 Abs. 5, § 1672 BGB).
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Die Änderung und Aufhebung solcher Maßnahmen ist in § 1696 BGB geregelt. Die Vorschrift lautet:
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(1) Das Vormundschaftsgericht und das Familiengericht können während der Dauer der elterlichen Sorge ihre Anordnungen jederzeit ändern, wenn sie dies im Interesse des Kindes für angezeigt halten. (2) Maßnahmen nach den §§ 1666 bis 1667 und nach § 1671 Abs. 5 sind aufzuheben, wenn eine Gefahr für das Wohl des Kindes nicht mehr besteht. (3) Länger dauernde Maßnahmen nach den §§ 1666 bis 1667 und nach § 1671 Abs. 5 hat das Gericht in angemessenen Zeitabständen zu überprüfen. |
Zu Absatz 2, der durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge eingefügt wurde, heißt es im Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages: Bei den dort aufge führten Maßnahmen handele es sich um schwerwiegende Eingriffe in das durch Art. 6 Abs. 2 und 3 GG geschützte Elternrecht. Solche Maßnahmen seien nicht nur dem Umfang, sondern auch der Dauer nach nur zulässig, soweit das Wohl des Kindes sie erfordere. Deshalb sehe der Entwurf vor, daß sie aufzuheben seien, wenn eine Gefahr für das Kindeswohl nicht mehr bestehe (BTDrucks. 8/2788, S. 68). |
2. Das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge führte auch eine besondere Regelung zum Schutz von Pflegekindern in § 1632 Abs. 4 BGB ein:
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Lebt das Kind seit längerer Zeit in Familienpflege und wollen die Eltern das Kind von der Pflegeperson wegnehmen, so kann das Vormundschaftsgericht von Amts wegen oder auf Antrag der Pflegeperson anordnen, daß das Kind bei der Pflegeperson verbleibt, wenn und solange für eine solche Anordnung die Voraussetzungen des § 1666 Abs. 1 Satz 1 insbesondere im Hinblick auf Anlaß oder Dauer der Familienpflege gegeben sind.
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Mit dieser Vorschrift soll verhindert werden, daß das persönliche, insbesondere das seelische Wohl eines Kindes, das in der Pflegefamilie seine Bezugswelt gefunden hat, durch eine Herausnahme zur Unzeit gefährdet wird. Mit der in der zweiten Lesung des Gesetzentwurfs beschlossenen Fassung soll zum Ausdruck gebracht werden, daß bereits im Rückgabeverlangen eine unzulässige Ausübung des Sorgerechts liegen kann (vgl. Verh. des Deutschen Bundestages, 8. WP, 151. Sitzung, StenBer. S. 12035; näher zur Entstehungsgeschichte BVerfGE 68,176 [185 ff.]).
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II. |
1. Der Antragsteller des Ausgangsverfahrens ist der Vater eines im Januar 1984 geborenen Mädchens. Dieses wurde im Oktober desselben Jahres mit dem Einverständnis der Eltern in eine Pflegefamilie gegeben. Während des Getrenntlebens der Eltern ordnete das Familiengericht im September 1985 eine Vormundschaft für das Kind an. Im Scheidungsurteil vom 1. September 1987 übertrug es die Personensorge und die Vermögenssorge einem Vormund: Dem Antrag des Vaters, ihm die elterliche Sorge zu übertragen, könne nach Abwägung aller Umstände nicht stattgegeben werden. Die durch Wiederaufnahme der Kontakte zum Kind angebahnte Eltern-Kind-Beziehung reiche nicht aus, ihm bereits jetzt die volle Verantwortung für das leibliche und seelische Wohl des Kindes zu übertragen. Die seit dem achten Lebensmonat gewachsenen Bindungen des Kindes zu den Pflegeeltern dürften nicht abrupt abgebrochen werden. |
Im Ausgangsverfahren beantragte der Vater unter Hinweis auf seine zweite Eheschließung im März 1988, ihm die elterliche Sorge für das Kind zu übertragen. Die vom Familiengericht beauftragte Sachverständige schlug vor, bis auf weiteres die Vormundschaft aufrechtzuerhalten und das Kind bei den Pflegeeltern zu belassen. Als Zeitpunkt für die Aufhebung der Vormundschaft könne eventuell das zehnte Lebensjahr des Kindes in Betracht gezogen werden.
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2. Das Familiengericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 1696 Abs. 2 BGB mit dem Grundgesetz vereinbar ist, soweit er bestimmt, daß Maßnahmen nach § 1671 Abs. 5 BGB aufzuheben sind, wenn eine Gefahr für das Wohl des Kindes nicht mehr besteht.
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a) Bei Gültigkeit der Norm sei die Vormundschaft aufzuheben. Es könne nicht festgestellt werden, daß eine Gefahr für das Wohl des Kindes im Sinne des § 1696 Abs. 2 BGB bestehe, wenn das Kind in den Haushalt des Vaters komme. Die dort gemeinte Gefahr sei identisch mit der Gefahr, die die Maßnahme nach § 1666 oder § 1671 Abs. 5 BGB ausgelöst habe. Diese Gefahr bestehe nicht mehr. Der Vater lebe jetzt in geordneten Familienverhältnissen und sei in der Lage, seine Tochter zu versorgen und zu erziehen. Denkbar wäre allenfalls eine Beeinträchtigung des seelischen Wohls des Kindes, weil es bei dem Wechsel aus der Pflegefamilie in die Familie des Vaters möglicherweise Trennungsschmerz empfinden werde. Dieser könne und müsse aber hingenommen werden.
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Bei Ungültigkeit des § 1696 Abs. 2 BGB für Fälle dieser Art würde das Gericht dem Vorschlag der Sachverständigen folgen und die bestehende Vormundschaft aufrechterhalten. Deren Aufhebung würde dem Kontinuitätsgrundsatz zuwiderlaufen. In diesem Grundsatz konkretisiere sich das Recht des Kindes auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Jeder Mensch müsse in der Kindheit lernen, Verhaltenskonstanten aufzubauen, um im späteren Leben nicht zu scheitern. Deshalb verträten Psychologen die Auffassung, auch die "soziale Elternschaft", die sich bei einem Dauerpflegeverhältnis wie dem hier vorliegenden entwickeln könne, sei schützenswert und anzuerkennen. Die Herausnahme des Mädchens aus der Pflegefamilie könne zu seiner schweren und nachhaltigen Schädigung führen, weil es seit dem neunten Lebensmonat ständig dort gelebt und feste Beziehungen geknüpft habe. Demgegenüber sei die Verbindung zum Vater lange unterbrochen gewesen; erst seit etwa einem Jahr bestünden regelmäßige Kontakte, die sich im wesentlichen auf Wochenendbesuche beschränkten. Käme das Kind jetzt in den Haushalt des Vaters, verlöre es nahezu alle bisherigen Bezugspersonen, was nicht ohne Auswirkungen auf sein künftiges Leben bleiben würde. |
b) § 1696 Abs. 2 BGB sei verfassungswidrig, weil er es nicht zulasse, die gewachsenen Bindungen des Kindes an die Pflegefamilie zu berücksichtigen und eine Abwägung zwischen den sich aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG ergebenden Rechten des Kindes und dem durch Art. 6 Abs. 2 GG geschützten Elternrecht vorzunehmen. Die Vorschrift sehe vielmehr nur die Prüfung vor, ob die Eltern wieder die Gewähr dafür böten, daß sie das Kind ordnungsgemäß versorgen und erziehen. Aus dem Wortlaut der Norm und ihrem Zusammenhang mit § 1671 Abs. 5 und den §§ 1666, 1666 a BGB folge, daß eine "Gefahr für das Wohl des Kindes" nur vorliege, wenn die Eltern nicht zur Erziehung geeignet seien. Der klare und eindeutige Wortlaut des § 1696 Abs. 2 BGB biete keinen Ansatz für die Auslegung, daß auch der Kontinuitätsgrundsatz zu beachten sei. Aus dem Standort der Vorschrift und ihrem systematischen Zusammenhang könne für eine solche Auffassung ebenso wenig hergeleitet werden wie aus Sinn und Zweck der Vorschrift und den Motiven des Gesetzgebers. Dieser habe sich bei der Schaffung der Norm nicht mit der Auflösung von Dauerpflegeverhältnis sen befaßt, sondern nur sicherstellen wollen, daß Maßnahmen, die das Elternrecht beeinträchtigen, wieder aufgehoben werden, wenn der Grund für ihre Anordnung nicht mehr besteht. |
c) Eine verfassungskonforme Auslegung der zur Prüfung gestellten Vorschrift dahin, daß Elternrecht und Grundrechte des Kindes gegeneinander abzuwägen seien, scheide aus, weil ihr der klare und eindeutige Wortlaut des § 1696 Abs. 2 BGB entgegenstehe. Die Rechtsprechung zu § 1632 Abs. 4 BGB könne nicht herangezogen werden, weil die hier entscheidungserhebliche Norm im Unterschied zu jener nicht das Tatbestandsmerkmal "insbesondere im Hinblick auf Anlaß oder Dauer der Familienpflege" enthalte.
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Den Belangen des Kindes könne hier auch nicht dadurch Rechnung getragen werden, daß das Familiengericht die nach § 1671 Abs. 5 BGB getroffene Maßnahme aufhebe und das Vormundschaftsgericht eine Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB erlasse, wenn es zu dem Ergebnis gelange, daß das Wohl des Kindes dies gebiete. Das würde von den Verfahrensbeteiligten nicht akzeptiert werden. Kein Elternteil würde es verstehen, wenn er in einem aufwendig geführten Sorgerechtsverfahren obsiege, ihm also bestätigt werde, daß er in der Lage sei, sein Kind zu versorgen und zu erziehen, ihm das Kind aber gleichwohl letztlich vorenthalten werde, weil das Vormundschaftsgericht im Verfahren über die Verbleibensanordnung erstmals die Interessen des Kindes berücksichtigen könne. Ein solches zweigleisiges Verfahren sei auch deshalb nicht praktikabel, weil zwei verschiedene Gerichte mit demselben Lebenssachverhalt befaßt würden und deshalb die Gefahr entgegengesetzter Entscheidungen bestehe.
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III. |
1. Der Bundesminister der Justiz, der sich namens der Bundesregierung geäußert hat, ist der Auffassung, daß das geltende Recht in einem Fall, wie er dem Ausgangsverfahren zugrunde liegt, Lösungen ermögliche, die sowohl dem Elternrecht als auch den Rechten des Kindes aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG gerecht würden. Bei einer Entscheidung über die Abänderung oder den Fortbestand einer nach § 1671 Abs. 5 BGB getroffenen Sorgerechtsregelung seien nicht nur solche Gefahren für das Kindeswohl zu berücksichtigen, die sich aus fehlender Erziehungseignung der Eltern ergäben. Entscheidend sei vielmehr, ob eine Gefahr für das Wohl des Kindes bestehe, unabhängig davon, ob diese mit der für die ursprüngliche Entscheidung maßgebenden Gefahr identisch sei. In diesem Rahmen könne auch berücksichtigt werden, ob das Kind im Einzelfall zu seinen Pflegeeltern eine so unverbrüchliche, existentielle Bindung entwickelt habe, daß seine Herausnahme aus der Pflegefamilie nur unter besonderen Voraussetzungen zu verantworten sei. Im übrigen lasse die Entscheidung, mit der einem Elternteil die Sorge für das Kind wieder übertragen werde, für sich genommen das Verbleiben des Kindes in der Pflegefamilie unberührt. Einem Herausgabeverlangen des Sorgeberechtigten könne von Amts wegen oder auf Antrag der Pflegeeltern durch eine Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB begegnet werden. |
2. Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat eine Äußerung des Vorsitzenden des für Familiensachen zuständigen Senats übermittelt. Dieser vertritt die Auffassung, wenn in der Vergangenheit nach § 1671 Abs. 5 BGB rechtmäßig in das Elternrecht eingegriffen worden sei, dürfe die dadurch in Gang gesetzte Entwicklung bei der späteren Entscheidung über die Aufhebung der Maßnahme nicht unberücksichtigt bleiben. Insoweit verdiene das Interesse des Kindes an einer kontinuierlichen Weiterentwicklung vorrangige Beachtung. Zu der Frage, ob § 1696 Abs. 2 BGB, gegebenenfalls bei verfassungskonformer Auslegung, eine solche Betrachtung zulasse, werde damit nicht Stellung genommen.
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3. Die Pflegeeltern stimmen der Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts zu. Eine Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB halten sie nicht für ausreichend, um dem Recht des Kindes auf freie Entfaltung der Persönlichkeit Rechnung zu tragen, weil die Verbleibensanordnung zu einem ständigen Druck auf die Pflegeeltern und zu einer erheblichen Verunsicherung des Kindes führe, die seine Bindungslosigkeit zur Folge haben könne.
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B. |
Die Vorlage ist unzulässig.
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I. |
Um den Begründungsanforderungen nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zu genügen, muß das nach Art. 100 Abs. 1 GG vorlegende Gericht darlegen, inwiefern seine Entscheidung von der Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Vorschrift abhängt. Dazu muß der entscheidungserhebliche Sachverhalt aus sich heraus verständlich geschildert und die Rechtslage eingehend erörtert werden. Die Ausführungen müssen mit hinreichender Deutlichkeit ergeben, daß das Gericht bei Gültigkeit der Norm zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Falle ihrer Ungültigkeit und wie es dieses Ergebnis begründen würde (vgl. BVerfGE 83, 111 [116] m.w.N.). Richten sich die Bedenken gegen eine Vorschrift, von deren Auslegung die Entscheidung nicht allein abhängt, müssen die weiteren mit ihr in Zusammenhang stehenden Vorschriften in die rechtlichen Erwägungen einbezogen werden, soweit dies zum Verständnis der zur Prüfung gestellten Vorschrift oder zur Darlegung ihrer Entscheidungserheblichkeit erforderlich ist (vgl. BVerfGE 86,52 [56]).
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Für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage ist grundsätzlich die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts maßgebend. Das gilt jedoch nicht, wenn dessen rechtliche oder tatsächliche Würdigung offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 81, 40 [49]).
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In dem Vorlagebeschluß muß ferner der verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab angegeben und die Überzeugung des Gerichts von der Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Norm näher begründet werden. Dazu kann es erforderlich sein, daß das Gericht zu der Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung Stellung nimmt. Das ist insbesondere dann geboten, wenn offensichtlich mehrere Auslegungsmöglichkeiten in Betracht kommen und mindestens eine von ihnen nicht in gleicher Weise den verfassungsrechtlichen Bedenken des vorlegenden Gerichts ausgesetzt ist (vgl. BVerfGE 85, 329 [333 f.]). Darüber hinaus kann es näherer Ausführungen zu der Frage bedürfen, ob das nach Auffassung des vorlegenden Gerichts verfassungswidrige Ergebnis durch Heranziehung anderer Vorschriften vermieden werden kann (vgl. BVerfGE 86, 71 [77]). |
II. |
Diesen Anforderungen genügt die Vorlage nicht.
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1. Es ist schon fraglich, ob die tatsächlichen Feststellungen des vorlegenden Gerichts ausreichen, um die Entscheidungserheblichkeit des § 1696 Abs. 2 BGB, soweit er nach Auffassung des Gerichts verfassungswidrig ist, deutlich zu machen. Aus dem Zusammenhang des Vorlagebeschlusses ergibt sich, daß das Gericht trotz der umfassenden Formulierung der Vorlagefrage die Norm nur insoweit für verfassungswidrig erachtet und zur Prüfung stellen will, als sie in Fällen, in denen sich das Kind in Familienpflege befindet, nicht zulasse, die gewachsenen Bindungen zur Pflegefamilie und die mit der Herausnahme verbundenen Gefahren für das Kind zu berücksichtigen. Für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage kommt es deshalb darauf an, welche Auswirkungen auf das Kindeswohl nach Auffassung des vorlegenden Gerichts im konkreten Fall bei einer Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie zu erwarten oder zu befürchten sind. Hierzu enthält der Vorlagebeschluß indessen keine konkreten Feststellungen, sondern überwiegend abstrakte Aussagen, die sich zudem teilweise widersprechen. Damit bleibt unklar, aus welchen Gründen das Familiengericht bei Ungültigkeit der zur Prüfung gestellten Vorschrift dem Vorschlag der Sachverständigen folgen würde.
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2. Ob die Vorlage schon wegen dieses Mangels unzulässig ist, kann dahingestellt bleiben, weil sich das Gericht jedenfalls nicht ausreichend mit der Rechtslage auseinandergesetzt hat und seine Ausführungen zur Möglichkeit einer verfassungskonformen Lösung nicht einleuchtend sind.
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a) Die Vorlagefrage ist nur entscheidungserheblich, wenn die vom Gericht angenommene Gefahr für das Kindeswohl nicht auf andere Weise abgewendet werden kann als durch Berücksichtigung im Rahmen der Entscheidung nach § 1696 Abs. 2 BGB. Unter diesem Gesichtspunkt hat das vorlegende Gericht zwar geprüft, ob der Erlaß einer Verbleibensanordnung durch das Vormundschaftsgericht nach § 1632 Abs. 4 BGB in Betracht kommt. Es hat diese Frage aber mit Erwägungen verneint, die nicht die Eignung der Verbleibensanordnung zur Wahrung des Kindeswohls, sondern nur die Zweckmäßigkeit eines solchen Verfahrens betreffen. So hat das Gericht nicht geprüft, ob der von ihm angenommenen Gefahr für das Wohl des Kindes mit einer Verbleibensanordnung hinreichend begegnet werden könnte. Weder die Aussage, eine solche Lösung würde von den Verfahrensbeteiligten nicht akzeptiert, noch der Hinweis darauf, daß für Entscheidungen nach § 1632 Abs. 4 BGB das Vormundschaftsgericht zuständig und deshalb die Möglichkeit entgegengesetzter Entscheidungen nicht auszuschließen ist, genügen um darzutun, daß hier dem Kindeswohl nicht schon durch eine Verbleibensanordnung Rechnung getragen werden könnte. Das Gericht geht auch nicht darauf ein, daß es die Möglichkeit hat, beim Vormundschaftsgericht den Erlaß einer Verbleibensanordnung von Amts wegen anzuregen. |
b) Die Darlegungen zur Auslegung des § 1696 Abs. 2 BGB sind nur zum Teil nachvollziehbar. Für seine Auffassung, § 1696 Abs. 2 BGB schließe von vornherein die Berücksichtigung solcher Gefahren aus, die dem Wohl des Kindes bei dessen Herausnahme aus der Pflegefamilie drohen, beruft sich das Gericht auf den angeblich klaren und eindeutigen Wortlaut der Vorschrift. Es setzt sich mit dem Wortlaut aber nicht im einzelnen auseinander; insbesondere geht es nicht auf die Frage ein, weshalb der Begriff "eine Gefahr für das Wohl des Kindes" nur die Gefahr erfassen soll, die ursprünglich zu der Maßnahme geführt hat, und eine Berücksichtigung der Situation im Zeitpunkt der Entscheidung nicht zulassen soll. Rechtsprechung und Literatur zu dieser Frage (vgl. etwa Hinz in: Münchener Kommentar, BGB, 3. Aufl. 1992, § 1696 Rdnr. 16; Coester in: Staudinger, BGB, 12. Aufl. 1991, § 1696 Rdnr. 18; Strätz in: Soergel, BGB, 12. Aufl. 1987, § 1696 Rdnr. 15; Salgo, Pflegekindschaft und Staatsintervention, 1987, S. 223) werden nicht ausreichend verwertet. Ebenso fehlt es an einer näheren Begründung für die Auffas sung, daß der Begriff "Gefahr für das Wohl des Kindes" nur die sich aus mangelnder Eignung der Eltern oder eines Elternteils ergebenden Gefahren meine. Einer vertieften Erörterung dieser Frage hätte es hier um so mehr bedurft, als bereits die Sorgerechtsregelung im Scheidungsurteil auf die Erwägung gestützt worden war, es widerspreche dem Wohl des Kindes, seine Bindungen an die Pflegefamilie abrupt abzubrechen. |
Soweit das Gericht auf die Entstehungsgeschichte des § 1696 Abs. 2 BGB eingeht, legt es die Motive des Gesetzgebers ohne erkennbaren Grund einengend aus. Während im Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages davon die Rede ist, daß die in § 1696 Abs. 2 BGB genannten Maßnahmen wieder aufzuheben sind, wenn "eine Gefahr für das Kindeswohl nicht mehr besteht" (BTDrucks. 8/2788, S. 68), bezeichnet das Gericht es als das gesetzgeberische Ziel, daß Maßnahmen wieder aufgehoben werden, wenn "der Grund für die Anordnung nicht mehr besteht". Es setzt sich auch nicht mit dem Motiv des Gesetzgebers auseinander, bei Eingriffen in das Elternrecht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dadurch Rechnung zu tragen, daß das Elternrecht nur zurückgedrängt wird, soweit das Wohl des Kindes dies erfordert, was eine Abwägung zwischen Kindeswohl und Elternrecht voraussetzt.
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c) Nicht nachvollziehbar ist die Auffassung des vorlegenden Gerichts, der "klare und eindeutige" Wortlaut des § 1696 Abs. 2 BGB lasse eine verfassungskonforme Auslegung nicht zu. Denn die Formulierung des § 1696 Abs. 2 BGB läßt ersichtlich verschiedene Auslegungen zu und wäre auch der Auslegung zugänglich, die das vorlegende Gericht für verfassungsrechtlich geboten erachtet.
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Die Aufrechterhaltung des Sorgerechtsentzuges ist allerdings nach § 1696 Abs. 2 BGB nur zulässig, soweit das im konkreten Fall erforderlich ist, um eine mit der Herausnahme aus der Pflegefamilie verbundene Gefahr für das Wohl des Kindes abzuwenden. Unter diesem Gesichtspunkt kann insbesondere die Prüfung geboten sein, ob eine Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB genügt, um der im Einzelfall festgestellten Gefahr für das seelische Wohl des Kindes zu begegnen. Das Gebot, die Erforderlichkeit des Sorgerechtsentzuges zu prüfen, kann aber offensichtlich nicht gegen das Grundgesetz verstoßen; vielmehr handelt es sich um eine Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. |
(gez.) Herzog Henschel Grimm Söllner Dieterich Kühling Seibert |