BVerfGE 92, 277 - DDR-Spione |
1. Eine allgemeine Regel des Völkerrechts als Bestandteil des Bundesrechts (Art. 25 GG), nach der die strafrechtliche Ahndung nachrichtendienstlicher Tätigkeiten ausgeschlossen ist, die im Auftrag und vom Territorium eines Staates aus begangen wurden, der danach dem ausgespähten Staat friedlich und einvernehmlich beigetreten ist, kann nicht festgestellt werden. |
2. Zur Frage der Strafbarkeit und Verfolgbarkeit früherer Mitarbeiter und Agenten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und des militärischen Nachrichtendienstes der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) nach der Vereinigung Deutschlands wegen ihrer zuvor gegen die Bundesrepublik Deutschland oder deren NATO-Partner gerichteten Spionagetätigkeit. |
Beschluß |
des Zweiten Senats vom 15. Mai 1995 |
-- 2 BvL 19/91, 2 BvR 1206, 1584/91 und 2601/93 -- |
in den Verfahren I. zur Prüfung, ob 1. Art. 315 Abs. 4 Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB) in der Fassung des Einigungsvertrages insoweit gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, als er die Strafverfolgung wegen geheimdienstlicher Agententätigket, im Verlauf damit verübten Landesverrats und der mit der geheimdienstlichen Tätigkeit in Zusammenhang stehenden Bestechung gegen solche Personen beibehält, die ihre Handlun gen vom Boden der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik aus begangen haben und die im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Einheit Deutschlands am 3. Oktober 1990 ihre Lebensgrundlage in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik hatten, 2. die für den Kriegsfall geltende allgemeine Regel des Völkerrechts des Art. 31 der Haager Landkriegsordnung, wonach der zu seinem Heer zurückgekehrte Spion für früher begangene Spionage nicht verantwortlich gemacht werden darf, auf den unter 1. genannten Personenkreis entsprechend angewendet werden kann - Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Kammergerichts in Berlin vom 22. Juli 1991 - (1) 3 StE 9/91 - 4 - (13/91) - 2 BvL 19/91 -; II. über die Verfassungsbeschwerden 1. des Herrn L... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Klaus Rüther, Seminarstraße 13/14, Osnabrück - gegen a) den Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 24. September 1993 - 3 StR 199/92 -, b) das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 23. Dezember 1991 - IV - 22/91 - (17/91 VS-Vertr.) - 2 BvR 2601/93 -, 2. des Herrn K... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Harry Boog, Friedrich-Ebert-Anlage 30, Heidelberg - gegen a) den Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 3. Juli 1991 - 3 StR 226/91 -, b) das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 28. Februar 1991 - 4 OJs 11/90 - 2 BvR 1206/91 -, 3. des Herrn D... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr. Gunter Widmaier, Herrenstraße 23, Karlsruhe - gegen a) den Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 18. September 1991 - 3 StR 193/91 -, b) das Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz vom 5. Februar 1991 - 3 StE 4/90-1 - 2 BvR 1584/91 -. |
Entscheidungsformel: |
1. Die Vorlage des Kammergerichts ist insoweit unzulässig, als sie Artikel 315 Absatz 4 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch zu verfassungsrechtlichen Prüfung vorlegt. |
2. Eine allgemeine Regel des Völkerrechts, nach der die strafrechtliche Ahndung nachrichtendienstlicher Tätigkeiten ausgeschlossen ist, die im Auftrag und vom Territorium eines Staates aus begangen wurden, der danach dem ausgespähten Staat friedlich und einvernehmlich beigetreten ist, ist nicht Bestandteil des Bundesrechts. |
3. Das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 23. Dezember 1991 - IV - 22/91 - (17/91 VS-Vertr.) - und der Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 24. September 1993 - 3 StR 199/92 - verletzen den Beschwerdeführer zu II. 1. in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2, Artikel 33 Absatz 2 und Artikel 38 Absatz 2 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. |
Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Düsseldorf zurückverwiesen. |
Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer zu II. 1. seine notwendigen Auslagen zu erstatten. |
4. Das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 28. Februar 1991 - 4 OJs 11/90 - verletzt den Beschwerdeführer zu II. 2. im Rechtsfolgenausspruch in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 3. Juli 1991 - 3 StR 226/91 - verletzt den Beschwerdeführer ebenfalls in diesem Grundrecht, soweit dessen Revision in bezug auf den Rechtsfolgenausspruch verworfen wurde. |
Die Entscheidung werden insoweit aufgehoben. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung an der Oberlandesgericht Stuttgart zurückverwiesen. |
Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer zu II. 2. seine notwendigen Auslagen zur Hälfte zu erstatten. |
5. Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu II. 3. wird zurückgewiesen. |
Gründe: |
A. |
Die zu gemeinsamer Entscheidung verbundenen Verfahren betreffen die Frage, ob und inwieweit Verfassungsrecht oder allgemeine Regeln des Völkerrechts es verbieten, frühere Mitarbeiter und Agenten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) oder des militärischen Nachrichtendienstes der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) nach der Vereinigung Deutschlands aufgrund ihrer zuvor gegen die Bundesrepublik Deutschland oder deren NATO-Partner gerichteten Spionagetätigkeit wegen Landesverrats oder geheimdienstlicher Tätigkeit und damit zusammenhängender Straftaten zu bestrafen.
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I. |
1. a) Das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland bedroht in § 94 StGB den Landesverrat und in § 99 StGB die geheimdienstliche Agententätigkeit mit Strafe; beide Vorschriften erhielten ihre bis heute geltende Fassung durch das Achte Strafrechtsänderungsgesetz vom 25. Juni 1968 (BGBl. I S. 741). Die Vorschriften des Strafgesetzbuchs gelten nach § 3 StGB für Inlandstaten, die §§ 94 und 99 StGB darüber hinaus gemäß § 5 Nr. 4 StGB (in der Fassung des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch) auch für im Ausland begangene Taten. Der Begehungsort einer Tat wird dabei durch § 9 StGB (in der Fassung des 2. Strafrechtsreformgesetzes vom 4. Juli 1969, BGBl. I S. 717) bestimmt. Die Vorschriften haben folgenden Wortlaut (vgl. die Bekanntmachung der Neufassung des Strafgesetzbuchs vom 10. März 1987, BGBl. I S. 945 [954 f., 980 f.]):
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"§ 3 Geltung für Inlandstaten
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Das deutsche Strafrecht gilt für Taten, die im Inland begangen werden.
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§ 5 Auslandstaten gegen inländische Rechtsgüter
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Das deutsche Strafrecht gilt, unabhängig vom Recht des Tatorts, für folgende Taten, die im Ausland begangen werden:
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1. bis 3. ...;
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4. Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit (§§ 94 bis 100a);
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5. bis 14. ...
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§ 9 Ort der Tat
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(1) Eine Tat ist an jedem Ort begangen, an dem der Täter gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen oder an dem der zum Tatbestand gehörende Erfolg eingetreten ist oder nach der Vorstellung des Täters eintreten sollte.
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(2) Die Teilnahme ist sowohl an dem Ort begangen, an dem die Tat begangen ist, als auch an jedem Ort, an dem der Teilnehmer gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen oder an dem nach seiner Vorstellung die Tat begangen werden sollte. Hat der Teilneh- mer an einer Auslandstat im Inland gehandelt, so gilt für die Teilnahme das deutsche Strafrecht, auch wenn die Tat nach dem Recht des Tatorts nicht mit Strafe bedroht ist. |
§ 94 Landesverrat
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(1) Wer ein Staatsgeheimnis
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1. einer fremden Macht oder einem ihrer Mittelsmänner mitteilt oder
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2. sonst an einen Unbefugten gelangen läßt oder öffentlich bekanntmacht, um die Bundesrepublik Deutschland zu benachteiligen oder eine fremde Macht zu begünstigen,
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und dadurch die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland herbeiführt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.
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(2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter
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1. eine verantwortliche Stellung mißbraucht, die ihn zur Wahrung von Staatsgeheimnissen besonders verpflichtet, oder
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2. durch die Tat die Gefahr eines besonders schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland herbeiführt.
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§ 99 Geheimdienstliche Agententätigkeit
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(1) Wer
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1. für den Geheimdienst einer fremden Macht eine geheimdienstliche Tätigkeit gegen die Bundesrepublik Deutschland ausübt, die auf die Mitteilung oder Lieferung von Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen gerichtet ist, oder
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2. gegenüber dem Geheimdienst einer fremden Macht oder einem seiner Mittelsmänner sich zu einer solchen Tätigkeit bereit erklärt,
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wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in § 94 oder § 96 Abs. 1, in § 97a oder in § 97b in Verbindung mit § 94 oder § 96 Abs. 1 mit Strafe bedroht ist.
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(2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, die von einer amtlichen Stelle oder auf deren Veranlassung geheimgehalten werden, mitteilt oder liefert und wenn er
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1. eine verantwortliche Stellung mißbraucht, die ihn zur Wahrung solcher Geheimnisse besonders verpflichtet, oder
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(3) § 98 Abs. 2 gilt entsprechend."
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§ 98 Abs. 2 StGB sieht im Falle tätiger Reue vor, die Strafe zu mildern oder von Strafe abzusehen; in bestimmten Fällen ist Straffreiheit zu gewähren.
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b) Art. 7 des Vierten Strafrechtsänderungsgesetzes vom 11. Juni 1957 (BGBl. I S. 597 [601]) in der Fassung des Achten Strafrechtsänderungsgesetzes vom 25. Juni 1968 (BGBl. I S. 741) erstreckt den Schutz der §§ 93 ff. StGB auf die nichtdeutschen Vertragsstaaten des Nordatlantikpaktes und ihre in Deutschland stationierten Truppen (BGBl. I S. 741 [750 f.]). Diese Vorschrift gilt indessen nur für Straftaten, die im Gebiet der Bundesrepublik nach dem Stand vor dem 3. Oktober 1990 ohne Berlin (West) begangen werden. Sie lautet, soweit hier von Interesse, wie folgt:
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"(1) Zum Schutz der nichtdeutschen Vertragsstaaten des Nordatlantikpaktes, ihrer in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Truppen und der im Land Berlin anwesenden Truppen einer der Drei Mächte gelten die §§ 93 bis 97 und 98 bis 100 in Verbindung mit den §§ 101 und 101a des Strafgesetzbuches mit folgender Maßgabe:
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1. Den Staatsgeheimnissen im Sinne des § 93 des Strafgesetzbuches entsprechen militärische Geheimnisse der Vertragsstaaten. Militärische Geheimnisse im Sinne dieser Vorschrift sind Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, welche die Verteidigung betreffen und von einer im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes oder im Land Berlin befindlichen Dienststelle eines Vertragsstaates mit Rücksicht auf dessen Sicherheit, die Sicherheit seiner in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Truppen oder die Sicherheit der im Land Berlin anwesenden Truppen einer der Drei Mächte geheimgehalten werden. Ausgenommen sind Gegenstände, über deren Geheimhaltung zu bestimmen Angelegenheit der Bundesrepublik Deutschland ist, sowie Nachrichten darüber.
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2. In den Fällen des § 94 Abs. 1 Nr. 2 des Strafgesetzbuches tritt an die Stelle der Absicht, die Bundesrepublik Deutschland zu benachteiligen, die Absicht, den betroffenen Vertragsstaat, seine in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Truppen oder die im Land Berlin anwesenden Truppen einer der Drei Mächte zu benachteiligen.
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3. In den Fällen der §§ 94 bis 97 des Strafgesetzbuches tritt an die Stelle der Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland die Gefahr eines schweren Nachteils für die Sicherheit des betroffenen Vertragsstaates, seiner in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Truppen oder der im Land Berlin anwesenden Truppen einer der Drei Mächte. |
4. In den Fällen des § 99 des Strafgesetzbuches tritt an die Stelle der gegen die Bundesrepublik Deutschland ausgeübten geheimdienstlichen Tätigkeit eine gegen den betroffenen Vertragsstaat, seine in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Truppen oder die im Land Berlin anwesenden Truppen einer der Drei Mächte ausgeübte geheimdienstliche Tätigkeit.
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5. ...
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6. In den Fällen der §§ 94 bis 97 des Strafgesetzbuches ist die Strafverfolgung nur zulässig, wenn die oberste militärische Dienststelle der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Truppen des betroffenen Vertragsstaates oder der im Land Berlin anwesenden Truppen der betroffenen Macht oder der Leiter ihrer diplomatischen Vertretung erklärt, daß die Wahrung des Geheimnisses für die Sicherheit des Vertragsstaates, seiner in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Truppen oder der im Land Berlin anwesenden Truppen der betroffenen Macht zur Zeit der Tat erforderlich war.
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7. ...
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(2) und (3) ...
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(4) Die Absätze 1 bis 3 gelten nur für Straftaten, die im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes begangen werden."
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c) Diese Vorschriften gelten auch für Spionagetaten, die im Dienste der DDR begangen worden sind.
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2. Das Strafgesetzbuch der DDR enthielt ebenfalls Vorschriften über Spionage und landesverräterische Straftaten zum Nachteil der DDR oder eines mit ihr verbündeten Staates. Diese richteten sich auch gegen eine nachrichtendienstliche Tätigkeit für die Bundesrepublik Deutschland.
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3. Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990 - Einigungsvertrag (EV) - (BGBl. II 1990, S. 885) setzte mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 das Strafrecht der DDR - von einigen hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen - außer Kraft und erstreckte - mit verschiedenen Einschränkungen und Maßgaben - den Geltungsbereich des Strafrechts der Bundesrepublik auf das Gebiet der frühe ren DDR. Im Rahmen der in Kapitel III des Vertrages geregelten Rechtsangleichung bestimmt Artikel 8 "Überleitung von Bundesrecht": |
"Mit dem Wirksamwerden des Beitritts tritt in dem in Artikel 3 genannten Gebiet Bundesrecht in Kraft, soweit es nicht in seinem Geltungsbereich auf bestimmte Länder oder Landesteile der Bundesrepublik Deutschland beschränkt ist und soweit durch diesen Vertrag, insbesondere dessen Anlage I, nichts anderes bestimmt wird."
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Gemäß Anlage I des Vertrages, Kapitel III, Sachgebiet C, Abschnitt II Nr. 1 b erhielt Art. 315 EGStGB folgende Fassung:
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"Artikel 315 Geltung des Strafrechts für in der Deutschen Demokratischen Republik begangene Taten
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(1) Auf vor dem Wirksamwerden des Beitritts in der Deutschen Demokratischen Republik begangene Taten findet § 2 des Strafgesetzbuches mit der Maßgabe Anwendung, daß das Gericht von Strafe absieht, wenn nach dem zur Zeit der Tat geltenden Recht der Deutschen Demokratischen Republik weder eine Freiheitsstrafe noch eine Verurteilung auf Bewährung noch eine Geldstrafe verwirkt gewesen wäre. Neben der Freiheitsstrafe werden die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung sowie die Führungsaufsicht nach § 68 Abs. 1 des Strafgesetzbuches nicht angeordnet. Wegen einer Tat, die vor dem Wirksamwerden des Beitritts begangen worden ist, tritt Führungsaufsicht nach § 68 f. des Strafgesetzbuches nicht ein.
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(2) Die Vorschriften des Strafgesetzbuches über die Geldstrafe (§§ 40 bis 43) gelten auch für die vor dem Wirksamwerden des Beitritts in der Deutschen Demokratischen Republik begangenen Taten, soweit nachfolgend nichts anderes bestimmt ist. Die Geldstrafe darf nach Zahl und Höhe der Tagessätze insgesamt das Höchstmaß der bisher angedrohten Geldstrafe nicht übersteigen. Es dürfen höchstens dreihundertsechzig Tagessätze verhängt werden.
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(3) Die Vorschriften des Strafgesetzbuches über die Aussetzung eines Strafrestes sowie den Widerruf ausgesetzter Strafen finden auf Verurteilungen auf Bewährung (§ 33 des Strafgesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik) sowie auf Freiheitsstrafen Anwendung, die wegen vor dem Wirksamwerden des Beitritts in der Deutschen Demokratischen Republik begangener Taten verhängt worden sind, soweit sich nicht aus den Grundsätzen des § 2 Abs. 3 des Strafgesetzbuches etwas anderes ergibt.
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In den Erläuterungen zu den Anlagen zum Einigungsvertrag (BTDrucks. 11/7817, S. 51) heißt es dazu:
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"Die Art. 315 bis 315c EGStGB enthalten notwendige Übergangsregelungen. In Art. 315 Abs. 1 ist festgelegt, daß auf vor dem Wirksamwerden des Beitritts begangene, aber noch nicht abgeurteilte Straftaten § 2 StGB Anwendung findet. Außerdem enthält die Vorschrift die Maßgabe, daß das Gericht von Strafe absieht, wenn weder eine Freiheitsstrafe noch eine Verurteilung auf Bewährung noch eine Geldstrafe verwirkt sein würde. Von dieser Regelung sind Strafsanktionen erfaßt, die im Recht der Bundesrepublik Deutschland so nicht bekannt waren und Fälle einfacher Kriminalität betrafen."
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Gemäß Kapitel III, Abschnitt III Nr. 1 des Sachgebiets C traten im Beitrittsgebiet insbesondere die §§ 3, 5 Nr. 4, 9, 94 und 99 StGB in Kraft.
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4. a) Während der Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über den Einigungsvertrag erwogen die Verhandlungsführer, in den Vertrag ein Straffreiheitsgesetz für die gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Spionagetätigkeit der DDR aufzunehmen (vgl. Kinkel, Wiedervereinigung und Strafrecht, JZ 1992, S. 485 [486]; Schäuble, Der Vertrag, Stuttgart 1991, S. 268 bis 272). Diese Bestrebungen scheiterten an Vorbehalten in der Bevölkerung beider Teile Deutschlands und in den Parlamenten der Vertragspartner gegen eine "Stasi-Amnestie". Außerdem drohte der Vertrag in der Bundesrepublik Deutschland die für die vorgesehenen Verfassungsänderungen notwendigen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat zu verfehlen, weil über die Forderung der SPD nach einer erweiterten Amnestie auch für Sitzblockaden und ähnliche in der Bundesrepublik im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um den Vollzug des NATO-Doppelbeschlusses begangene Straftaten keine Einigung unter den im Bundestag vertretenen Parteien erzielt wurde (vgl. Schäuble, a.a.O., S. 271 f.).
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b) Im Hinblick auf das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten brachten die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP am 2. September 1990 (BTDrucks. 11/7762 [neu]) und die Bundesregierung am 13. September 1990 (BTDrucks. 11/7871) den gleichlautenden "Entwurf eines Gesetzes über Straffreiheit bei Straftaten des Landesverrats und der Gefährdung der äußeren Sicherheit" ein, der differenzierte Regelungen für eine Amnestierung im Dienste der DDR begangener Spionagestraftaten vorsah. Beide Entwürfe wurden nicht Gesetz, weil der Gedanke der Amnestie nach wie vor keine hinreichend breite Akzeptanz fand. |
c) Am 7. Dezember 1993 brachte die Gruppe der PDS/Linke Liste im Deutschen Bundestag den Entwurf eines Gesetzes über Straffreiheit bei Straftaten des Landesverrats und der Gefährdung der äußeren Sicherheit - Spionageamnestiegesetz - (BTDrucks. 12/6370) ein, der, über die früheren Entwürfe hinausgehend, eine umfassende Straffreiheit sowohl für Einwohner der Deutschen Demokratischen Republik als auch der Bundesrepublik Deutschland vorsah. Am 15. Juni 1994 beschlossen sowohl der Innen- als auch der Rechtsausschuß einstimmig, die Ablehnung des Gesetzentwurfs zu empfehlen. Ein Vertreter der Gruppe PDS/Linke Liste nahm an den Ausschußsitzungen nicht teil. Durch die Wahl des 13. Deutschen Bundestages fiel der Gesetzentwurf der Diskontinuität anheim.
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II. |
Den verbundenen Verfahren liegen folgende Sachverhalte zugrunde:
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1. Das Vorlageverfahren 2 BvL 19/91
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Der Generalbundesanwalt erhob in dem Ausgangsverfahren am 10. Juni 1991 Anklage vor dem Kammergericht in Berlin gegen die ehemaligen Offiziere der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) Großmann, D..., Sch..., F... und K... wegen des Vorwurfs des Landesverrats, der geheimdienstlichen Agententätigkeit und der Bestechung. Gleichzeitig beantragte er, wegen Fluchtgefahr den Haftverschonungsbeschluß betreffend Großmann aufzuheben, den Haftbefehl gegen ihn wieder in Vollzug zu setzen und gegen die Angeschuldigten D... und Sch... Haftbefehle nach Maßgabe der Anklage zu erlassen.
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Das Kammergericht (NJW 1991, S. 2501 ff. = JR 1991, S. 426 ff.) setzte das Eröffnungsverfahren sowie das Verfahren über die beantragten Haftanordnungen aus und legte die Sache dem Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG zur Prüfung vor, ob Art. 315 Abs. 4 EGStGB in der Fassung des Einigungsvertrages insoweit gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoße, als er die Strafverfolgung wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit, in deren Verlauf verübten Landesverrats und mit der geheimdienstlichen Tätigkeit in Zusammenhang stehender Bestechung gegen solche Personen beibehält, die ihre Handlungen vom Boden der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik aus begangen haben und die im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Einheit Deutschlands am 3. Oktober 1990 ihre Lebensgrundlage in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik hatten. |
Zugleich legte das Kammergericht die Sache dem Bundesverfassungsgericht auch gemäß Art. 100 Abs. 2 GG mit der Frage zur Entscheidung vor, ob die für den Kriegsfall geltende allgemeine Regel des Völkerrechts des Art. 31 der Haager Landkriegsordnung, wonach der zu seinem Heer zurückgekehrte Spion für früher begangene Spionage nicht verantwortlich gemacht werden darf, auf den oben genannten Personenkreis entsprechend angewendet werden könne.
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Das Haager "Abkommen, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs" vom 18. Oktober 1907 (RGBl. 1910 S. 107, 143 f.) bestimmt im Zweiten Kapitel des Zweiten Abschnittes der dazugehörenden "Anlage zum Abkommen - Ordnung und Gebräuche des Landkrieges" - Haager Landkriegsordnung - (HLKO) unter der Überschrift "Spione":
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"Artikel 29
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Als Spion gilt nur, wer heimlich oder unter falschem Vorwand in dem Operationsgebiet eines Kriegführenden Nachrichten einzieht oder einzuziehen sucht in der Absicht, sie der Gegenpartei mitzuteilen.
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Demgemäß sind Militärpersonen in Uniform, die in das Operationsgebiet des feindlichen Heeres eingedrungen sind, um sich Nachrichten zu verschaffen, nicht als Spione zu betrachten. Desgleichen gelten nicht als Spione: Militärpersonen und Nichtmilitärpersonen, die den ihnen erteil- ten Auftrag, Mitteilungen an ihr eigenes oder an das feindliche Heer zu überbringen, offen ausführen. Dahin gehören ebenfalls Personen, die in Luftschiffen befördert werden, um Mitteilungen zu überbringen oder um überhaupt Verbindungen zwischen den verschiedenen Teilen eines Heeres oder eines Gebiets aufrechtzuerhalten. |
Artikel 30
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Der auf der Tat ertappte Spion kann nicht ohne vorausgegangenes Urteil bestraft werden.
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Artikel 31
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Ein Spion, welcher zu dem Heere, dem er angehört, zurückgekehrt ist und später vom Feinde gefangen genommen wird, ist als Kriegsgefangener zu behandeln und kann für früher begangene Spionage nicht verantwortlich gemacht werden."
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Der Generalbundesanwalt nahm mit Schreiben vom 28. April 1994 die Anklage bezüglich der Angeschuldigten F... und K... zurück; mit Beschluß vom 26. September 1994 hob das Kammergericht seinen Vorlagebeschluß insoweit auf.
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a) Das Kammergericht geht - im Sinne eines hinreichenden Tatverdachts - von folgendem Ergebnis der Ermittlungen aus:
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aa) Der Auslandsaufklärungsdienst der ehemaligen DDR unterstand ursprünglich dem Außenministerium und führte die Bezeichnung "Institut für Wirtschaftliche Forschung" (IWF). Nach den Ereignissen vom 17. Juni 1953 wurde das IWF als Hauptabteilung XV in den Zuständigkeitsbereich des MfS übernommen und im Jahre 1956 in "Hauptverwaltung Aufklärung" umbenannt. Sie war in Abteilungen, diese wieder waren in Referate gegliedert. Ihr nachgeordnet war jeweils eine Abteilung XI bei den 15 Bezirksverwaltungen des MfS; diesen Abteilungen waren bestimmte geographische Zielräume auf dem Gebiet der Bundesrepublik und als zusätzliche Bearbeitungsschwerpunkte einzelne operative Zielobjekte zur Ausforschung zugewiesen. Die durch die nachrichtendienstliche Tätigkeit gewonnenen Erkenntnisse wurden nicht nur in der HVA ausgewertet; sie gelangten auch an den Inlandssicherheitsapparat des MfS. Außerdem hatte der sowjetische Geheimdienst Zugang zu allen nachrichtendienstlichen Erkenntnissen der HVA.
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Das MfS erhielt richtungweisende Anordnungen unmittelbar von der Abteilung Sicherheit im Zentralkomitee oder dem Politbüro des Zentralkomitees der SED, dem der Minister für Staatssicherheit angehörte. Im Rahmen dieser Anordnungen organisierte die HVA ihre Tätigkeit weitgehend selbst. Ihr Leiter übte durch im Stab der HVA ausgearbeitete dienstliche Anordnungen die Befehlsgewalt über die Leiter der Abteilungen aus, die ihrerseits gegenüber den Leitern der Referate weisungsberechtigt waren. Den Stellvertretern der jeweiligen Leiter wurde außer der Vertretung in Abwesenheitsfällen auch die selbstverantwortliche Führung nachgeordneter Diensteinheiten übertragen. Jeder Leiter einer Diensteinheit war im Rahmen seiner Zuständigkeit seinem Vorgesetzten für die Lösung der Aufgaben der HVA verantwortlich. |
bb) Der Angeschuldigte Großmann war in der Zeit vom 1. September 1967 bis 31. Oktober 1975 Leiter der Abteilung I der HVA. Diese Abteilung war für die Auskundschaftung des Staatsapparates der Bundesrepublik Deutschland, mit Ausnahme von militärischen Objekten und den Geheimdiensten, zuständig. Als Abteilungsleiter stellte Großmann aufgrund von ministeriellen Planvorgaben jährliche Arbeits- und Finanzpläne für Operativvorgänge und die dabei für die Zahlungen von Agentenlohn benötigten Geldmittel auf. Mit Hilfe der Pläne steuerte Großmann den Einsatz mehrerer Agenten in der Bundesrepublik Deutschland, die aus ihrem beruflichen Betätigungsfeld dem MfS nachrichtendienstlich interessierendes Material lieferten. Ferner hatte Großmann als Abteilungsleiter die Operativreisen von hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern der Abteilung I zu genehmigen sowie eingehendes Material der Auswertungsabteilung den Verbindungsoffizieren des sowjetischen Geheimdienstes zuzuleiten. Auch in die praktische Durchführung der Pläne griff Großmann lenkend ein. Er ließ sich über alle wichtigen Einzelheiten der Operativvorgänge berichten und leitete ihm unterstellte Mitarbeiter bei der Lösung von Aufgaben an. Er nahm ferner an mehreren Agententreffen außerhalb der Bundesrepublik teil.
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Am 1. November 1975 übernahm Großmann die Funktion des Stellvertreters des Leiters der HVA, die er bis Mitte November 1986 ausübte. In dieser Zeit stand er außer der Abteilung I auch der Abteilung II vor, die für die Ausforschung der politischen Parteien der Bundesrepublik Deutschland zuständig war. Die von der Abteilung II bei einem FDP-Politiker unter dem Decknamen "Sonja Lüneburg" eingeschleuste Agentin, mit der Großmann mehrfach zusammentraf, verriet unter seiner Leitung im Jahre 1981 wichtige militärische Geheimnisse der Bundesrepublik. Auch an Treffen mit anderen wichtigen Agenten, die in der Bundesrepublik tätig waren, nahm er teil. Durch die von ihm erstellten Jahrespläne steuerte er die nachrichtendienstlichen Operationen in einer Reihe von Spionagefällen und zeichnete für die Zahlung des Agentenlohns verantwortlich. |
Vom 15. November 1986 bis 31. März 1990 steuerte Großmann als Leiter der HVA deren gesamte gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Agententätigkeit. Ihm unmittelbar unterstellt war unter anderem die Abteilung IX, deren Ausforschungsbereich die "gegnerischen Dienste" wie den Bundesnachrichtendienst, den Militärischen Abschirmdienst, das Bundesamt und die Landesämter für Verfassungsschutz und andere Staatsschutzstellen sowie westliche Nachrichtendienste betraf. Durch Haushalts- und Valutadienstleistungspläne, in denen die benötigten Operativgelder (Reisekosten von Mitarbeitern, bei einem Treff an Agenten gezahlte Prämien und sonstige Entgelte) erfaßt waren, steuerte er die nachrichtendienstliche Tätigkeit. Er ließ sich auf dem Dienstweg über sämtliche bedeutsamen Ergebnisse und Entwicklungen in Spionagevorgängen berichten, informierte sich über jedes Vorhaben, in ein wichtiges Ausforschungsobjekt der Bundesrepublik Deutschland einen inoffiziellen Mitarbeiter einzuschleusen, schon im Stadium der Vorbereitung und bestätigte in den ihm unmittelbar unterstellten Abteilungen jede Neuanlegung eines operativen Vorgangs. Durch jährliche Informationsvorgaben an den für den Bereich "Elektronische Aufklärung" zuständigen Leiter der Hauptabteilung III des MfS veranlaßte er eine Vielzahl von Abhörmaßnahmen gegen die Bundesrepublik Deutschland. Darüber hinaus war er auch als Leiter der HVA in die Führung von Agenten persönlich eingebunden und traf mit einigen von ihnen, die wichtiges Verratsmaterial überbrachten, außerhalb der Bundesrepublik zusammen. |
cc) Der Angeschuldigte D... leitete als Nachfolger Großmanns in der Zeit vom 15. August 1984 bis 31. August 1986 die Abteilung I der HVA. Vom 1. August 1987 bis 31. März 1990 war er einer der Stellvertreter des Leiters der HVA. In beiden Funktionsbereichen entsprachen die Zuständigkeiten und Tätigkeiten des Angeschuldigten, insbesondere was die Führung von bestimmten Agenten angeht, denen seines Vorgängers Großmann. So nahm D... auch an Agententreffs teil und zeichnete für die Zahlung von Agentenlohn verantwortlich.
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dd) Der Angeschuldigte Sch... war in der Zeit vom 19. April 1960 bis 31. März 1972 Leiter des Referats 2 der Abteilung I der HVA, das für die Erkundung des Auswärtigen Amtes in Bonn sowie der Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland verantwortlich war. Als Referatsleiter stellte Sch... die Jahrespläne auf, die nach der Bestätigung durch den unmittelbaren Vorgesetzten das Arbeitsprogramm des Referats für das bevorstehende Jahr bildeten. Daraus leitete er die eigentlichen Operativpläne ab, in denen die Vorgehensweisen nach Art, Zeit und Umfang bis in die Einzelheiten festgelegt waren. Der Angeschuldigte Sch... bestätigte Decknamen und Operativgeldanweisungen (also auch die Zahlung von Agentenlohn) bis zu 2.500,- DM, entschied darüber, welche Informationen dem Vorgesetzten auf dem Dienstweg zugeleitet wurden, und wies Mitarbeiter seines Referats bei deren operativer Tätigkeit an. Diese Leitungstätigkeit erstreckte sich auf verschiedene bekannte Spionagefälle. Sch... führte außerdem eigene Vorgänge und nahm an verschiedenen Agententreffen - nach der Anklageschrift darunter auch in drei bis vier Fällen in der Bundesrepublik Deutschland - teil.
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Mit Wirkung vom 1. September 1973 wurde Sch... Stellvertreter des Leiters der Abteilung I; diese Position hatte er bis zum 28. Februar 1990 inne. Ihm unterstanden seitdem neben dem Referat 2 das Referat 1, dessen Aufgabe die Ausspähung des Bundeskanzleramts war, und zusätzlich bis Juli/August 1988 das Referat 3, das für die Werbung und Einschleusung von Agenten bei dem Auswärtigen Amt zuständig war. Durch die Bestätigung der Jahrespläne der Referatsleiter und der operativen Einsatzpläne der Referatsmitarbeiter trug der Angeschuldigte Sch... die Verantwortung für die nachrichtendienstlichen Operationen in den ihm unterstellten Referaten einschließlich der Zahlungen von Agentenlohn. Es oblag ihm, operativ-taktische Vorgehensweisen im voraus zu billigen, die Durchführung der Aktionen zu überwachen, mit dem jeweiligen Führungsoffizier an Treffs mit "Quellen" teilzunehmen und für deren "tiefgründige und umfassende Abschöpfung" zu sorgen. Außerdem hatte er die Verwendung von Operativgeldern zu kontrollieren. Unter seiner Zuständigkeit sind verschiedene bekannte Agenten gegen die Bundesrepublik Deutschland eingesetzt worden. |
b) Das Kammergericht wertet das dem Angeschuldigten Großmann vorgeworfene Tun als Landesverrat (§ 94 Abs. 1 Nr. 1 StGB) in Tateinheit (§ 52 StGB) mit Bestechung (§ 334 Abs. 1 StGB). Der Landesverrat sei durch Teilnahme an dem 1981 durch die Agentin "Sonja Lüneburg" verübten Verrat von Staatsgeheimnissen der Bundesrepublik Deutschland an das MfS und damit auch an die mit der DDR kooperierenden Staaten des Warschauer Paktes begangen worden. Zugleich habe Großmann durch seine gesamte Tätigkeit für die HVA den Tatbestand der geheimdienstlichen Agententätigkeit (§ 99 Abs. 1 Nr. 1 StGB) erfüllt. § 99 StGB habe mit Wirkung vom 1. August 1968 den früheren § 100e StGB ersetzt, dessen Tatbestand Großmann ebenfalls verwirklicht habe; nach den §§ 1, 2 Abs. 1 StGB sei deshalb einheitlich die neue Vorschrift des § 99 StGB anzuwenden. Diese trete jedoch als subsidiär hinter § 94 Abs. 1 StGB zurück. Durch die von ihm zu verantwortende Zahlung von Agentenlohn an verschiedene Amtsträger der Bundesrepublik, die für das MfS spioniert hätten, habe er in Tateinheit mit dem Landesverrat den Tatbestand der Bestechung erfüllt. Bezüglich der Angeschuldigten D... und Sch... bejaht das Kammergericht den hinreichenden Verdacht der geheimdienstlichen Agententätigkeit (§ 99 Abs. 1 Nr. 1 StGB), jeweils in Tateinheit (§ 52 StGB) mit Bestechung (§ 334 Abs. 1 StGB). Ihre gesamte Tätigkeit für die HVA erfülle den Tatbestand des § 99 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Soweit Sch... eine nachrichtendienstliche Tätigkeit in der Zeit vor dem 1. August 1968 vorgeworfen werde, gelte für die Strafbarkeit seines Tuns und die Anwendung des neuen Rechts das gleiche wie für Großmann. Wegen seiner Beteiligung an einem 1966 und 1967 durch eine Agentin verübten Landesverrat könne Sch... nicht mehr verfolgt werden, weil die Tat verjährt sei. D... und Sch... hätten sich jedoch durch die von ihnen zu verantwortende Zahlung von Agentenlöhnen an verschiedene Amtsträger der Bundesrepublik ebenfalls wegen Bestechung strafbar gemacht. |
Das (bundes-)deutsche Strafrecht finde gemäß § 3 StGB auf im Inland begangene Straftaten Anwendung. Zum Inland habe die DDR nach den entsprechend anwendbaren Regeln des internationalen Strafrechts nicht gehört; die Angeschuldigten seien also nur außerhalb des früheren Gebiets der Bundesrepublik Deutschland tätig geworden. Zum Tatort bestimme § 9 Abs. 1 StGB aber auch den Ort, an dem ein zum Tatbestand gehörender Erfolg eingetreten sei. Bei der vom Tatbestand des Landesverrats (§ 94 Abs. 1 StGB) vorausgesetzten Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland handele es sich um einen tatbestandlichen Erfolg im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB. Mithin habe sich der Tatort insoweit auch in der Bundesrepublik Deutschland befunden. Das gleiche gelte gemäß § 9 Abs. 2 StGB für Teilnahmehandlungen Großmanns an dem von einem seiner Agenten in der Bundesrepublik begangenen Landesverrat. Für den Tatbestand der geheimdienstlichen Agententätigkeit (§ 99 StGB) sei das (bundes-)deutsche Strafrecht nach § 5 Nr. 4 StGB unabhängig vom Tatort maßgeblich. Diese Rechtslage bestehe gemäß Art. 315 Abs. 4 EGStGB nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland fort.
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c) Das Kammergericht sieht sich dennoch daran gehindert, die Eröffnung des Hauptverfahrens zu beschließen sowie die beantragten Haftanordnungen zu erlassen, weil es Art. 315 Abs. 4 EGStGB für unvereinbar mit höherrangigem Recht hält.
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aa) Nicht die Strafbarkeit, wohl aber die durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland tatsächlich erst ermöglichte Strafverfolgung der Angeschuldigten stehe nicht in Einklang mit Art. 3 Abs. 1 GG. Nach dem Strafrecht der DDR hätten sich auch Mitarbeiter und Agenten der Geheimdienste der Bundesrepublik Deutschland, soweit sie die Ausspähung der DDR betrieben, strafbar gemacht. Die Aufhebung dieser Strafvorschriften durch den Einigungsvertrag und das Inkrafttreten des Strafgesetzbuchs der Bundesrepublik Deutschland im Beitrittsgebiet hätten dazu geführt, daß die gegen die Bundesrepublik ausgeübten nachrichtendienstlichen Tätigkeiten strafbar blieben, während die Angehörigen und Agenten der Aufklärungsdienste der Bundesrepublik straffrei geworden seien. Schon dies stelle eine Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG dar. Sie lasse sich durch die in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (NJW 1991, S. 929 [932]) angeführten Gründe nicht rechtfertigen. Die nachrichtendienstliche Tätigkeit der Angeschuldigten habe sich nach dem Ergebnis der Ermittlungen nicht von der anderer Geheimdienste unterschieden. Der Einigungsvertrag habe einseitig nur die Mitarbeiter der Geheimdienste der Bundesrepublik straflos gestellt. Das Fehlen einer gleichartigen Vorschrift zugunsten der von der DDR ausgeübten Spionage bedeute indessen nicht, daß sich der Gesetzgeber bewußt für die Strafverfolgung entschieden habe; vielmehr sei davon auszugehen, daß eine entsprechende vertragliche Regelung ausgeklammert worden sei. Die so entstandene formale Rechtslage sei mit dem in Art. 3 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden Gerechtigkeitsgedanken unvereinbar. Mit den Unterdrückungsmaßnahmen des Inlandsapparats des MfS gegen die Bevölkerung der DDR könnten die Angeschuldigten als Mitglieder der HVA nicht in Verbindung gebracht werden. Die Ermittlungen hätten nicht ergeben, daß sie in Bereiche eingebunden gewesen seien, in denen es zu Menschenrechtsverletzungen oder ähnlichen schwerwiegenden Straftaten gekommen sei, oder daß sie durch die Weitergabe von Erkenntnissen an den Inlandsapparat des MfS dessen Unterdrückungsmaßnahmen strafrechtlich zu verantworten hätten. |
bb) Die Angeschuldigten, die ihre Lebensgrundlage in der DDR gehabt und von dort aus ihre nachrichtendienstlichen Tätigkeiten entfaltet hätten, ohne den Boden der Bundesrepublik zu betreten, seien erst durch die Eingliederung des Gebiets der DDR in die Bundesrepublik dem Zugriff durch deren Strafverfolgungsorgane ausgesetzt worden. Vorher hätten sie den Schutz der DDR genossen. Der Wegfall dieses Schutzes habe sie ohne ihr Zutun einer Rechtsposition entkleidet. Unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes sei dieser Fall einer unechten Rückwirkung ähnlich, für die verfassungsrechtliche Schranken zu beachten seien. Die eingetretene Veränderung beruhe nicht nur auf einer Änderung tatsächlicher Verhältnisse, sondern auch auf einer Entscheidung des Gesetzgebers, der dem Einigungsvertrag zugestimmt habe. Sie sei so einschneidend, daß sich die Angeschuldigten während ihrer nachrichtendienstlichen Tätigkeit darauf nicht hätten einstellen können und müssen. Ihre Strafverfolgung lasse sich nicht mit der Erwägung rechtfertigen, daß ein erhebliches Interesse daran bestehe, Aufklärung über Art und Umfang der DDR-Spionage, auch im Blick auf die an andere Staaten des Warschauer Paktes weitergegebenen Erkenntnisse, zu erlangen. Zur Wahrung dieses - berechtigten - Interesses sei ein Strafverfahren wegen des Schweigerechts der Angeschuldigten, von dem sie weitgehend Gebrauch gemacht hätten, ungeeignet. Das Vertrauen der Angeschuldigten in die Fortdauer der bis zum 3. Oktober 1990 gegebenen Lage müsse deshalb den Vorrang genießen. |
cc) Art. 315 Abs. 4 EGStGB verstoße danach insoweit gegen Art. 3 Abs. 1 GG, als er die Möglichkeit der Strafverfolgung wegen Landesverrats und geheimdienstlicher Agententätigkeit gegen solche Personen beibehalte, die ihre Tätigkeit vom Boden der DDR aus entfaltet haben und im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Einheit Deutschlands am 3. Oktober 1990 ihre Lebensgrundlage in der ehemaligen DDR hatten. Gleiches gelte für die Verfolgung wegen Bestechung, wenn diese im Rahmen der Spionagetätigkeit begangen worden sei.
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dd) Auf die Verfassungsmäßigkeit des Art. 315 Abs. 4 EGStGB komme es danach für die Entscheidung sowohl über die Eröffnung des Hauptverfahrens als auch über die Haftanträge des Generalbundesanwalts an. Sei eine Strafverfolgung der Angeschuldigten von Verfassungs wegen unzulässig, so fehle es an dem notwendigen Tatverdacht.
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ee) Auch nach der entsprechend anzuwendenden völkerrechtlichen Vorschrift des Art. 31 HLKO müßten die Angeschuldigten Straffreiheit genießen. Die Vorschrift gelte zwar ihrem Wortlaut nach nur für den Kriegsfall. Ihr sei jedoch ein übergeordneter Gedanke zu entnehmen, der auch für den friedlichen und vertraglichen Beitritt eines Staates zu einem anderen Geltung beanspruche. Dem zu seinem Heer zurückgekehrten Spion werde persönliche Straffreiheit ohne Rücksicht darauf zugebilligt, ob er später im Zuge von Kampfhandlungen oder ohne diese in die Gefangenschaft des Feindes gerate. Die Regelung erfasse daher den Fall, daß sich der Spion ohne sein Zutun in einem anderen staatlichen Hoheitsverhältnis wiederfinde und nunmehr dem Zugriff eines anderen Staates ausgesetzt sei. In einer solchen Lage befänden sich auch die Angeschuldigten nach Herstellung der deutschen Einheit. Es sei deshalb beabsichtigt, die Angeschuldigten in entsprechender Anwendung des Art. 31 HLKO von Verfolgung freizustellen. |
2. Die Verfassungsbeschwerde 2 BvR 2601/93
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a) Der Beschwerdeführer zu II. 1. wurde durch Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 23. Dezember 1991 wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit (§ 99 Abs. 1 Nr. 1 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Außerdem erkannte das Gericht dem Beschwerdeführer für die Dauer von zwei Jahren die Fähigkeit ab, öffentliche Ämter zu bekleiden und Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, sowie das Recht, in öffentlichen Angelegenheiten zu wählen oder zu stimmen.
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aa) Nach den Urteilsfeststellungen war der im Gebiet der DDR geborene und aufgewachsene Beschwerdeführer bis zum 30. September 1990 Offizier, zuletzt im Rang eines Oberstleutnants, der Verwaltung für strategische Agenturaufklärung (VA) der Nationalen Volksarmee (NVA). Als Mitglied der für die Ausspähung des Bundesministeriums der Verteidigung in Bonn zuständigen Abteilung führte er seit 1969 eine Agentengruppe, bestehend aus zwei miteinander befreundeten, in Bonn wohnhaften Bürgern der Bundesrepublik Deutschland mit den Arbeitsnamen "Asriel" und "Aurikel". "Asriel" war bereits etwa 1968 angeworben und der Füh rung des Beschwerdeführers unterstellt worden und hatte 1969 seinen Freund dem militärischen Nachrichtendienst der DDR zugeführt. |
"Aurikel" bewarb sich im Auftrag seiner Führungsstelle um eine Einstellung als Angestellter im Bundesministerium der Verteidigung (BMV) und wurde dort ab 1. Dezember 1970 als Hilfssachbearbeiter im Geschäftszimmer des Planungsstabes verwendet. Der Planungsstab ist unmittelbar dem Bundesminister der Verteidigung unterstellt und arbeitet ihm als staatspolitisches Büro zu. Zu den vorrangigen Aufgaben der Mitarbeiter des zentralen Geschäftszimmers gehörte neben der Bearbeitung des Posteingangs und der Führung und Ablage der aus den Reden des Ministers und der Staatssekretäre sowie den Leitungsvorlagen bestehenden Akten die Überprüfung der Verschlußsachen anhand der zweimal im Jahr erstellten Resteliste über die im Stab vorhandenen Verschlußsachen. "Aurikel" war vorrangig mit Registraturarbeit befaßt. Er war vom 10. Mai 1971 bis zum 11. Juli 1988 zum Umgang mit Verschlußsachen (VS) bis zum Geheimhaltungsgrad "Streng geheim/NATO secret/US-Top Secret", später hinsichtlich der US-Geheimhaltungsstufe nur noch bis "US-Secret", ermächtigt. Außerdem wirkte "Aurikel" bei der Erstellung der in unregelmäßigen Zeitabständen von der Bundesregierung herausgegebenen Weißbücher zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung der Bundeswehr mit. Am 22. August 1989 verstarb "Aurikel".
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Während seiner Beschäftigungszeit im BMV verschaffte sich "Aurikel" eine Vielzahl von Informationen und Unterlagen aus seinem Dienstbereich. "Asriel" hielt den Kontakt zur Führungsstelle und leitete das von "Aurikel" beschaffte Verratsmaterial an den Beschwerdeführer weiter. Zu diesem Zweck wurde spätestens seit 1974 ein in der DDR wohnhafter Mitarbeiter des militärischen Nachrichtendienstes als Kurier und Instrukteur eingesetzt, der den internen Arbeitsnamen "Akropolis" führte.
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Der Beschwerdeführer traf "Asriel" und "Aurikel" regelmäßig anläßlich von Führungstreffs, die in Ostberlin, Schweden, Österreich, Italien, Ungarn und in der Schweiz stattfanden.
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Das von "Asriel" und "Aurikel" gelieferte Material betraf u.a. die Streitkräfteplanung der Bundeswehr und der NATO, Studien über die Einführung neuer Waffensysteme, etwa des neuesten NATO-Gewehrs und der Panzerung von Kraftwagen, sowie Planungsunterlagen über Manöver und Stabsrahmenübungen wie Wintex/Cimex nebst den dazu gehörenden Auswertungen, deutschlandpolitische Konzeptionen der Bundesregierung, Ausarbeitungen für internationale Konferenzen und Rüstungsfragen (KSZE, MBFR, SALT II, SDI, INF), sicherheitspolitische Lagebeurteilungen und Grundsatzfragen der Allianzpolitik. Das Verratsmaterial wurde von der Führungsstelle an die Informationsabteilung weitergeleitet und dort ausgewertet. Dabei wurden von dieser Abteilung die aus allen Agenturverbindungen gewonnenen wesentlichen nachrichtendienstlichen Erkenntnisse zu regelmäßigen Berichten zusammengefaßt und an einen Verbindungsoffizier des Sowjetischen Militärischen Nachrichtendienstes (GRU) und an die übrigen Geheimdienste der Warschauer Paktstaaten weitergegeben. Insgesamt nahmen die Informationen von "Asriel" und "Aurikel" in der Führungsstelle einen hohen Rang ein. Beide Agenten wurden für ihre Tätigkeit entlohnt. "Asriel" erhielt insgesamt mindestens 70.000,- DM. |
Er wurde gemeinsam mit dem Beschwerdeführer als dessen Mittäter ebenfalls wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Außerdem wurde zu seinen Lasten der Verfall eines Geldbetrags von 70.000,- DM angeordnet und ihm die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden und Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, sowie das Recht, in öffentlichen Angelegenheiten zu wählen oder zu stimmen, für die Dauer von vier Jahren aberkannt.
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bb) Das Oberlandesgericht wertete das Verhalten des Beschwerdeführers als gemeinschaftlich begangene geheimdienstliche Agententätigkeit im Sinne des § 99 Abs. 1 StGB. Zwar habe der Beschwerdeführer seine Tatbeiträge außerhalb der Bundesrepublik in der DDR und im Ausland erbracht; er müsse sich aber die in der Bundesrepublik begangenen Verratshandlungen seiner Mittäter zurechnen lassen. Er sei deshalb nicht nur gemäß § 5 Nr. 4 StGB, sondern auch nach § 3 StGB bundesdeutschem Strafrecht unterworfen und nach § 99 StGB als der sowohl zur Tatzeit als auch im Zeitpunkt der Verurteilung maßgeblichen Vorschrift zu verurteilen. Durch den im Einigungsvertrag geregelten Beitritt der DDR zur Bundesrepublik sei in der Strafbarkeit und Verfolgbarkeit des dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Verhaltens keine Änderung eingetreten, wie sich den Bestimmungen des Einigungsvertrages und auch des Art. 315 Abs. 4 EGStGB entnehmen lasse. Insoweit hätten die vertragschließenden Staaten und der Gesetzgeber eine bewußte Entscheidung getroffen, die nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere nicht gegen das Völkerrecht oder gegen Grundrechte verstoße. |
cc) Zur Strafzumessung hat das Oberlandesgericht ausgeführt, die Tat des Beschwerdeführers beziehe ihr Gewicht aus den Tatbeiträgen seiner Mittäter, die er sich zurechnen lassen müsse. Er habe für seinen Dienst gute und wertvolle Arbeit geleistet und über einen überdurchschnittlich langen Zeitraum gegen die Bundesrepublik gearbeitet und maßgebend an der Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik mitgewirkt. Auf der anderen Seite ließen gewichtige Umstände die Schuld des Beschwerdeführers in milderem Licht erscheinen. In diesem Zusammenhang hebt das Oberlandesgericht hervor, der Beschwerdeführer habe die Jahre, die für die Ausprägung der Persönlichkeit eines Menschen und für sein Weltbild von entscheidender Bedeutung seien, in einem Staatsgebilde verbracht, das sich als Feind der Bundesrepublik gefühlt und planmäßig alles unternommen habe, um der hinter Mauer und Stacheldraht weitgehend isolierten Bevölkerung ein entsprechendes Feindbild zu verschaffen, und zwar auch und in erster Linie den Angehörigen ihrer Streitkräfte. Es sei nicht auszuschließen, daß der Beschwerdeführer, der als Mitarbeiter eines Geheimdienstes über eine gefestigte positive Einstellung zum sozialistischen Staat und zur gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR verfügt haben müsse, unter dem Einfluß ständiger Indoktrination von der Notwendigkeit einer Spionage gegen den westlichen Gegner überzeugt gewesen sei und seine Mitarbeit nicht nur als staatsbürgerliche, sondern vor allem als soldatische Pflicht verstanden habe. In seinem damaligen Staat sei eine solche Tätigkeit nicht nur nicht strafbar, sondern erwünscht und ehrenvoll gewesen, so daß er keine Hemmschwelle habe überwinden müssen. Zur Bundesrepublik habe er keine gefühlsmäßigen Bindungen gehabt; sie sei nicht seine Heimat gewesen. Eine strafrechtliche Verfolgung habe er nicht befürchten müssen, solange er sich weisungsgemäß vom Territorium der Bundesrepublik ferngehalten habe. Eine Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands, deren Verhinderung im Interesse des SED-Regimes gelegen habe, sei nicht zu erwarten gewesen. Unter diesen Umständen sei ihm der Entschluß, für seinen Staat und gegen die Bundesrepublik zu arbeiten, nicht schwergefallen. Dem sich hieraus ergebenden vergleichsweise geringen Schuldgrad des Beschwerdeführers sei bei der Strafzumessung angemessen Rechnung zu tragen. |
Die Vollstreckung der danach zu verhängenden Strafe könne gemäß § 56 Abs. 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt werden. Der Beschwerdeführer sei nicht vorbestraft und lebe in geordneten Verhältnissen. Die Nachrichtendienste der DDR seien aufgelöst, so daß keine Wiederholungsgefahr bestehe. Es könne deshalb erwartet werden, daß der Beschwerdeführer sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lasse und künftig keine Straftaten mehr begehen werde. Besondere Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB seien in der zuvor aufgezeigten besonderen Situation zu sehen, in der der Beschwerdeführer sich bei Beginn und Durchführung seiner nachrichtendienstlichen Tätigkeit befunden habe. Diese lasse es als vertretbar erscheinen, ihm das Einleben in den nunmehr einheitlichen deutschen Staatsverband durch eine Strafaussetzung zu erleichtern.
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b) Die Revision des Beschwerdeführers wurde durch Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 24. September 1993 als unbegründet unter Hinweis darauf verworfen, daß der Strafsenat die verfassungsrechtlichen Fragen bereits in seinem Urteil vom 30. Juli 1993 - 3 StR 347/92 - entschieden habe.
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c) Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die vorgenannten Entscheidungen des Oberlandesge richts und des Bundesgerichtshofs. Er rügt einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Gegen die DDR eingesetzte Spione der Bundesrepublik Deutschland würden wegen der Aufhebung des Strafgesetzbuchs der DDR im Einigungsvertrag nicht strafrechtlich belangt. Demgegenüber seien Bürger der DDR wegen der gegen die Bundesrepublik ausgeübten nachrichtendienstlichen Tätigkeit nach dem Einigungsvertrag strafbar geblieben, obwohl sich die Tätigkeit der Geheimdienste beider Staaten nicht voneinander unterschieden habe. Eine unterschiedliche politische Bewertung der Staaten, denen die Nachrichtenorganisationen gedient hätten, vermöge ebensowenig wie die unterschiedlichen Ziele, die die beiderseitigen Geheimdienste verfolgt hätten, die ungleiche Behandlung zu begründen. Die Differenzierung lasse sich auch nicht damit rechtfertigen, daß die operativ tätigen Bediensteten der DDR-Spionagedienste dafür mitverantwortlich seien, daß von ihnen angeworbene Bürger der Bundesrepublik Deutschland auch nach der Wiedervereinigung der Strafverfolgung ausgesetzt seien und langjährige Freiheitsstrafen verbüßen müßten. |
Außerdem verstoße seine Verurteilung sowie die Aberkennung seiner bürgerlichen Ehrenrechte gegen seine Rechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 33 Abs. 2 und 3 sowie Art. 38 Abs. 2 GG, weil der Strafausspruch gegen zwingende Normen des Völkerrechts verstoße. Zu seinen Gunsten sei im Wege eines "Erst-recht-Schlusses" Art. 31 HLKO anzuwenden, weil er im Frieden Militärspionage für die NVA betrieben habe. Schließlich sei auch Art. 103 Abs. 2 GG verletzt, weil das Strafrecht der Bundesrepublik, nach dem er verurteilt worden sei, zur Tatzeit in der DDR nicht gegolten habe. Zumindest liege in der Anwendung dieses Strafrechts eine unzulässige unechte Rückwirkung.
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3. Die Verfassungsbeschwerde 2 BvR 1206/91
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a) Der Beschwerdeführer zu II. 2. wurde durch Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 28. Februar 1991 wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt.
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aa) Nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts wurde der im Gebiet der ehemaligen DDR geborene und aufgewachsene Be schwerdeführer bereits während seines Studiums zum "Diplom-Wirtschaftler" von der HVA angeworben und für einen Einsatz als Agentenwerber in der Bundesrepublik Deutschland ausgebildet. Im Frühjahr 1987 reiste er unter dem Namen und mit gefälschten Papieren eines österreichischen Staatsangehörigen in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er hatte den Auftrag, einen Bediensteten des Auswärtigen Amtes in Bonn als Agenten anzuwerben. Trotz seiner Bemühungen gelang es ihm nicht, in nähere Beziehungen zu dieser Person zu treten. |
Ende des Jahres 1987 erhielt er den Auftrag, Kontakte zu Mitarbeitern der amerikanischen Streitkräfte in Heidelberg herzustellen. Im Frühjahr 1988 lernte er in einer Gaststätte einen amerikanischen Staatsangehörigen kennen, der als Zivilangestellter bei den amerikanischen Streitkräften beschäftigt war. Im Mai 1989 machte er diesem den Vorschlag, durch Informationen über die amerikanischen Streitkräfte zusätzlich Geld zu verdienen. Der Zivilangestellte unterrichtete hiervon unverzüglich den amerikanischen Sicherheitsdienst und fand sich in dessen Einvernehmen zum Schein zu einer Zusammenarbeit bereit. Im Zeitraum vom 8. Juni 1989 bis 26. März 1990 kam es zwischen dem Beschwerdeführer und dem Zivilangestellten zu insgesamt zehn Zusammenkünften. Dabei händigte der Zivilangestellte dem Beschwerdeführer - teils als "secret" gekennzeichnete - Dokumente aus, die ihm von dem Sicherheitsdienst übergeben worden waren und bei denen es sich in Wirklichkeit um Scheinmaterial handelte. Im Gegenzug leistete der Beschwerdeführer an den Zivilangestellten Zahlungen in Höhe von insgesamt mehr als 25.000,- DM.
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Im Jahre 1989 versuchte der Beschwerdeführer vergeblich, in Heidelberg zwei US-Amerikaner - einen Studenten sowie dessen Freund, der bei einer Abwehreinheit der amerikanischen Marine in Italien stationiert war - anzuwerben.
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bb) Das Oberlandesgericht sah in diesem Verhalten eine geheimdienstliche Agententätigkeit nach § 99 Abs. 1 Nr. 1 StGB in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 Nr. 4 des Vierten Strafrechtsänderungsgesetzes. Die vom Beschwerdeführer ausgeübte geheimdienstliche Agententätigkeit habe sich gegen die Bundesrepublik Deutschland (Fall des Bediensteten des Auswärtigen Amtes), gegen in der Bundesrepublik Deutschland stationierte Truppen eines NATO-Vertragsstaates (Fall des Zivilangestellten) und gegen einen NATO-Vertragsstaat (Fall des Studenten und seines Freundes) gerichtet. Der Beitritt der DDR wirke sich nicht auf die Strafbarkeit der auf dem damaligen Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland begangenen geheimdienstlichen Agententätigkeit aus. |
Bei der Strafzumessung berücksichtigte das Oberlandesgericht zugunsten des Beschwerdeführers, daß er nicht vorbestraft sei und aus der Überzeugung gehandelt habe, einen Beitrag zur Stärkung und Erhaltung seines Staates und zur Friedenssicherung zu leisten. Dagegen seien Dauer und Intensität der nachrichtendienstlichen Tätigkeit strafschärfend ins Gewicht gefallen. Im Rahmen schuldangemessener Bestrafung sei ferner der Gedanke der Generalprävention berücksichtigt worden, um mögliche andere Agenten von einer Tätigkeit zum Nachteil der Bundesrepublik Deutschland und der NATO-Vertragsstaaten wirksam abzuschrecken.
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b) Die von dem Beschwerdeführer gegen dieses Urteil eingelegte Revision wurde durch Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 3. Juli 1991 nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
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c) Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die vorgenannten Entscheidungen des Oberlandesgerichts und des Bundesgerichtshofs. Er rügt, ebenso wie der Beschwerdeführer zu II. 1., einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Außerdem sei Art. 31 HLKO als allgemeine Regel des Völkerrechts gemäß Art. 25 GG zu seinen Gunsten analog anzuwenden.
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4. Die Verfassungsbeschwerde 2 BvR 1584/91
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a) Der Beschwerdeführer zu II. 3. wurde durch Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz vom 5. Februar 1991 wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit in Tateinheit mit Bestechlichkeit (§ 332 Abs. 1 StGB) und Verletzung des Dienstgeheimnisses (§ 353b Abs. 1 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt.
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aa) Nach den Urteilsfeststellungen trat der in der Bundesrepublik aufgewachsene Beschwerdeführer nach Ablegung der beiden juristischen Staatsprüfungen 1973 als Beamter in den Geschäftsbe reich des Bundesministers des Innern ein. Er wurde in der Grenzschutzdirektion Koblenz eingesetzt. Im Jahre 1974 wurde er zum Regierungsrat ernannt, im Jahre 1976 zum Oberregierungsrat und im Jahre 1982 zum Regierungsdirektor befördert. Bis zu seiner Festnahme am 10. April 1990 war er in der Grenzschutzdirektion ausschließlich dem Dezernat I "Grenzpolizeiwesen" zugewiesen, zunächst als Hilfsdezernent und ab dem Jahre 1979 als Dezernatsleiter. Seit 1973 war er zum Umgang mit Verschlußsachen der Geheimhaltungsstufe "VS-Vertraulich" und "Geheim" ermächtigt. |
Im Jahre 1962 reiste der Beschwerdeführer, der sich zum sozialistischen Gedankengut hingezogen fühlte, in die DDR, um dort den "real existierenden Sozialismus" kennenzulernen. Durch die Vermittlung eines Redakteurs der Zeitschrift "Junge Welt" kam er im Jahre 1963 mit Angehörigen der HVA in Kontakt. Bei früherer Gelegenheit hatte er den Wunsch nach einer Übersiedlung in die DDR geäußert, um als Journalist aktiv beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft mitwirken zu können. Die Mitarbeiter der HVA beglückwünschten ihn zu diesem Vorhaben, meinten aber, daß er für eine andere, äußerst ehrenvolle Aufgabe bestimmt sei. Er solle "an vorderster Front" in der Bundesrepublik Deutschland geheimdienstlich tätig werden und könne auf diese Weise seinen Einsatz für den Sozialismus unter Beweis stellen. Der Beschwerdeführer erklärte sich hiermit einverstanden und ließ sich ab dem Jahre 1963 nachrichtendienstlich schulen.
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In der Folgezeit berichtete er als Student und Referendar dem MfS aus seinem Umfeld. Nach seiner Einstellung bei der Grenzschutzdirektion Koblenz wurde ihm eröffnet, daß er im MfS im Range eines Majors geführt werde. Seit 1973 fanden zwischen ihm und Angehörigen der HVA vielfach Zusammenkünfte im In- und Ausland statt, die der Übergabe von Material sowie der Festigung der Zusammenarbeit dienten. Im Jahre 1983 wurde ihm in Athen bei einer Feier aus Anlaß seiner 20jährigen Mitarbeit seine Beförderung zum Oberstleutnant mitgeteilt.
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Zu dem Verratsmaterial, das der Beschwerdeführer dem MfS seit dem Dienstantritt bei der Grenzschutzdirektion Koblenz verschaffte, gehörten zahlreiche Ablichtungen von Verschlußsachen. Unter anderem übergab er dem MfS Unterlagen über das Aufgabengebiet der Grenzschutzdirektion, Richtlinien über die Grenzkontrolle, den aus dem deutschen Fahndungsbuch auf Microfiches übertragenen Gesamtbestand der Fahndung und Sachinformationen über die Regelung von Amtshilfeersuchen des Bundesnachrichtendienstes und der Verfassungsschutzbehörden, ferner Informationen über die Organisation der Bekämpfung von Illegalen, Erkenntnisse über den fälschungssicheren Personalausweis sowie unvollständige Unterlagen zum zivilen Alarmplan. In einem Zeitraum von 16 Jahren stellte er seinen Instrukteuren bei 80 Treffen insgesamt mindestens 5.500 DIN-A-4-Seiten aus dem Bereich der Grenzschutzdirektion in Form von belichteten Filmen zur Verfügung. Für seine Agententätigkeit erhielt er finanzielle Zuwendungen in Höhe von insgesamt mindestens 60.000,- DM. |
bb) Das Oberlandesgericht beurteilte das Verhalten des Beschwerdeführers als besonders schweren Fall des § 99 Abs. 1 Nr. 1 StGB: Das Regelbeispiel des § 99 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB sei gegeben, weil der Beschwerdeführer von einer amtlichen Stelle geheimgehaltene Tatsachen mitgeteilt und dabei als Angehöriger des höheren Dienstes eine verantwortliche Stellung mißbraucht habe. Darüber hinaus seien die Voraussetzungen eines unbenannten besonders schweren Falles nach § 99 Abs. 2 Satz 2 StGB erfüllt; die Agententätigkeit des Beschwerdeführers rage nach Dauer, Verratsumfang und Wertigkeit des Verratsmaterials aus dem Durchschnitt der erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle in einem solchen Maße heraus, daß die Anwendung des höheren Strafrahmens des § 99 Abs. 2 StGB geboten erscheine. Außerdem sei er der Bestechlichkeit (§ 332 StGB) und der Verletzung des Dienstgeheimnisses (§ 353b Abs. 1 StGB) schuldig. Die von ihm begangenen Taten stünden im Verhältnis der Tateinheit.
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Bei den Strafzumessungserwägungen sei zu berücksichtigen, daß der Beschwerdeführer im Laufe seiner rund 25jährigen Agententätigkeit trotz wiederholter Anlässe nie den ernsthaften Versuch unternommen habe, sich aus seiner geheimdienstlichen Verstrickung zu lösen. Vielmehr habe er sich im Laufe der Jahre zu einem Spion in herausgehobener Stellung entwickelt. In den durch seine Schuld gesetzten Grenzen sei auch dem Strafzweck der Generalprävention Rechnung zu tragen. Dieser Erwägung stehe der Beitritt der DDR nicht entgegen, weil auch in Zukunft Straftaten zum Schaden des eigenen Staates und zum Vorteil fremder Nachrichtendienste möglich seien. |
Sein umfassendes Geständnis sei als gewichtigster Milderungsgrund zu bewerten. Ihm sei auch zugute zu halten, daß er als junger Mensch in die geheimdienstliche Verstrickung geraten sei und nicht aus Geldgier gehandelt habe. Allerdings könne seine ideologische Überzeugung eine mildere Bestrafung nicht rechtfertigen. Die einem Überzeugungstäter möglicherweise und einem Gewissenstäter in aller Regel zu gewährende Vergünstigung könne er nicht für sich in Anspruch nehmen.
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b) Gegen dieses Urteil legte der Beschwerdeführer Revision ein, mit der er neben einer fehlerhaften Beurteilung der Konkurrenzverhältnisse der ihm zur Last gelegten Straftaten den Strafausspruch beanstandete. Unter anderem rügte er, das Oberlandesgericht habe die sich aus der Vereinigung Deutschlands zu seinen Gunsten ergebenden Bewertungsumstände bei der Strafzumessung nicht beachtet. Zwar könnten sich Bürger der Bundesrepublik Deutschland, die für die DDR einer Agententätigkeit nachgegangen seien, nicht mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG darauf berufen, ebenso wie Bürger der DDR, die im Interesse der Bundesrepublik Deutschland eine Agententätigkeit ausgeübt hätten, gänzlich von Strafverfolgung freigestellt zu werden. Indessen sei für diese unterschiedliche Behandlung bei der Strafzumessung ein angemessener Ausgleich zu gewähren.
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Durch Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 18. September 1991 wurde die Revision des Beschwerdeführers nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
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c) Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen die vorgenannten Entscheidungen des Oberlandesgerichts und des Bundesgerichtshofs. Er rügt, es stelle einen mit Art. 3 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes nicht zu vereinbarenden Wertungswiderspruch dar, als Agenten des MfS tätig gewordene Bürger der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor voller Bestrafung zu unterwerfen, während vom Bundesnachrichtendienst als Agenten angeworbene Bürger der DDR mit der Vereinigung Deutschlands Straffreiheit erlangt hätten. Diese Ungleichbehandlung müsse jedenfalls im Bereich der Strafzumessung durch eine nachdrückliche Strafmilderung ausgeglichen werden. Mit dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland habe sich deren Identität als Staat und völkerrechtliches Rechtssubjekt nicht geändert. In ihrem "inneren Gehalt" habe sie jedoch durch die Wiedervereinigung eine grundlegende quantitative wie qualitative Änderung erfahren. Die dem Gleichheitssatz und dem Rechtsstaatsprinzip verpflichtete Rechtsprechung der wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland müsse dieser veränderten Sach- und Rechtslage Rechnung tragen. |
III. |
Zu den Verfahren haben das Bundesministerium der Justiz namens der Bundesregierung, der Thüringer Ministerpräsident und die Angeschuldigten des Verfahrens vor dem Kammergericht Stellung genommen. Das Bundesministerium der Justiz hat ferner einen Zwischenbericht des Generalbundesanwalts über die strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Spionage mit Aktenmaterial vorgelegt.
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1. Das Bundesministerium der Justiz hält die Vorlage und die Verfassungsbeschwerden für nicht begründet.
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Gegenstand der Vorlage sei die Frage, ob die §§ 94, 99 StGB in Verbindung mit §§ 3, 5 und 9 StGB mit dem Grundgesetz vereinbar seien, soweit sie Personen mit Strafe bedrohten, die Landesverrat oder geheimdienstliche Agententätigkeit vom Boden der ehemaligen DDR aus begangen und die im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Einheit Deutschlands am 3. Oktober 1990 ihre Lebensgrundlage in der ehemaligen DDR gehabt hätten. Der durch den Einigungsvertrag eingefügte Art. 315 Abs. 4 EGStGB begründe keine Strafbarkeit, sondern weise lediglich klarstellend auf eine nach bundesdeutschem Recht bereits gegebene Strafbarkeit hin.
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a) Die unterschiedliche Behandlung von Agenten des MfS und solchen Agenten, die im Dienst der Bundesrepublik Deutschland gestanden hätten, folge mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG aus der grundsätzlich verschiedenen Zielrichtung der Aufklärungsdienste. Während die Nachrichtendienste der Bundesrepublik Deutschland zu deren Schutz tätig seien, habe die gegen die Bundesrepublik gerichtete Aufklärungstätigkeit der DDR die Bundesrepublik gefährdet. Die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und ihr politischer Freiraum seien durch das Grundgesetz legitimierte Schutzgüter, nicht aber die inzwischen untergegangene DDR. Die Gleichsetzung der für beide Staaten tätigen Geheimdienste beruhe auf einer vordergründigen Betrachtung der Handlungen von Agenten, beachte aber die verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen nicht. Eine Gleichsetzung sei auch im Tatsächlichen verfehlt. Das MfS habe die Funktionen eines DDR-internen Sicherheitsdienstes mit denen eines Aufklärungsdienstes vereinigt. Die Aufgabe der HVA habe - wie näher dargelegt wird - in der Unterwanderung, Aufklärung und letztlich Beeinflussung des gesellschaftlichen Systems der Bundesrepublik Deutschland bestanden. |
Durch die Auflösung des MfS seien die allgemeinen Strafzwecke nicht entfallen. So verlange der Gesichtspunkt der generellen Prävention gegenüber Spionageaktivitäten gegen die Bundesrepublik Deutschland weiter Beachtung. Insbesondere könne die fortbestehende Strafbarkeit für bisher nicht entdeckte Agenten den Anstoß geben, sich im Blick auf § 153e StPO zu offenbaren. Es sei Sache des Gesetzgebers, zwischen dem fortbestehenden Interesse an einer Strafverfolgung und den für ein Straffreiheitsgesetz sprechenden Gesichtspunkten abzuwägen.
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Eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Amnestiegewährung bestehe nicht, weil ein legitimes Strafbedürfnis fortbestehe. Sie folge auch nicht aus dem Wiedervereinigungsgebot, selbst wenn man dieses zu einem verfassungsrechtlichen Integrationsgebot weiter entwickle. Die integrative Kraft einer Amnestie sei jedenfalls zur Zeit sehr fraglich, wie das Scheitern früherer Amnestiebestrebungen zeige. Die Aufrechterhaltung der Strafbarkeit für MfS-Agenten verstoße auch nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Die Handlungen der Täter seien nach bundesdeutschem Strafrecht zur Tatzeit strafbar gewesen. Aus dem rechtsstaatlich verbürgten Vertrauensschutz und dem Gesichtspunkt einer nachwirkenden dienstrechtlichen Fürsorge- und Schutzpflicht für Bedienstete der DDR ergebe sich ebenfalls kein Hindernis für eine Bestrafung. Nachwirkende dienstrechtliche Fürsorge- und Schutzpflichten für ehemalige Agenten des MfS bestünden nicht. |
b) Eine allgemeine Regel des Völkerrechts (Art. 25 GG), die einer Bestrafung vom Gebiet der ehemaligen DDR aus begangener nachrichtendienstlicher Tätigkeiten entgegenstehe, existiere nicht.
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Art. 31 HLKO und der dieser Bestimmung entsprechende Art. 46 Abs. 4 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler Konflikte (Protokoll I) diene dem Schutz von Kombattanten. Art. 31 HLKO sei nicht auf Spionage in Friedenszeiten anwendbar. Im Kriegsvölkerrecht würden häufig Sonderregelungen getroffen, die wegen ihrer speziellen Ausrichtung auf Gegebenheiten des Krieges nicht auf den Friedensfall übertragen werden könnten. Ein Analogieschluß oder gar ein Erst-Recht-Schluß vom Kriegs- auf das Friedensvölkerrecht sei im Zusammenhang mit Art. 31 HLKO nicht möglich.
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Art. 15 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) und Art. 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantierten das Verbot rückwirkender Strafnormen. Die Täter hätten sich noch in der Zeit der Existenz der DDR nach dem auf sie anwendbaren bundesdeutschen Strafrecht strafbar gemacht. Art. 15 IPbürgR und Art. 7 EMRK forderten nicht, daß die Strafbarkeit aus dem Recht des Tatorts folgen müsse.
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2. Auch nach Auffassung des Thüringer Ministerpräsidenten stehen der strafrechtlichen Verfolgung von Mitarbeitern der HVA weder verfassungsrechtliche noch völkerrechtliche Schranken entgegen. Die Begründung entspricht im wesentlichen der Stellungnahme des Bundesministeriums der Justiz.
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3. Die Angeschuldigten Großmann, D... und Sch... treten der Ansicht des Kammergerichts bei, die gegen sie gerichtete Strafverfolgung sei mit Verfassungsrecht und Völkerrecht nicht zu vereinbaren. In Ergänzung zu der Begründung des Vorlagebeschlusses machen sie darüber hinaus geltend, Art. 103 Abs. 2 GG, Art. 11 Nr. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, Art. 7 EMRK und Art. 15 IPbürgR würden verletzt, weil sie sich nach dem für sie maßgeblichen Recht der DDR nicht strafbar gemacht hätten und sie rückwirkend dem Strafrecht der Bundesrepublik unterstellt würden. Bei den Verhandlungen über den Einigungsvertrag seien beide Seiten davon ausgegangen, daß ein Regelungsbedürfnis für ein Straffreiheitsgesetz lediglich für im Dienst des MfS stehende Agenten bestanden habe, die ihre Lebensgrundlage im Gebiet der damaligen Bundesrepublik Deutschland gehabt hätten. Demgegenüber habe Übereinstimmung darüber bestanden, daß die hauptamtlichen, in der ehemaligen DDR ansässigen Bediensteten der HVA keiner Strafverfolgung ausgesetzt seien. Insoweit werde angeregt, zum Beweis dieses Vorbringens zeugenschaftliche Erklärungen der damaligen Verhandlungsführer einzuholen. |
IV. |
Zur Vorbereitung der Entscheidung hat der Senat vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg ein Rechtsgutachten zu folgenden Fragen eingeholt:
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1. Gibt es eine allgemeine Regel des Völkerrechts (Art. 25 GG), die einer Strafverfolgung oder einer Bestrafung von Bediensteten oder Agenten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit der DDR wegen einer gegen die Bundesrepublik Deutschland oder gegen NATO-Vertragsstaaten (vgl. Art. 7 des Vierten Strafrechtsänderungsgesetzes vom 11. Juni 1957 - BGBl. I S. 597 - mit Änderungen) ausgeübten geheimdienstlichen Agententätigkeit (§ 99 StGB), wegen Landesverrats (§ 94 StGB) oder einer anderen Straftat nach dem Zweiten Abschnitt des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs entgegensteht?
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a) Ergibt sich eine solche Regel
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(1) aus einer entsprechenden Anwendung des Art. 31 HLKO?,
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(2) aus dem Grundsatz der Immunität für staatliches Handeln?,
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(4) aus einer anderen allgemeinen Regel des Völkerrechts?
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b) Macht es für die Beurteilung einen Unterschied,
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(1) ob ein Bediensteter des Ministeriums für Staatssicherheit ausschließlich auf dem Gebiet der DDR oder eines ausländischen Staates tätig geworden ist,
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(2) ob er seine Agententätigkeit (auch) auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ausgeübt hat - sei es anläßlich von Agententreffs, sei es, daß er unter einer falschen Identität seinen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland genommen und hier spioniert hat -,
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(3) ob ein Bürger der Bundesrepublik Deutschland sich für eine Agententätigkeit hat anwerben lassen und diese hier ausgeübt hat?
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c) Widersprechen die Vorschriften des § 5 Nr. 4 und des § 9 StGB, soweit sie die oben bezeichneten Straftatbestände betreffen, einer allgemeinen Regel des Völkerrechts?
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d) Aus welcher Rechtsquelle ergibt sich eine etwa einschlägige allgemeine Regel des Völkerrechts (Vertragsrecht, Gewohnheitsrecht, allgemeine Rechtsgrundsätze)?
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e) Auf welche Hilfsmittel gründet sich die Feststellung einer etwa einschlägigen völkerrechtlichen Regel? Inwieweit werden insbesondere gerichtliche Entscheidungen oder Lehrmeinungen von Völkerrechtlern der verschiedenen Nationen zugrunde gelegt (vgl. Art. 38 Abs. 1 Buchst. d IGH-Statut)?
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2. Steht eine allgemeine Regel des Völkerrechts auch einer Strafverfolgung oder einer Bestrafung wegen Bestechung (§ 334 StGB) oder wegen anderer Straftaten entgegen, die im Rahmen der Agententätigkeit begangen wurden? Kommt es dafür darauf an, ob durch diese Straftaten individuelle Rechtsgüter (z.B. Leib, Leben, Freiheit der Person, Eigentum oder Vermögen eines anderen) verletzt wurden?
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B. |
Die Vorlage des Kammergerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG ist unzulässig (I.), die Vorlage nach Art. 100 Abs. 2 GG (II.) und die Verfassungsbeschwerden sind hingegen zulässig.
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I. |
1. Die Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 GG betrifft die Verfassungsmäßigkeit des Art. 315 Abs. 4 EGStGB in der Fassung des Einigungsvertrages. Gegenstand der Normenkontrolle ist danach das Zustimmungsgesetz zu diesem Vertrag (Art. 59 Abs. 2 GG; vgl. BVerfGE 12, 281 [288]; 36, 1 [13]) - das Einigungsvertragsgesetz vom 23. September 1990 (BGBl. II S. 885) -, soweit es die Zustimmung zur Neufassung des Art. 315 Abs. 4 EGStGB enthält.
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2. Die Vorlage genügt nicht den Begründungsanforderungen des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. Das Kammergericht hat zwar hinreichend dargelegt, mit welcher übergeordneten Rechtsnorm die zur Prüfung gestellte Rechtsvorschrift unvereinbar sein soll. Das vorlegende Gericht muß aber auch begründen, inwiefern seine Entscheidung von der Gültigkeit der Vorschrift abhängt. Dazu hat das vorlegende Gericht die rechtlichen Erwägungen erschöpfend darzulegen, nach denen es für die von ihm zu treffende Entscheidung auf die Gültigkeit der gesetzlichen Vorschrift ankommt (vgl. BVerfGE 22, 175 [176 f.]; 78, 1 [5]; stRspr). Es muß sich mit der Rechtslage auseinandersetzen, die in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Auffassungen zu denkbaren Auslegungsmöglichkeiten erörtern (vgl. BVerfGE 85, 329 [333]) und gegebenenfalls auch die Entstehungsgeschichte der Norm berücksichtigen (vgl. BVerfGE 78, 201 [204]). Dem entspricht die Begründung des Vorlagebeschlusses nicht.
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a) Nach den Ausführungen zu Beginn des Abschnitts A. sowie unter A. IV. des Vorlagebeschlusses richten sich die verfassungsrechtlichen Bedenken des Kammergerichts nicht gegen die Strafbarkeit der Taten, die den Angeschuldigten des Ausgangsverfahrens zur Last gelegt werden, sondern gegen die durch die Herstellung der deutschen Einheit "tatsächlich erst ermöglichte Strafver folgung". Das Gericht sieht mithin in der zur Prüfung gestellten Vorschrift die Rechtsgrundlage für die prozessuale Verfolgbarkeit der den Angeschuldigten vorgeworfenen Taten, also für eine Verfahrensvoraussetzung. Es begründet indessen nicht, inwiefern Art. 315 Abs. 4 EGStGB die Strafverfolgung regelt, und setzt sich vor allem nicht mit naheliegenden anderen Auslegungsmöglichkeiten auseinander. |
Art. 315 EGStGB stellt eine Übergangsvorschrift dar, die angibt, welches Strafrecht auf vor dem Wirksamwerden des Beitritts in der DDR begangene Taten Anwendung findet. Sie grenzt für sogenannte "Alttaten" den zeitlichen Geltungsbereich des mit dem Wirksamwerden des Beitritts im Gebiet der ehemaligen DDR in Kraft getretenen Strafrechts der Bundesrepublik gegen den zeitlichen Anwendungsbereich des im Tatzeitpunkt geltenden, mit dem Wirksamwerden des Beitritts außer Kraft getretenen Strafrechts der DDR ab. Während die Regelung in den Absätzen 1 bis 3 des Art. 315 EGStGB dabei mit gewissen Modifikationen von den Grundsätzen des § 2 StGB - vor allem also vom Vorrang des mildesten Gesetzes (§ 2 Abs. 3 StGB) - ausgeht, bestimmt der Absatz 4 der Vorschrift, daß dies nicht gilt, soweit für eine Alttat das bundesdeutsche Strafrecht - aufgrund der Vorschriften über seinen räumlichen und persönlichen Anwendungsbereich (§§ 3 ff. StGB) - schon vor dem Wirksamwerden des Beitritts gegolten hat. Die Vorschrift ist mithin dem materiellen Strafanwendungsrecht zuzurechnen. Sie betrifft die materielle Strafbarkeit, nicht die prozessuale Verfolgbarkeit einer Tat. Davon geht auch das Kammergericht in anderem Zusammenhang aus; es führt nämlich in Abschnitt A. III. 3. und 5. der Beschlußgründe sinngemäß aus, Art. 315 Abs. 4 EGStGB bestätige das Fortbestehen der Rechtslage, nach der sich die Angeschuldigten in Anwendung des bundesdeutschen Strafrechts strafbar gemacht hätten.
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b) Auch bei einem materiell-rechtlichen Verständnis ist die Entscheidungserheblichkeit des Art. 315 Abs. 4 EGStGB nicht ausreichend dargetan.
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Die Auffassung, daß die Vorschrift für die den Angeschuldigten zur Last gelegten Taten die Maßgeblichkeit des Strafrechts der Bundesrepublik Deutschland konstitutiv anordne, hätte näherer Begründung bedurft. Diese Auslegung ergibt sich keineswegs zwingend aus dem Wortlaut des Gesetzes (vgl. Wilke, Das Kammergericht im Irrgarten des Ostwestrechts, NJW 1991, S. 2465; im Anschluß daran Gribbohm in: Leipziger Kommentar, StGB, 11. Aufl., § 2, Rn. 60a). Art. 315 EGStGB betrifft vor dem Wirksamwerden des Beitritts "in der Deutschen Demokratischen Republik begangene Taten". Abgesehen davon, daß das Kammergericht nicht zu der Frage Stellung nimmt, welche Bedeutung die Bestimmung für diejenigen Teile der geheimdienstlichen Tätigkeit hat, die die Angeschuldigten bei Agententreffen außerhalb der DDR auf dem Boden von Drittstaaten, der Angeschuldigte Sch... nach dem Inhalt der Anklageschrift auch in Köln und Berlin (West), ausgeübt haben, hätte es durch Auslegung ermitteln müssen, ob "in der Deutschen Demokratischen Republik begangene Taten" auch solche sind, die schon zur Tatzeit nur nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland strafbar waren. Würden sich nämlich die Vorschriften des Art. 315 Abs. 1 bis 3 EGStGB nur auf solche Sachverhalte beziehen, die zur Tatzeit nach dem Recht der DDR strafbar waren, das mit der deutschen Vereinigung gemäß Art. 8 EV durch das Recht der Bundesrepublik abgelöst worden ist, so wäre Art. 315 EGStGB insgesamt - also einschließlich des Absatzes 4 - für die hier strafrechtlich zu beurteilenden Sachverhalte, die auch zur Tatzeit nur nach dem Recht der Bundesrepublik strafbar waren, von vornherein bedeutungslos. Die Prüfung dieser Frage drängte sich im Hinblick auf die Regelungsmaterie geradezu auf. Angesichts einer zunächst noch fehlenden rechtswissenschaftlichen Diskussion hätte eine Auseinandersetzung mit den Vertragserläuterungen nahegelegen. |
Nach Art. 8 des Einigungsvertrages in Verbindung mit dessen Anlage I Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt III ist am 3. Oktober 1990 im Beitrittsgebiet das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland mit wenigen Ausnahmen in Kraft getreten. Aus den Erläuterungen zu den Anlagen zum Einigungsvertrag (BTDrucks. 11/7817, S. 51) ergibt sich, daß Art. 315 EGStGB notwendige Übergangsregeln, die auf den Grundsätzen des § 2 StGB beruhen, für vor dem Wirksamwerden des Beitritts in der DDR begangene, aber noch nicht abgeurteilte Straftaten enthält. Diese Grundsätze betreffen die zeitliche Abfolge verschiedener Strafgesetze, also die Frage, welches Gesetz angewendet werden soll, wenn die zur Tatzeit geltende strafrechtliche Regelung eines Verhaltens später geändert worden ist. Sie sind dagegen nicht auf den Fall zugeschnitten, daß ein Verhalten bereits zur Tatzeit unterschiedlichen strafrechtlichen Regelungen konkurrierender Rechtsordnungen unterliegt. Demgemäß erklärt Art. 315 Abs. 4 EGStGB die Absätze 1 bis 3 der Vorschrift für unanwendbar, soweit für die Tat das Strafrecht der Bundesrepublik bereits vor Wirksamwerden des Beitritts gegolten hat. Für diese Fälle soll stets das Strafrecht der Bundesrepublik maßgebend sein, auch wenn es im Vergleich zum konkurrierenden Strafrecht der DDR nicht das mildere Gesetz ist. |
Dies legt die Frage nahe, ob die in Art. 315 Abs. 1 EGStGB für anwendbar erklärten Grundsätze des § 2 StGB überhaupt den hier zu beurteilenden Sachverhalt erfassen, daß Handlungen, die auf dem Gebiet der DDR vorgenommen wurden, zur Tatzeit nur nach dem Recht der Bundesrepublik strafbar waren (und dies in der Folgezeit geblieben sind), nach dem Recht des Handlungsortes dagegen nicht mit Strafe bedroht waren. In diesem Zusammenhang hätte überdies geprüft werden müssen, ob es für die Strafbarkeit der Angeschuldigten einen Unterschied macht, daß Art. 315 Abs. 4 EGStGB vorhanden ist, ob also der Vorschrift hier ein eigenständiger Regelungsgehalt zukommt. Es läßt sich sehr wohl die Ansicht vertreten, daß der Vorschrift für die hier zu beurteilenden Sachverhalte allenfalls deklaratorische, klarstellende Bedeutung zukommt, die Rechtslage aber insoweit nicht anders wäre, wenn es die Vorschrift nicht gäbe. Eine ausreichende Erörterung dieser Fragen fehlt.
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II. |
Soweit das Kammergericht die entsprechende Anwendung des Art. 31 HLKO zur Nachprüfung stellt, ist die Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 2 GG zulässig.
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Nach dieser Vorschrift hat ein Gericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, wenn in einem Rechtsstreit zweifelhaft ist, ob eine Regel des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts ist und ob sie unmittelbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt (vgl. BVerfGE 23, 288 [315 f.]). Das ist auch der Fall, wenn Zweifel an Umfang und Tragweite einer bestehenden allgemeinen Regel des Völkerrechts auftreten (vgl. BVerfGE 15, 25 [31 ff.]; 23, 288 [319]; 64, 1 [13]). |
Das Kammergericht vertritt die Ansicht, daß dem für den Kriegsfall geltenden Art. 31 HLKO als allgemeine Regel des Völkerrechts ein übergeordneter, der Strafverfolgung der Angeschuldigten entgegenstehender Gedanke zu entnehmen sei, der über den Wortlaut der Vorschrift hinaus im Ausgangsverfahren Geltung beanspruche. Diese Auffassung über die Tragweite des Art. 31 HLKO begegnet objektiven Zweifeln. Mit seiner Rechtsmeinung setzt sich das Kammergericht in Widerspruch zur Auffassung der Bundesregierung und zu Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (vgl. etwa BGHSt 37, 305; BGH, NJW 1991, S. 2498).
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Auch die Entscheidungserheblichkeit dieser Vorlagefrage hat das Kammergericht ausreichend begründet.
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C. |
Die Vorschriften des Strafgesetzbuchs, die den mit den Verfassungsbeschwerden angegriffenen Entscheidungen zugrunde liegen, sind auch nach Herstellung der deutschen Einheit mit dem Grundgesetz insoweit vereinbar, als sie in Verbindung mit den §§ 3, 5 Nr. 4 und 9 StGB für die im Dienste der DDR betriebene Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland weiterhin eine Bestrafung vorsehen. Das gilt auch, wenn Spionagehandlungen vom Boden der DDR aus von solchen Personen begangen wurden, die Staatsbürger der DDR waren und bis zum Wirksamwerden des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland ihre Lebensgrundlage in der DDR hatten; in solchen Fällen verstößt jedoch die Strafverfolgung nach den Vorschriften über Landesverrat (§ 94 StGB) oder geheimdienstliche Agententätigkeit (§ 99 StGB), die Gegenstand der Verfassungsbeschwerden sind und Anlaß zu der Vorlage gegeben ha ben, gegen Art. 2 GG in Verbindung mit dem im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. |
I. |
Die Straftatbestände des Landesverrats (§ 94 StGB) und der geheimdienstlichen Agententätigkeit (§ 99 StGB) schränken die Freiheitsrechte des Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 GG in verfassungsrechtlich zulässiger Weise ein. Das Bundesverfassungsgericht hat in dem Beschluß vom 26. Mai 1981 den § 99 Abs. 1 Nr. 1 StGB für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt (vgl. BVerfGE 57, 250 [262 ff.]) und ist im Beschluß vom 15. April 1970 allgemein von der Verfassungsmäßigkeit der Vorgängervorschrift des § 100e StGB a.F. sowie des § 99 StGB ausgegangen (vgl. BVerfGE 28, 175 [183 ff.]). Ebenso ist das Bundesverfassungsgericht von der Vereinbarkeit des § 94 StGB mit dem Grundgesetz ausgegangen (vgl. BVerfGE 25, 69 [78 ff.]; 25, 88 [98]; 45, 363 [370 ff.]). Von dieser Rechtsprechung abzugehen, besteht kein Anlaß.
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Das gilt auch, soweit die genannten Strafvorschriften aufgrund des strafrechtlichen Schutzprinzips (§ 5 Nr. 4 StGB) oder der Vorschriften über den Tatort (§ 9 StGB) die Strafbarkeit der Spionagetätigkeit von Mitarbeitern der Geheimdienste der DDR gegen die Bundesrepublik Deutschland auch dann begründeten, wenn diese Mitarbeiter ausschließlich im Gebiet der DDR oder im Ausland handelten. Die Erstreckung der Strafbarkeit derartiger Taten, bei denen der Täter ausschließlich im Ausland gehandelt hat, verstößt weder gegen das Grundgesetz noch gegen allgemeine Regeln des Völkerrechts, die nach Art. 25 GG zu beachten wären. Vor dem Grundgesetz, insbesondere den darin verbürgten Grundrechten, legitimiert sich die Erstreckung der Strafbarkeit auf Auslandstaten dadurch, daß die §§ 93 ff. StGB dem Schutz der freiheitlich verfaßten Bundesrepublik Deutschland nach außen dienen und damit den Freiraum verbürgen sollen, der Grundrechtsgarantien überhaupt erst ermöglicht und sich entfalten läßt (vgl. BVerfGE 57, 250 [268 f.]). Abgesehen davon, daß die Bundesrepublik Deutschland gerade in der Zeit, in der die hier in Rede stehenden Taten begangen wurden, aufgrund ihrer exponierten Lage und Bedeutung im westlichen Bündnis in besonderer Weise den Operationen gegnerischer Nachrichtendienste mit all ihren Gefahren ausgesetzt war, ist es ganz allgemein angesichts der länderüberspannenden Organisationsformen moderner Geheimdienste und ihrer Ausforschungstätigkeit, die alle Angelegenheiten eines anderen Staates betrifft, gerechtfertigt, die Sicherheit des eigenen Staates umfassend auch gegen vom Ausland ausgehende Operationen fremder Geheimdienste strafrechtlich zu schützen. Bei der Verfolgung dieses legitimen Schutzzwecks gehen die genannten Strafvorschriften weder in der Abgrenzung ihrer Tatbestände noch in ihren Strafdrohungen über die durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gezogenen verfassungsrechtlichen Grenzen hinaus. |
Näherer Erörterung bedarf jedoch die Frage, ob wegen des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland eine neue verfassungsrechtliche Bewertung geboten ist, zumal für diejenigen Spionagehandlungen, die vom Boden der DDR aus durch Personen begangen wurden, die Staatsbürger der DDR waren und bis zum Wirksamwerden des Beitritts ihre Lebensgrundlage in der DDR hatten. Bei dieser Prüfung hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelung unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten zu untersuchen.
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II. |
Es verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, daß die Spionage im Dienst der ehemaligen DDR weiterhin strafbar ist, während die Strafvorschriften der DDR gegen die Mitarbeiter und Agenten des Nachrichtendienstes der Bundesrepublik durch den Einigungsvertrag aufgehoben wurden.
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Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gestattet es dem Gesetzgeber, mehrere Personengruppen ungleich zu behandeln, wenn zwischen ihnen Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen können (vgl. BVerfGE 82, 126 [146] und öfter). Solche Unterschiede bestehen zwischen Personen, die im Dienste der DDR Spionage gegen die Bundesrepublik betrieben haben, und solchen, die für einen Geheimdienst der Bundesrepublik die DDR ausgespäht haben. Sie ergeben sich aus der Eigenart der geregelten Materie als Staatsschutzrecht. |
Der Schutz der Bundesrepublik Deutschland erfordert es, geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht unter Strafe zu stellen (vgl. BVerfGE 57, 250 [262 ff.]). Dem Schutz der Bundesrepublik dient auch die Tätigkeit ihres Auslandsnachrichtendienstes. Der Staat, der diesen Dienst geschaffen hat und unterhält, kann nicht zugleich dessen Mitarbeiter und Agenten wegen ihrer dienstlichen Tätigkeit mit Strafe bedrohen. Für Mitarbeiter und Agenten des Geheimdienstes einer fremden Macht gelten diese Gesichtspunkte nicht, vor allem wenn ihre Tätigkeit gegen die Bundesrepublik gerichtet ist. Es entspricht demzufolge der Sachgesetzlichkeit des Staatsschutzrechts, daß es stets nur den eigenen Staat gegen fremde Spionage schützt und in diesen Schutz allenfalls noch gewisse Verbündete einbezieht, dagegen die dem Schutz und den Interessen des eigenen Staates dienende Tätigkeit der eigenen Geheimdienste nicht als strafbar ansieht (vgl. BGHSt 37, 305 [312 f.]).
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Diese dem Staatsschutzrecht aller Staaten immanente Sachgesetzlichkeit stellt auch nach der deutschen Vereinigung einen hinreichenden Differenzierungsgrund vor Art. 3 Abs. 1 GG dar. Die Aufhebung der Vorschriften des DDR-Strafrechts für Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes entspricht der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Andererseits hat durch den Beitritt die in der Vergangenheit für die DDR betriebene Spionage ihren Charakter als gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete, sie schädigende oder doch gefährdende Tätigkeit nicht geändert. Dies rechtfertigt nach wie vor die unterschiedliche strafrechtliche Regelung.
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III. |
Es läßt sich nicht feststellen, daß die Ahndung im Auftrag der ehemaligen DDR ausgeübter nachrichtendienstlicher Tätigkeiten durch die Bundesrepublik Deutschland nach der Vereinigung der beiden Teile Deutschlands gegen eine allgemeine Regel des Völkerrechts und damit gegen Art. 25 GG verstößt. Dies ergibt sich, gestützt auf das Gutachten des Max-Planck-Instituts, aus folgenden Gründen:
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1. Die DDR war im Sinne des Völkerrechts ein Staat und als solcher Völkerrechtssubjekt. Diese Feststellung gilt unabhängig von einer völkerrechtlichen Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik Deutschland (vgl. BVerfGE 36, 1 [22]). Unbeschadet der Frage, ob zwischen den beiden deutschen Staaten besondere staatsrechtliche Beziehungen bestanden haben, können für die Beurteilung der hier vorliegenden Sachverhalte die allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG herangezogen werden (vgl. BVerfGE 36, 1 [23 f.]). Diese Regeln müssen auf einer allgemeinen, gefestigten Übung der Staaten beruhen, der die Rechtsüberzeugung zugrunde liegt, daß dieses Verhalten Rechtens sei (vgl. BVerfGE 66, 39 [64 f.]; 68, 1 [83]).
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2. Die bereits vor der Vereinigung der beiden Teile Deutschlands geltenden und danach fortbestehenden Strafbestimmungen der Bundesrepublik Deutschland über Landesverrat, geheimdienstliche Agententätigkeit und damit in Zusammenhang stehende Straftaten sowie über deren räumlichen Geltungsbereich widersprechen nicht den allgemeinen Regeln des Völkerrechts. Diese Regeln stehen auch nach Herstellung der deutschen Einheit der Strafbarkeit von Mitarbeitern und Agenten der Nachrichtendienste der DDR wegen ihrer früheren Spionagetätigkeit nicht entgegen.
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a) Grundsätzlich sind die Staaten von Völkerrechts wegen in der Gestaltung ihres Strafrechts frei. Die völkerrechtlich anerkannte und abgesicherte Gebietshoheit behält es jedem Staat vor, auf seinem Hoheitsgebiet Rechtsgüterschutz gegen Inlandstaten zu gewähren, indem er den Rechtsbruch strafrechtlich ahndet (Territorialitätsprinzip; vgl. Knut Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl., 1990, § 38 Rn. 2). Darüber hinaus räumt das völkerrechtlich allgemein anerkannte Schutzprinzip den Staaten die Befugnis ein, im Ausland von In- oder Ausländern begangene Delikte zu bestrafen, welche die Existenz oder andere wichtige Rechtsgüter des Staates bedrohen (vgl. BGH, NJW 1991, S. 2498 f.; Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl., 1983, Rn. 111; Schuster, ZaöRV Bd. 51 [1991], S. 651 [653 f.]; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., 1984, §§ 1183 f.; Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, 2. Aufl., 1989, Bd. I/1, S. 322; Jescheck, "Strafrecht, Internationales", in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Dritter Band, 1962, S. 396 [397]; Langkau, Völker- und landesrechtliche Probleme der Kriegs- und Friedensspionage - unter besonderer Berücksichtigung der Ausspähung aus dem Luft-, See- und Weltraum -, 1970, S. 289; Wengler, Völkerrecht Bd. II, 1964, S. 938 Fußn. 2, S. 939 Fußn. 1, S. 941 Fußn. 1; Herrmann, Die Anwendbarkeit des politischen Strafrechts auf Deutsche im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, 1959, S. 93; Eser in: Schönke/Schröder, StGB, 24. Aufl., 1991, Vorbem. §§ 3 bis 7, Rn. 3; Oxman, "Jurisdiction of States", in: Bernhardt [ed.], Encyclopedia of Public International Law, Inst. 10, 1987, S. 277 [280]). Das gilt insbesondere für die vom Ausland aus betriebene Friedensspionage. Für diese läßt sich daher dem Völkerrecht auch kein allgemeiner Rechtfertigungsgrund zugunsten der Spione entnehmen. |
b) Es besteht keine allgemeine Regel des Völkerrechts, nach der sich Spione, die von dem von der Spionage betroffenen Staat strafrechtlich verfolgt werden, auf die Grundsätze der Staaten-Immunität berufen könnten (zusammenfassend Steinberger, State Immunity, in: Bernhardt [ed.], Encyclopedia of Public International Law, Inst. 10, 1987, S. 428 ff.). Eine Ausnahme gilt nur, wenn sie als Diplomaten den Schutz der Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen vom 18. April 1961 (Art. 29 ff.) oder über konsularische Beziehungen vom 24. April 1963 (Art. 41 ff.) oder besonderer Übereinkommen genießen.
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c) Die "Act of State"-Doktrin ist, soweit erkennbar, bisher in keinem Falle auf Spionageaktivitäten angewandt worden. Sie be schränkt sich typischerweise auf Enteignungen, die nicht von fremden Gerichten überprüft werden sollen. Außerdem kann sie nicht als allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG angesehen werden, da sie außerhalb des angloamerikanischen Rechtskreises nicht als solche anerkannt ist (vgl. Fonteyne, "Acts of State", in: Bernhardt [ed.], Encyclopedia of Public International Law, Vol. I, 1992, S. 17 [19]; Verdross/Simma, a.a.O., S. 775 f.). |
d) Es besteht auch keine allgemeine Regel des Völkerrechts, wie ein Staat, nachdem ihm ein anderer Staat beigetreten ist, mit Personen verfahren kann, die Straftaten des Landesverrats oder der geheimdienstlichen Agententätigkeit - und im Zusammenhang damit unter Umständen auch weitere Straftaten - der Bestechung zugunsten des beigetretenen Staates begangen haben.
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aa) Das völkerrechtliche Sukzessionsrecht enthält keine allgemeine Regel, die im Falle des friedlichen und vereinbarten Beitritts eines Staates zu einem anderen den fortbestehenden Staat verpflichtete, Spione, die für den beitretenden Staat gegen ihn tätig waren, straflos zu stellen (vgl. BGHSt 37, 305 [311 f.]). Die Feststellungen, die das Max-Planck-Institut in seinem Gutachten über die Praxis der Staaten bei friedlichen Vereinigungen, Beitritten und Gebietsabtretungen - von der Vereinigung Englands und Schottlands im Jahre 1707 an bis hin zu der Vereinigung der beiden Jemen im Jahre 1990 - trifft, lassen erkennen, daß die Staaten keine allgemeine, gefestigte Übung begründet, sondern unterschiedliche, jeweils auf den Einzelfall abgestimmte Regelungen getroffen haben. Solche Regelungen enthielt auch der anläßlich des Beitritts des Saarlandes zur Bundesrepublik Deutschland abgeschlossene deutsch-französische Saarvertrag vom 27. Oktober 1956 (vgl. Art. 2 des Vertrages in Verbindung mit dessen Anlage 1 - BGBl. II S. 1589 [1593, 1639 ff.] und § 1 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes über die Eingliederung des Saarlandes vom 23. Dezember 1956 - BGBl. I S. 1011).
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bb) Das Fehlen einer allgemeinen Staatenpraxis steht auch der Annahme entgegen, Art. 31 HLKO sei im Fall einer friedlichen und im Wege eines Vertrages vereinbarten Staatenverbindung analog anzuwenden.
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Die Haager Landkriegsordnung ist Sonderrecht des Krieges und kodifiziert die bis 1904/5 gewohnheitsrechtlich entwickelten Kriegsgebräuche (vgl. Schneider, Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Erster Band, 1960, S. 739 ff.). Das Bundesverfassungsgericht hat nicht allgemein darüber zu entscheiden, ob und inwieweit eine analoge Anwendung dieser Vorschriften auf die Friedensspionage möglich ist. Es hat nur darüber zu befinden, ob es eine allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG gibt, die eine solche analoge Anwendung zu ihrem Inhalt hat. Das setzte voraus, daß die analoge Anwendung des Art. 31 HLKO einer durch die Staatenpraxis bestätigten allgemeinen Rechtsüberzeugung der Staaten entspräche. Dafür gibt es keinen Beleg; auch das Kammergericht und die Beteiligten der Ausgangsverfahren zeigen einen solchen nicht auf. |
cc) Das für die Bundesrepublik Deutschland aus Art. 15 IPbürgR und Art. 7 EMRK begründete Verbot rückwirkender Strafgesetze geht in seinen Anforderungen nicht über Art. 103 Abs. 2 GG hinaus. Diesen völkerrechtlichen Vorschriften läßt sich insbesondere nicht entnehmen, daß die Strafbarkeit zur Tatzeit durch das Recht des Handlungsortes bestimmt sein müsse. Diese Auslegung verbietet sich wegen der allgemeinen völkerrechtlichen Anerkennung des Schutzprinzips, das es den Staaten erlaubt, Auslandstaten mit Strafe zu bedrohen, auch wenn die Tat nach dem Recht des Handlungsortes nicht strafbar ist. Auch die DDR hat sich durch Art. 15 IPbürgR nicht gehindert gesehen, gegen sie gerichtete Auslandstaten, die am Handlungsort nicht strafbar waren, mit Strafe zu bedrohen (vgl. § 80 in Verbindung mit §§ 97 ff. StGB/DDR).
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IV. |
Das in Art. 103 Abs. 2 GG verankerte Verbot rückwirkender Strafgesetze (vgl. BVerfGE 63, 343 [357]) ist nicht dadurch verletzt, daß die Strafbarkeit der Spionage im Dienst der ehemaligen DDR durch das zur Tatzeit geltende Recht der Bundesrepublik Deutschland bestimmt wird.
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Art. 103 Abs. 2 GG enthält verfassungsrechtliche Gewährleistungen für das Strafrecht unter dem Grundgesetz. Dieses bezeichnet die Grenzen der Strafgewalt der Bundesrepublik Deutschland. Ob die Strafbarkeit einer Tat gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde, ist darum in erster Linie aufgrund des Strafrechts der Bundesrepublik Deutschland zu beurteilen. Das gilt auch für die Fälle, in denen dieses Strafrecht im Hinblick auf denselben Sachverhalt mit anderen Rechtsordnungen konkurriert (vgl. Eser in: Schönke/Schröder, StGB, 24. Aufl., 1991, Vorbem. §§ 3 bis 7, Rn. 90). Art. 103 Abs. 2 GG ist danach nicht verletzt, wenn die fremde Rechtsordnung eine dem konkurrierenden Recht der Bundesrepublik Deutschland entsprechende Strafvorschrift nicht enthält oder das nach dem Recht der Bundesrepublik strafbare Verhalten sogar ausdrücklich rechtfertigt. Auch soweit sich der Anwendungsbereich des Strafrechts der Bundesrepublik Deutschland auf Sachverhalte erstreckt, die hinsichtlich des Tatorts, des Täters oder des Verletzten internationale Bezüge aufweisen, ist die Beachtung des Verbots rückwirkender Strafgesetze grundsätzlich auf der Grundlage des innerstaatlichen Rechts zu beurteilen. |
Den räumlichen Anwendungsbereich der Vorschriften über Landesverrat und geheimdienstliche Agententätigkeit bestimmen - soweit hier von Interesse - die §§ 3, 5 Nr. 4 und 9 StGB. Diese Bestimmungen sind Teil des sachlichen Strafrechts. Sie geben an, ob ein Sachverhalt, der zwischenstaatliche Bezüge aufweist, der innerstaatlichen Strafgewalt unterliegt; sie betreffen nicht die verfahrensrechtliche Frage, auf welches Gebiet sich die Strafgerichtsbarkeit der Bundesrepublik erstreckt (vgl. BGHSt 20, 22 [25]). Die genannten Bestimmungen waren bereits vor dem 3. Oktober 1990 zu den hier in Betracht kommenden Tatzeiten in Kraft. Danach war nicht nur der aus der DDR eingereiste Agent, der in der Bundesrepublik seine geheimdienstliche Tätigkeit entfaltete, gemäß § 3 StGB nach dem Recht der Bundesrepublik strafbar. Auch die Mitarbeiter der Geheimdienste der DDR, die vom Gebiet der DDR oder eines anderen Staates aus die Spionage gegen die Bundesrepublik betrieben, unterlagen, wenn etwa beim Landesverrat (§ 94 StGB) der tatbestandliche Erfolg ihres Handelns in der Bundesrepublik eintrat oder wenn sie Teilnehmer einer Spionagetat waren, die ein anderer in der Bundesrepublik beging, nach § 9 StGB, im übrigen bei Straftaten nach den §§ 94 und 99 StGB unabhängig vom Tatort gemäß § 5 Nr. 4 StGB dem materiellen Strafrecht der Bundesrepublik. |
An dieser Rechtslage hat sich durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland nichts geändert. Die oben bezeichneten strafrechtlichen Vorschriften sind aus diesem Anlaß nicht aufgehoben oder verändert worden. Daß sie nunmehr auch von Gerichten, die im Gebiet der früheren DDR liegen, anzuwenden sind und die Strafverfolgung der in diesem Gebiet lebenden Täter nach dem Wirksamwerden des Beitritts möglich wurde, ist nicht eine Folge rückwirkenden Inkrafttretens des materiellen Strafrechts der Bundesrepublik im Gebiet der DDR - dieses Recht galt, wie dargelegt, für die hier in Rede stehenden Taten schon zur Tatzeit -, sondern der durch den Beitritt und den Einigungsvertrag bewirkten Erstreckung der Jurisdiktion der Bundesrepublik Deutschland auf das Gebiet der früheren DDR.
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V. |
Die Wirkungen dieser Erstreckung der Jurisdiktion der Bundesrepublik Deutschland sind am Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 Satz 1 GG) zu messen. Dabei kann offen bleiben, ob die Erstreckung der Jurisdiktion auf das Gebiet der DDR sich für die davon Betroffenen als ein Fall tatbestandlicher Rückanknüpfung (vgl. BVerfGE 72, 200 [242]) begreifen läßt. Diese wäre zwar grundsätzlich zulässig (vgl. BVerfGE 30, 392 [402]; stRspr), stieße jedoch - je nach dem Gewicht der gegenläufigen schutzwürdigen Interessen - auf durch Abwägung zu ermittelnde Grenzen (vgl. etwa BVerfGE 76, 256 [356]; 78, 249 [284]), die sich letztlich aus dem - verfassungsrechtlich ebenfalls im Rechtsstaatsprinzip verankerten - Grundsatz der Verhältnismäßigkeit herleiten. Dieser Grundsatz wird aber in jedem Fall verletzt, wenn in der mit der Überwindung der deutschen Teilung entstandenen einzigartigen Situation der auf die Tatbestände der §§ 94, 99 StGB gegründete Strafanspruch gegenüber Bürgern der DDR durchgesetzt wird, die im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Einheit Deutschlands vom 3. Oktober 1990 ihren Lebensmittelpunkt in der ehemaligen DDR hatten und allein vom Boden der DDR oder solcher Staaten aus gehandelt haben, in denen sie wegen dieser Taten sowohl vor Auslieferung als auch vor Bestrafung sicher waren. Für solche Personen besteht deshalb ein unmittelbar verfassungsrechtlich begründetes Verfolgungshindernis. Ein solches Hindernis ist unabhängig von der Möglichkeit einer Amnestierung durch Gesetz geltendes Recht; seine Prüfung und Anwendung wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß ein in die gleiche Richtung weisendes Amnestievorhaben des Gesetzgebers nicht verwirklicht worden ist. |
1. Staatliches Strafen ist auf mehreren Ebenen der aus dem Rechtsstaatsprinzip geforderten Verhältnismäßigkeitsprüfung unterworfen: Auf der Normebene die Strafbewehrung als solche und das angedrohte Strafmaß, auf der Ebene des Straferkenntnisses die Zumessung der Strafe nach dem Maß der Schuld und der Strafbedürftigkeit. Auch die dazwischenliegende Entscheidung über die Strafverfolgung ist einer solchen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen.
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Die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Strafverfolgung im Hinblick auf die Erreichung des Strafzwecks ergibt sich allerdings grundsätzlich daraus, daß ein Straftatbestand seinen Zweck nur erfüllen kann, wenn er auch durchgesetzt wird. Eigene Bedeutung kommt indes der Prüfung der dritten Stufe der Verhältnismäßigkeit zu, der sogenannten Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn. Wie vom Senat in anderem Zusammenhang ausgeführt, hat diese dritte Stufe gerade den Sinn, die als geeignet und erforderlich erkannten Maßnahmen einer gegenläufigen Kontrolle im Blick darauf zu unterwerfen, ob die eingesetzten Mittel der Strafverfolgung und Bestrafung unter Berücksichtigung der davon ausgehenden Grundrechtsbeschränkungen für den Betroffenen noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem dadurch erreichbaren Rechtsgüterschutz stehen. Dies kann dazu führen, daß unter Umständen der an sich in legitimer Weise angestrebte Schutz zurückstehen muß, wenn das eingesetzte Mittel zu einer unangemessenen Beeinträchtigung der Rechte des Betroffenen führen würde (vgl. BVerfGE 90, 145 [185]).
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Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinne verlangt eine Abwägung zwischen Gemeinwohlbelangen, zu deren Wahrnehmung es erforderlich ist, in Grundrechte einzugreifen, und den Auswirkungen auf die Rechtsgüter der davon Betroffenen. Die Gewichtung der miteinander in Verbindung zu setzenden und abzuwägenden widerstreitenden Interessen macht es erforderlich, die für das jeweilige Interesse erheblichen Bedingungen und Auswirkungen der Eingriffsregelung in ihrem Zusammenwirken zu würdigen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne enthält als solcher aber keine inhaltlichen Aussagen darüber, welche Auswirkungen und Bedingungen eines staatlichen Eingriffs in die Abwägung einzubeziehen sind und wann ein Mittel verhältnismäßig ist und wann nicht (vgl. Ress in: Rechtsstaat in der Bewährung, Band 15, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Europäischen Rechtsordnungen, 1985, S. 5 [21 f.]; Hanack, Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 11. Aufl., 1992, § 62 Rn. 8). Insoweit bedarf es einer wertenden verfassungsrechtlichen Entscheidung im jeweiligen Einzelfall. Das gilt auch für staatliche Eingriffe im Bereich des Strafrechts. Soweit es um die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer Strafandrohung oder der Höhe einer Strafe geht, deckt sich zwar der insoweit maßgebliche Schuldgrundsatz, der verlangt, daß die einen Täter treffenden Folgen einer strafbaren Handlung zur Schwere der Rechtsgutverletzung und des individuellen Verschuldens in einem gerechten Verhältnis stehen, in seinen die Strafe begrenzenden Auswirkungen mit dem Verfassungsgrundsatz des Übermaßverbotes (vgl. BVerfGE 50, 205 [215]). Hingegen müssen bei anderen strafrechtlichen Maßnahmen andere Bedingungen in die Beurteilung einbezogen werden (vgl. etwa § 62 StGB, § 121 Abs. 1 StPO; vgl. auch Dreher/Tröndle, Kommentar zum StGB, 47. Aufl., 1995, § 62 Rn. 1). Das gilt zumal, wenn ein bestimmtes Ereignis, wie die im Zuge der Wiedervereinigung entstandene singuläre staats- und strafrechtliche Situation, die ohne Vorbild ist und sich so nicht wiederholen kann, die Frage aufwirft, ob eine - an sich zur Durchsetzung des Strafzwecks weiterhin geeignete und erforderliche - Verfolgung bestimmter strafbarer Handlungen zu einer so starken Beeinträchtigung rechtlicher Posi tionen der davon Betroffenen führt, daß dies den durch die Strafverfolgung erreichbaren Rechtsgüterschutz deutlich überwiegt. |
Zu solchen Erwägungen der Verhältnismäßigkeit gibt der besondere Charakter von Spionagestraftaten Anlaß, soweit diese von Bürgern der ehemaligen DDR auf deren Gebiet begangen wurden, und die Bundesrepublik Strafgewalt über diese Täter nur infolge der Erstreckung ihrer Staatsgewalt auf das Gebiet der ehemaligen DDR erlangt hat. Eine Strafverfolgung dieser - in ihrer Eigenart von anderen strafbaren Delikten abgegrenzten - Spionagetaten kann zu Bedingungen führen, die - in ihrem Zusammenwirken - für die Betroffenen so schwer wiegen, daß demgegenüber das Interesse der Bundesrepublik an der Verfolgung der gegen sie gerichteten Spionagetaten zurücktreten muß.
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2. a) Die Strafbarkeit der Spionage weist eine Eigentümlichkeit auf, die sie von anderen strafbaren Delikten unterscheidet (vgl. Doehring, Spionage im Friedensvölkerrecht, in: Bundesamt für Verfassungsschutz [Herausgeber], Verfassungsschutz in der Demokratie, 1990, S. 307 ff. [308, 311]; Schünemann, Strafrechtliche Verantwortlichkeit für die DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung, in: Lampe [Herausgeber], Deutsche Wiedervereinigung, Band II, 1993, S. 173 ff. [189]; Loos/Radtke, MfS-Offiziere als [Mit-]Täter des Landesverrats [§ 94 StGB]?, Strafverteidiger 1994, S. 565 [571]; Ignor/Müller, Spionage und Recht, Strafverteidiger 1991, S. 573 [574]). Es ist das Besondere der Spionage, daß das Völkerrecht sie einerseits nicht verbietet, ihre Bestrafung durch den ausspionierten Staat aber andererseits selbst dann zuläßt, wenn der Spion ausschließlich außerhalb dieses Staates gehandelt hat. Auch wird Spionage für eine Macht, die letztlich andere unterdrücken will, völkerrechtlich nicht anders bewertet als Spionage für eine Macht, deren Zwecke in der Wahrung freiheitlicher Rechtsstaatlichkeit zu sehen sind (vgl. Doehring a.a.O. S. 311). In nahezu allen Staaten der Welt - so auch in der Bundesrepublik Deutschland und in der ehemaligen DDR - wird Spionage nur insoweit als strafbares Unrecht geahndet, als sie sich gegen den eigenen oder auch gegen einen verbündeten Staat richtet. Für sich selbst sehen die Staaten hingegen Spionage als ein legitimes Mittel zur Erlangung von Erkenntnissen für die Lagebeurteilung und die Entscheidungsfindung im politischen Bereich (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, BTDrucks. 11/7871, S. 6). Dabei nehmen sie in Kauf, daß der Spion im fremden Staat mit Strafe bedroht ist. Voraussetzung für die Tätigkeit des Spions ist deshalb, daß der eigene Staat ihn vor Strafverfolgung im Ausland schützt: Spione werden nicht an den fremden Staat ausgeliefert; ist ein Spion im Ausland gefaßt worden, wird häufig versucht, ihn gegen einen Spion des anderen Staates auszutauschen. |
Im allgemeinen ahndet der Staat mit dem Strafrecht Handlungen, die einem ethischen Minimum widersprechen. Spionagehandlungen sind demgegenüber rechtlich ambivalent (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, BTDrucks. 11/7871, S. 6): Dem aufklärenden Staat nützen sie; für ihn stellen sie eine erlaubte Tätigkeit dar, ohne daß er an dieser Bewertung durch allgemeine, international anerkannte Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit oder der Menschenrechte gehindert wird. Dem ausgespähten Staat schadet die Spionage; für ihn ist sie strafbares Unrecht. Da er selbst Spionage betreibt, rechtfertigt sich sein Strafanspruch gegenüber ausländischen Spionen nicht aus einem allgemeinen sozial-ethischen Unwerturteil über die Spionagehandlungen als solche, sondern allein aus dem - freilich sozialethisch nicht indifferenten - Schutz des eigenen Staates (vgl. Ignor/Müller a.a.O.; Loos/Radtke a.a.O.).
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b) Diese Eigentümlichkeit haftet auch der Spionage an, die von der ehemaligen DDR gegen die Bundesrepublik Deutschland und ihre Verbündeten betrieben wurde.
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Auch dort war Spionage nur mit Strafe bedroht, wenn sie zum Nachteil des eigenen oder eines verbündeten Staates begangen wurde (§§ 97 bis 100, 108 des Strafgesetzbuches der DDR in der Fassung vom 14. Dezember 1988, GBl. 1989, S. 33). Die Angehörigen der Geheimdienste der DDR hatten - wie die Geheimdienste aller Staaten der Welt - eine nach dem Recht ihres Staates erlaubte und von ihm sogar verlangte Tätigkeit ausgeübt (BGH Ermittlungsrichter, Beschluß vom 30. Januar 1991, NJW 1991, S. 929 [932]). Der Senat verschließt sich dabei nicht der Tatsache, daß die Spionage der DDR - ähnlich der der anderen Ostblockstaaten - im beson deren Maße aggressiv betrieben wurde und auch auf die Destabilisierung der Ordnung der Bundesrepublik zielte. Daraus folgt indes in bezug auf die hier allein zu beurteilenden Tatbestände der §§ 94, 99 StGB nicht ein Unterschied gegenüber sonst staatenüblicher geheimdienstlicher Tätigkeit. Andere aus Anlaß der oder im Zusammenhang mit der Spionagetätigkeit verwirklichte eigenständige Straftatbestände bleiben unberührt. |
3. Stellt sich Spionage für den Staat, in dessen Interesse sie betrieben wird, als eine rechtmäßige, nützliche und zu schützende Tätigkeit dar, so kann diese - auch der Tätigkeit der DDR-Spione anhaftende - Eigentümlichkeit im Prozeß der Wiedervereinigung, in dessen Verlauf im Gebiet der ehemaligen DDR die Staatsgewalt von der Bundesrepublik Deutschland übernommen wurde, bei den Tätern, die vom Gebiet der DDR aus gehandelt haben, nicht übergangen werden. Zwar waren die dort zuvor gegen die Bundesrepublik Deutschland oder deren Verbündete begangenen Spionagestraftaten nach den im Einklang mit dem Grundgesetz stehenden §§ 94, 99 i.V.m. §§ 9, 5 Nr. 4 StGB von Anfang an strafbares Unrecht; dabei ist es auch geblieben. Wohl aber führen der Untergang der DDR - und damit auch der Wegfall des ihren Spionen gewährten Schutzes - bei gleichzeitiger Ablösung ihrer Rechtsordnung durch die der Bundesrepublik Deutschland und die damit erst möglich gewordene strafrechtliche Verfolgung zu einer besonderen Beeinträchtigung des Täterkreises, der seine Spionagetätigkeit zugunsten der DDR allein von deren Boden aus betrieben und den Bereich der Schutzmächtigkeit dieses Staates nicht verlassen hat. Der einmalige staatsrechtliche Vorgang der Wiedervereinigung hat gleichzeitig auf der anderen Seite die Strafdrohung der DDR für die gegen sie von der Bundesrepublik Deutschland betriebene Spionage entfallen lassen. Mit der Vereinigung der beiden wechselseitig Spionage betreibenden und erleidenden deutschen Staaten tritt die den Spionagestraftatbeständen latent innewohnende, ihren Unrechtsgehalt charakterisierende Eigentümlichkeit zu Tage und fordert Konsequenzen.
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a) Spione der DDR waren, solange sie sich in deren Staatsgebiet aufhielten, vor der Verfolgung durch Organe der Strafrechtspflege der Bundesrepublik Deutschland sicher. Dort war die Verfolgung nicht nur, wie etwa bei einem sich versteckt haltenden Täter, tatsächlich, sondern auch rechtlich gehindert. Im Vertrag vom 21. Dezember 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (BGBl. II 1973, S. 421) sind die Vertragsteile übereingekommen, von dem Grundsatz auszugehen, daß die Hoheitsgewalt jedes der beiden Staaten sich auf sein Staatsgebiet beschränkt. Auch respektierten sie die Unabhängigkeit und Selbständigkeit jedes der beiden Staaten in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten (Art. 6 des Vertrages). Danach war es den Strafverfolgungsorganen der Bundesrepublik Deutschland verwehrt, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR tätig zu werden. |
Auch konnten Personen, die im Interesse der DDR Spionage betrieben haben, als Bürger der DDR nicht nur gemäß Art. 33 Abs. 2 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974 (GBl. I S. 432), sondern auch nach der Staatspraxis der DDR vor Auslieferung sicher sein. Auch ein Spion, der nicht Bürger der DDR war und deshalb nicht unter dem Schutz des Art. 33 Abs. 2 der Verfassung stand, wurde nicht ausgeliefert. Die DDR hat insoweit die staatenübliche Verpflichtung anerkannt, eine durch eigene Aktivität in eine Spionagetätigkeit verstrickte Person vor der Strafgewalt fremder Staaten zu schützen.
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b) Hiernach konnten Mitarbeiter der gegen die Bundesrepublik und ihre Verbündeten tätigen Geheimdienste der DDR, deren Tätigkeitsbereich ausschließlich in deren Hoheitsgebiet lag, sowohl ihr Verhalten als auch die Einschätzung der ihnen daraus drohenden Gefahr, in die Strafgewalt des gegnerischen Staates zu geraten, entscheidend daran ausrichten, daß ihr Staat ihre Tätigkeit - in Übereinstimmung mit der Völkerrechtsordnung - rechtfertigte, sie förderte und belohnte und alles daransetzen würde, sie vor einer Bestrafung durch den ausspionierten Staat zu schützen. Konnten sie sich vor strafrechtlicher Verfolgung sicher fühlen, so verloren bei ihnen wegen des Fehlens einer Verfolgungsgefahr die Straftatbestände der §§ 94, 99 i.V.m. §§ 9, 5 Nr. 4 StGB weitgehend ihre verhaltenssteuernde Kraft - anders als bei Agenten, die im Staatsgebiet des gegnerischen Staates unter Verletzung seiner Hoheitsgewalt tätig wurden, sich dort durch Täuschung tarnen mußten und ständig der Gefahr ausgesetzt waren, ergriffen zu werden. Finden sich mithin Täter, die ihr Verhalten und die Einschätzung des ihnen daraus erwachsenden Risikos ganz an der - nach dem Völkerrecht nicht verbotenen und in vielen Staaten der Welt so bewerteten - Rechtfertigung durch den eigenen Staat ausgerichtet hatten, infolge der Vereinigung ohne ihr Zutun als Bürger des Staates wieder, gegen den ihre nach dem Recht ihres Staates rechtmäßige und schutzwürdige Tätigkeit gerichtet war, so werden sie durch eine Strafverfolgung, die ihnen gegenüber nur möglich wird, weil die Strafgewalt der Bundesrepublik auf das Gebiet ihres bisherigen Lebensmittelpunktes erstreckt wird, in besonderem Maße betroffen. |
Der offenkundige, in der Eigenart von Spionagetaten begründete Wertungskonflikt zwischen den beiden Rechtsordnungen des ausspähenden und ausgespähten Staates verwirklicht sich für diese Täter als Wertungswiderspruch. Obwohl sie sich im eigenen Land aufgehalten und nur dort betätigt und damit einen Sachverhalt erfüllt haben, bei dem - trotz Strafbarkeit gemäß §§ 94, 99 i.V.m. §§ 9, 5 Nr. 4 StGB - für Bewertung und Folgen ihres Verhaltens nur die eine rechtliche Seite der Spionagetätigkeit (Recht im eigenen Staat) zum Tragen kommen konnte, werden sie nunmehr Bürger eines Staates, der nur noch die andere rechtliche Seite der Spionagetätigkeit (Unrecht im fremden ausgespähten Staat) gelten läßt. Dieser Staat, der nunmehr auch ihr eigener ist, handelt weiter als für sie "fremde Macht", wenn er seine materiellen Spionagestraftatbestände auf die von ihnen vor der Vereinigung verwirklichten Handlungen anwendet. Eine solchermaßen gespaltene rechtliche Behandlung erfahren im Gesamtstaat auch nur die Spione des untergegangenen Staates, nicht aber die Agenten, die gegen diesen tätig wurden. Für letztere gibt es den im Zeitpunkt ihres Handelns "fremden" Staat nicht mehr; sie werden uneingeschränkt als Bürger des eigenen Staates behandelt. Den Spionen, die nur im für sie eigenen, untergegangenen Staat gehandelt haben, wird hingegen eine vergleichbare Behandlung versagt. Das verleiht der Strafverfolgung dieses Täterkreises eine besondere Schärfe. |
Die Strafverfolgung der so betroffenen DDR-Spione ist auch darum unangemessen, weil es der Gestaltung der staatlichen Einheit entgegenwirkt, wenn die Staatsgewalt des vereinten Deutschland gegenüber jenen Personen, die zuvor für die DDR tätig waren, den Anspruch auf Bestrafung wegen der gegen die Bundesrepublik noch als "fremden" Staat gerichteten Spionage wie vor der Vereinigung durchsetzen will. Anders dagegen ist eine Strafverfolgung zu bewerten, die zwar auch erst durch die staats- und strafrechtliche Situation der Wiedervereinigung möglich geworden ist, die aber Bürger wegen strafbarer Handlungen zur Verantwortung zieht, die ihren Unrechtsgehalt nicht allein aus dem Schutz des strafenden Staates und seiner Verbündeten herleiten, sondern aus einem allgemeinen sozialethischen Unwerturteil.
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c) Die Gründe, die in der durch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten entstandenen besonderen Situation eine weitere Strafverfolgung der hier zu beurteilenden Gruppe von Tätern als unangemessen erscheinen lassen, müssen sich gegenüber dem Interesse an einer Verwirklichung des bestehenden Strafanspruchs durchsetzen.
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Diese Gründe werden nicht durch den Hinweis auf einen außerhalb nachweisbarer Straftatbestände liegenden zusätzlichen "Stasi- Unwert" der DDR-Spionage ausgeräumt. Ebensowenig kommt hier dem Einwand ein erhebliches Gewicht zu, wonach gerade die Gruppe der für die Organisation der Geheimdienste der DDR verantwortlichen Täter besondere Schuld auf sich geladen habe, weil ihr vorzuwerfen sei, daß durch ihr Handeln andere Personen in strafbares Unrecht verstrickt wurden. Jede Organisation geheimdienstlicher Tätigkeit ist nach allgemeiner Staatenpraxis darauf angelegt, Agenten zu gewinnen, die - unter Verletzung jedenfalls der Landesverrats- und Spionagestraftatbestände im Recht des auszuspähenden Staates - gewünschte Informationen liefern und - anders als die Verantwortlichen der Geheimdienstbehörden - das Risiko der Enttarnung und Bestrafung bewußt eingehen und tragen. Der Gesichtspunkt der Verstrickung anderer in Schuld ist mithin staat lich organisierter geheimdienstlicher Tätigkeit immanent und teilt deshalb die rechtliche Ambivalenz der Spionagestraftatbestände selbst. |
Schließlich steht der Annahme eines Übergewichts der Interessen des betroffenen Täterkreises auch nicht entgegen, daß dieser der Sicherheit der Bundesrepublik einen - mit der Wiedervereinigung nicht ausgeräumten - Schaden zugefügt, daher nicht unbeträchtliche Schuld auf sich geladen hat und die Bestrafung dieser Taten damit auch heute noch nicht ungeeignet wäre, ihren Zweck zu erfüllen. Der strafrechtliche Rechtsgüterschutz, der trotz der Wiedervereinigung durch eine Strafverfolgung des betroffenen Täterkreises für die Sicherheit des Staates und seiner Institutionen noch erreichbar sein mag, wird aber deutlich überwogen von dem Gewicht aller der Bedingungen, die - wie dargestellt - in ihrem Zusammenwirken der Strafverfolgung eine besondere Schärfe verleihen. Auch diese Wertung beruht wiederum auf der Eigenart von Spionagetaten, die der Staat nur bestraft, soweit er deren Opfer ist, die er andererseits aber zu seinen Gunsten selbst organisiert. Dies hat zur Folge, daß es für den Bereich dieser Delikte nicht als geboten angesehen wird, Rechtsgüterschutz gerade durch Bestrafung konsequent zu verwirklichen. So verzichten die Staaten häufig auf Rechtsgüterschutz durch Strafverfolgung, wenn sich ihnen die Möglichkeit eröffnet, den von ihnen enttarnten Agenten, der gegen sie Spionage betrieben hat, gegen einen solchen auszutauschen, der ihnen selbst wertvolle Informationen geliefert hat.
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Der Gesetzgeber der Bundesrepublik hat dementsprechend in der Strafprozeßordnung das Legalitätsprinzip über die allgemeinen Einstellungsvorschriften (§§ 153 ff.) hinaus bei Spionagetaten durch nur für diese geltende Sonderregelungen auf breiter Front durchbrochen: Danach kann der Generalbundesanwalt von der Verfolgung absehen und in jeder Lage des Verfahrens die Klage zurücknehmen und das Verfahren einstellen, wenn dessen Durchführung die Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik Deutschland herbeiführte oder der Verfolgung sonstige überwiegende öffentliche Interessen entgegenstünden (§ 153d StPO); ferner kann im Zusammenwirken von Generalbundesanwalt und zuständigem Oberlandesgericht von Verfolgung abgesehen oder das Verfahren eingestellt werden, wenn der Täter nach der Tat, bevor ihm deren Entdeckung bekannt geworden ist, dazu beigetragen hat, eine Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder die verfassungsmäßige Ordnung abzuwenden, oder wenn er sein Spionagewissen offenbart hat (§ 153e StPO). Diese Regelungen in Verbindung mit den allgemeinen Einstellungsvorschriften (insbesondere § 153c StPO) zeigen, daß der Strafanspruch bei Spionagedelikten generell nachgiebig ist gegenüber überwiegenden, der Verfolgung entgegenstehenden öffentlichen Interessen. Ein solches Interesse ergibt sich hier aus den Anforderungen, die der Rechtsstaat an die Verhältnismäßigkeit seiner Strafverfolgung stellt. Die Sicherheit des Staates und seiner Institutionen als Gegenstand des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes bleibt davon unberührt. |
4. Aus dem Übergewicht der Gründe, die gegen eine weitere strafrechtliche Verfolgung derjenigen Personen sprechen, die als Staatsbürger der DDR Spionagestraftaten gegen die Bundesrepublik Deutschland oder deren Verbündete allein vom Boden der DDR aus begangen haben und im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Einheit Deutschlands dort ihren Lebensmittelpunkt hatten, ergibt sich unmittelbar von Verfassungs wegen ein Verfolgungshindernis. Es kommt allen Angehörigen dieser Gruppe zugute: Das Ergebnis der Abwägung des Interesses an der Verwirklichung des bestehenden Strafanspruchs mit jenen Bedingungen, die bei ihnen in gleicher Weise der Strafverfolgung in ihrem Zusammenwirken eine besondere Schärfe verleihen, trifft für jeden dieser Täter gleichermaßen zu und läßt insoweit keinen Raum mehr für eine Wertung und Gewichtung von besonderen Umständen des Einzelfalles.
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Dieselben Gründe gelten darüber hinaus für Bürger der DDR, die im Zeitpunkt der Wiedervereinigung ihren Lebensmittelpunkt in der DDR hatten, wenn sie Spionagestraftaten gegen die Bundesrepublik Deutschland nicht ausschließlich vom Boden der DDR aus, sondern auch in anderen Staaten begangen haben, in denen sie vor Strafverfolgung wegen solcher Taten aus Rechtsgründen sicher waren und diese Sicherheit auch für sie erst durch die Wiedervereini gung entfallen ist. Das trifft für die Fälle zu, in denen der jeweilige Staat Verdächtige, denen Spionagetaten gegen einen fremden Staat vorgeworfen werden, nicht an diesen ausliefert und auch nicht nach seinem eigenen Strafrecht Spionagetaten bestraft, die auf seinem Boden gegen die Bundesrepublik Deutschland begangen werden. Mußten die Täter hingegen mit ihrer Auslieferung an die Bundesrepublik Deutschland und infolgedessen auch mit ihrer Bestrafung wegen der gesamten gegen diese gerichteten Spionagetätigkeit rechnen, so treffen die Gründe, auf denen das Strafverfolgungshindernis beruht, für sie insgesamt nicht zu. Im übrigen stehen die genannten Gründe einer Strafverfolgung nur insoweit nicht entgegen, als der dritte Staat die Spionagetätigkeit dieser Personen selbst mit Strafe bedroht; wegen einer anderweitig - etwa vom Boden der DDR aus - gegen die Bundesrepublik Deutschland betriebenen Spionagetätigkeit greifen die Gründe für das Verfolgungshindernis auch bei dieser Fallkonstellation durch, weil die Täter insoweit vor Strafverfolgung sicher sein konnten. |
Die einer weiteren Strafverfolgung uneingeschränkt entgegenstehende Gewichtung der Interessen gilt so auch nicht für Bürger der DDR, die im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Spionagestraftaten gegen diese oder deren Verbündete begangen haben. Bei ihnen wirken zum einen die zuvor dargestellten Bedingungen nicht stets in gleicher Weise zusammen. Zum anderen können die von ihnen auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland - etwa innerhalb ihrer Regierungsorgane - begangenen Taten in einzelnen Fällen dem Interesse des Staates an ihrer Verfolgung ein sehr unterschiedliches Gewicht verleihen. Die Handlungen dieser Spione können - anders als die der im Staatsgebiet der DDR in deren Geheimdienstbehörden agierenden Personen - unmittelbar vom Mißbrauch der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere etwa der allen Deutschen gewährleisteten Ausreisefreiheit und Freizügigkeit im Bundesgebiet gekennzeichnet gewesen sein. Für diese Personengruppe bedarf es daher jeweils einer Abwägung der Umstände des Einzelfalles, ob und inwieweit die Verfolgung oder Bestrafung ihrer Taten nach dem Untergang der DDR angesichts der damit endgültig bewirkten Beendigung geheimdienstlicher Gegnerschaft mit dem Verbot des Übermaßes staatlicher Eingriffe in Einklang steht. |
Auch für diese Täter liegen allerdings - ebenso wie für diejenigen, die ihre Spionagetätigkeit auch in einem dritten Staat ausübten, ohne dort vor Auslieferung und Bestrafung sicher gewesen zu sein - regelmäßig Auswirkungen einer sie treffenden Strafverfolgung vor, die ihre Schärfe gerade durch die einmalige staatsrechtliche Situation der Wiedervereinigung gewinnen und die sich daher insoweit zu ihren Gunsten auswirken müssen. Dazu gehört zunächst, daß für diese Täter, die zwar das Risiko, im damals fremden Staat enttarnt und strafverfolgt zu werden, bewußt eingegangen sind, die Aussicht, vor langjährigem Freiheitsentzug durch den Schutz des eigenen Staates bewahrt zu werden - etwa durch den Austausch von Spionen -, durch den Untergang der DDR verlorengegangen ist. Des weiteren mögen auch diese Täter - ungeachtet der für sie bei ihrem Handeln stets gegenwärtigen Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland - ihr Unrechtsbewußtsein vorwiegend an der Rechtsordnung ihres Staates orientiert haben. Vor allem aber gilt auch für diese Tätergruppe, daß sie nunmehr von der Strafverfolgung durch den eigenen Staat betroffen sind, die aber solchen Taten gilt, die gegen jenen - damals für sie fremden - Staat gerichtet waren. Führen diese Umstände im Zusammenwirken mit weiteren Bedingungen zwar nur hinsichtlich der Personen, die als Staatsbürger der DDR dort geheimdienstliche Tätigkeit organisiert haben, zur Annahme eines Verfolgungshindernisses, so muß die für diese Tätergruppe daraus folgende Straflosigkeit doch bei den im Gebiet der Bundesrepublik als Spione tätig gewesenen Staatsbürgern der DDR, auch wenn für sie diese Bedingungen so nicht zutreffen, im Rahmen der im Einzelfall zu treffenden Entscheidung über die weitere Strafverfolgung oder Höhe einer Strafe maßgebliche Berücksichtigung finden.
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D. |
Für die Vorlage nach Art. 100 Abs. 2 GG ergibt sich aus den vorstehenden Darlegungen zu Art. 25 GG: Eine allgemeine Regel des Völkerrechts, nach der in entsprechender Anwendung des Art. 31 HLKO Personen, die vom Boden der ehemaligen DDR aus Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland betrieben haben und im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Einheit Deutschlands am 3. Oktober 1990 ihre Lebensgrundlage in der ehemaligen DDR hatten, für die frühere Spionage nicht strafrechtlich verantwortlich gemacht werden dürfen, ist nicht feststellbar.
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E. |
Nach dem oben dargestellten Maßstab ist die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu II. 1. begründet und die des Beschwerdeführers zu II. 2. zum Teil begründet; die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu II. 3. ist dagegen unbegründet.
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I. |
Die von dem Beschwerdeführer zu II. 1. angegriffenen Entscheidungen verletzen ihn in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, soweit er wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit (§ 99 Abs. 1 StGB) zu Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, und in seinen verfassungsmäßigen Rechten aus Art. 33 Abs. 2 und Art. 38 Abs. 2 GG, soweit auf die in § 101 in Verbindung mit § 45 Abs. 2 und 5 StGB vorgesehenen Nebenfolgen erkannt worden ist. Die Strafgerichte haben bei der Verurteilung des Beschwerdeführers die Tragweite des sich aus dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergebenden Verfolgungshindernisses für Straftaten nach § 99 StGB, die vom Boden der DDR oder solcher Staaten aus begangen wurden, in denen dem Beschwerdeführer weder Auslieferung an die Bundesrepublik Deutschland noch Bestrafung wegen seiner Agententätigkeit drohte, nicht berücksichtigt. Der Beschwerdeführer hat nach den Urteilsfeststellungen seine geheimdienstliche Tätigkeit überwiegend im Gebiet der DDR entfaltet. Allerdings hat er sich auch zu Agententreffs nach Schweden, Öster reich, Italien, Ungarn und in die Schweiz begeben. Die angegriffenen Entscheidungen enthalten jedoch keine Feststellungen, ob diese Staaten den Beschwerdeführer wegen seiner Agententätigkeit an die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert hätten oder ob sich der Beschwerdeführer in einem oder mehrerer dieser Staaten - etwa aufgrund von Strafvorschriften, die gemäß Art. VII Abs. 11 des NATO- Truppenstatuts erlassen wurden, oder aufgrund des § 319 des Österreichischen Strafgesetzbuchs - strafbar gemacht hat. Von solchen Feststellungen hängt es ab, ob und gegebenenfalls inwieweit das zugunsten von Geheimdienstmitarbeitern der DDR bestehende verfassungsrechtliche Verfolgungshindernis zugunsten des Beschwerdeführers eingreift. |
Die angegriffenen Entscheidungen sind deshalb gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben; die Sache ist zur erneuten Prüfung an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen. Sofern sich bei der erneuten tatrichterlichen Prüfung ergeben sollte, daß dem Beschwerdeführer in mehreren Drittstaaten, in denen er sich zu Agententreffs aufgehalten hat, Auslieferung oder Strafe drohte, ist es Sache der Strafgerichte, unter Heranziehung einschlägiger strafrechtlicher und strafprozessualer Grundsätze zu bestimmen, in welcher Weise die Rechtslage in den verschiedenen in Betracht kommenden Staaten das verfassungsrechtliche Verfolgungshindernis im vorliegenden Fall entfallen läßt oder einschränkt. Ebenso bleibt es der Prüfung der Strafgerichte überlassen, ob der Beschwerdeführer wegen der angeklagten Tat nach anderen Strafvorschriften, für die das verfassungsrechtliche Verfolgungshindernis von vornherein nicht in Betracht kommt, verurteilt werden kann.
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II. |
Den vom Beschwerdeführer zu II. 2. angegriffenen Entscheidungen fehlt es an der im Hinblick auf das Übermaßverbot gebotenen Abwägung (vgl. unter C. V. 4.*). Auf diesem Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kön nen die Entscheidungen beruhen. Es ist nicht auszuschließen, daß das Oberlandesgericht, wenn es die von Verfassungs wegen gebotene Abwägung vorgenommen hätte, zu einem dem Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis, sei es zu einer milderen Strafe oder - was eher ferner liegt - zu einer Einstellung (§§ 153 ff. StPO), gekommen wäre. |
Das Urteil des Oberlandesgerichts ist danach im Rechtsfolgenausspruch aufzuheben, ebenso der Beschluß des Bundesgerichtshofs, soweit die Revision des Beschwerdeführers in bezug auf den Rechtsfolgenausspruch verworfen wurde. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Durch die Rechtskraft des Schuldspruchs ist das Oberlandesgericht nicht gehindert zu prüfen, ob im Blick auf die gebotene Abwägung eine Einstellung des Verfahrens nach §§ 153 ff. StPO in Betracht zu ziehen ist.
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III. |
Die vom Beschwerdeführer zu II. 3. angegriffenen Entscheidungen sind von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.
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Wie bereits dargelegt, ist auch nach dem Beitritt der DDR die Strafverfolgung derjenigen Personen wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit uneingeschränkt mit dem Grundgesetz vereinbar, die nicht Angehörige der DDR waren. Der Beschwerdeführer gehört nicht zu dem Personenkreis, für den von Verfassungs wegen ein Verfolgungshindernis besteht oder für den jedenfalls eine Milderung der Rechtsfolgen seiner Spionagetaten in Betracht zu ziehen wäre.
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F. |
1. Da die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu II. 1. in vollem Umfang begründet ist, sind ihm gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG die im Verfassungsbeschwerde-Verfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
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Limbach, Böckenförde, Klein, Graßhof, Kruis, Kirchhof, Winter, Sommer |
Abweichende Meinung der Richter Klein, Kirchhof und Winter zum Beschluß des Zweiten Senats vom 15. Mai 1995 - 2 BvL 19/91, 2 BvR 1206/91, 2 BvR 1584/91, 2 BvR 2601/93 - |
Wir können dem Beschluß insoweit nicht zustimmen, als er unmittelbar aus der Verfassung ein Verfolgungshindernis für den vom Senat näher umschriebenen Kreis derjenigen Täter ableitet, die Straftaten nach den §§ 94, 99 i.V.m. §§ 9, 5 Nr. 4 StGB begangen haben.
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I. |
1. Dieses allgemeine Verfolgungshindernis kommt in seinen Wirkungen einer Amnestie und für die anhängigen Verfahren deren Niederschlagung (Abolition) gleich, was von den Partnern des Einigungsvertrages - der demokratisch gewählten Volkskammer unmittelbar vor der Wiedervereinigung und dem Deutschen Bundestag - als eine der Voraussetzungen der Einigung erwogen, aber ausdrücklich abgelehnt worden ist. Insoweit verfehlt der Beschluß die Grenzen zwischen gestaltender Gesetzgebung und kontrollierender Rechtsprechung. Die Berufung auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dient unseres Erachtens dem Senat nur als begriffliche Hülle für Überlegungen, die mit den gefestigten rechtlichen Maßstäben für die Anwendung dieses Prinzips nicht zu erfassen sind und seine Konturen verschwimmen lassen. Damit verknüpft werden Erwägungen, die ihrem sachlichen Gehalt nach eher bei dem Gleichheitssatz, dem Grundsatz des Vertrauensschutzes, dem Verbot rückwirkender Unterwerfung unter die Jurisdiktion einer "fremden Macht" oder der Nachfolge der Bundesrepublik Deutsch land in Schutzpflichten der DDR anzusiedeln wären. Angesichts des Fehlens prägnanter rechtlicher Voraussetzungen für die Anwendung jener Verfassungsrechtssätze werden einzelne Elemente derselben in unklarer Weise miteinander zu einer neuen, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zugeordneten rechtlichen Aussage verknüpft, die auf keinen anderen Fall übertragbar sein soll und damit letztlich injustitiabel ist. Die tragende Begründung der Entscheidung verfehlt die eigentliche Aufgabe des Strafrechts, dem Schutz von Rechtsgütern der Allgemeinheit und des Einzelnen zu dienen, schon im Ansatz, weil sie - letztlich aus Billigkeitsgründen - dem Rechtsgut der Sicherheit des Staates und der Vertraulichkeit seiner Daten den Schutz verweigert. |
2. Mit der Herleitung eines allgemeinen, für einen ganzen Täterkreis geltenden Verfolgungshindernisses unmittelbar aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und damit aus dem Rechtsstaatsprinzip geht der Senat einen entscheidenden Schritt über die Grenzen hinaus, die das Bundesverfassungsgericht bei der Anwendung dieser Prinzipien bisher beachtet hat. In der vom Senat herangezogenen Cannabis-Entscheidung (BVerfGE 90, 145 ff.) war u.a. Gegenstand der Prüfung, ob das "einfache" Gesetzesrecht hinreicht, bei sehr weit gefaßten abstrakten Gefährdungstatbeständen den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch in Fällen eines geringen Unrechts- und Schuldgehalts der Tat zu genügen; nur dies hat der Senat auf der Grundlage einer an der Verfassung ausgerichteten Auslegung von Einstellungs- und Strafzumessungsvorschriften bejaht. Vorprüfungsausschüsse und Kammern des Bundesverfassungsgerichts haben es darüber hinaus für möglich erachtet, daß eine Verletzung des rechtsstaatlichen Beschleunigungsgebots, die zu einer überlangen Verfahrensdauer führt, in Extremfällen ein verfassungsrechtliches Verfolgungshindernis begründet. Dies setzt indessen eine Abwägung aller straf- und strafverfahrensrechtlich relevanten Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Berücksichtigung des Unrechts- und Schuldgehalts der einzelnen Tat voraus (vgl. BVerfG [Vorprüfungsausschuß], NJW 1984, S. 967; BVerfG [Kammer], NJW 1992, S. 2472 [2473]; NJW 1993, S. 3254 [3255]). Wir meinen, daß es ein wesentlicher Unter schied ist, ob das geltende Gesetzesrecht an Hand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf seine Eignung geprüft wird, den Umständen des Einzelfalls gerecht zu werden, oder ob - wie vorliegend - das Bundesverfassungsgericht rechtsschöpferisch selbst ein generelles Verfolgungshindernis aus der Verfassung herleitet. |
II. |
Der Senat läßt offen, ob die Erstreckung der Jurisdiktion der Bundesrepublik Deutschland auf das Gebiet der DDR sich für die davon Betroffenen als ein Fall tatbestandlicher Rückanknüpfung darstellt. Er meint, so verfahren zu können, weil sich die verfassungsrechtlichen Grenzen einer solchen Rückanknüpfung letztlich aus dem gleichen, ebenfalls im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergäben, aus dem er seine Entscheidung ableitet. Auf diese Weise vermeidet es der Senat, sich einem erprobten, durch die Rechtsprechung des Gerichts ausgeformten verfassungsrechtlichen Maßstab zu stellen. Stattdessen weicht er auf eine unspezifische, weil auf ein konkretes äußeres Ereignis bezogene Variation des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Übermaßverbot) aus, die sich unseres Erachtens als verfassungsgerichtliche Grenzüberschreitung in das Gebiet der Politik darstellt.
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1. Ein Fall der tatbestandlichen Rückanknüpfung liegt vor. Nach der Rechtsprechung des Senats ist einer Norm eine tatbestandliche Rückanknüpfung insoweit eigen, als sie den Eintritt ihrer Rechtsfolgen von Gegebenheiten aus der Zeit vor ihrer Verkündung abhängig macht (vgl. BVerfGE 72, 200 [242]).
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Der Einigungsvertrag hat für die Spione der DDR, die ihre Lebensgrundlage in der DDR hatten, zu einer Veränderung der vor Inkrafttreten des Vertrages bestehenden verfahrensrechtlichen Lage geführt. Sie besteht darin, daß die Jurisdiktion der Bundesrepublik Deutschland sich nunmehr auch auf das Gebiet der früheren DDR erstreckt und dadurch die Strafverfolgung wegen noch nicht geahndeter "Alttaten" auch dort ermöglicht worden ist. Diese Veränderung betrifft jedoch nicht einen in der Vergangenheit abge schlossenen Sachverhalt; bei der Verfolgbarkeit der Spionagestraftaten handelt es sich vielmehr um eine in Gegenwart und Zukunft hineinreichende Rechtswirkung. |
Bei diesem Sachverhalt läßt sich von einer tatbestandlichen Rückanknüpfung des Gesetzes zum Einigungsvertrag sprechen, das zwar nicht die schon vor dem 3. Oktober 1990 bestehende materielle Strafbarkeit der vor diesem Zeitpunkt von der DDR gegen die Bundesrepublik betriebenen Spionage neu begründete (so zutr. BGHSt 39, 260 [268 ff.]), wohl aber die Strafverfolgung dieser Taten im Gebiet der ehemaligen DDR tatsächlich und rechtlich ermöglicht hat. Der Eintritt dieser Rechtsfolgen hängt von Gegebenheiten ab, die der Verkündung der Norm zeitlich vorausgingen.
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2. Die Zulässigkeit einer solchen tatbestandlichen Rückanknüpfung ist vorrangig an den Grundrechten zu messen, die mit der Verwirklichung des jeweiligen Tatbestandsmerkmals vor Verkündung der Norm "ins Werk gesetzt" worden sind. In die damit erforderliche grundrechtliche Bewertung fließen freilich die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes, der Rechtssicherheit, aber auch der Verhältnismäßigkeit (hier beschränkt auf den Gesichtspunkt der Vergangenheitsanknüpfung) in der Weise ein, wie dies allgemein bei der Auslegung und Anwendung von Grundrechten im Hinblick auf die Fragen des materiellen Rechts geschieht (BVerfGE 72, 200 [242 f.]). Mit anderen Worten: die Einwirkung eines Gesetzes auf in der Vergangenheit begründete, aber noch nicht abgeschlossene Sachverhalte für die Zukunft unterliegt anderen und im Ergebnis weniger strengen Beschränkungen als die Rückbewirkung von Rechtsfolgen auf einen vor der Verkündung der Norm liegenden Zeitpunkt (vgl. BVerfGE 88, 384 [406 f.] m.N.). Dabei ist das Vertrauen in den Fortbestand verfahrensrechtlicher Regelungen von Verfassungs wegen im allgemeinen weniger geschützt als das Vertrauen in die Aufrechterhaltung materieller Rechtspositionen (vgl. BVerfGE 87, 48 [63]).
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3. Mit den durch §§ 94, 99 StGB mit Strafe bedrohten Handlungen mag - der Senat enthält sich insoweit einer Aussage - eine grundrechtlich gewährleistete Freiheit "ins Werk gesetzt" worden sein. Die zu beantwortende Frage ist also dahin zu stellen, ob die durch das Gesetz zum Einigungsvertrag bewirkte Erstreckung der Jurisdiktionsgewalt der Bundesrepublik Deutschland auf das in Art. 3 EV genannte Gebiet den Kreis der betroffenen Täter in einem seiner Grundrechte verletzt. |
Dabei ist in erster Linie auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes zurückzugreifen; denn es liegt auf der Hand, daß die Spione der DDR, soweit sie dem vom Senat ins Auge gefaßten Täterkreis angehören, darauf "vertraut" haben, dem Zugriff der Strafverfolgungsbehörden der Bundesrepublik Deutschland entgehen zu können. Die sich aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes ergebenden Beschränkungen der tatbestandlichen Rückanknüpfung einer Norm gelten jedoch dort nicht, wo sich kein Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte oder wo dieses Vertrauen nicht schutzwürdig ist. So liegt es hier.
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Aus der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland ergab sich zu keinem Zeitpunkt ein Tatbestand, der das Vertrauen der für die DDR geheimdienstlich Tätigen hätte rechtfertigen können, nicht der Strafverfolgung ausgesetzt zu sein, falls sie in den Jurisdiktionsbereich der Bundesrepublik gerieten. Denn das materielle Strafrecht der Bundesrepublik bedrohte gerade die gegen sie gerichtete Spionage der DDR mit Strafe, auch soweit sie vom Boden der DDR oder eines anderen Staates aus, in dem sich die Täter vor Verfolgung sicher glauben konnten, betrieben wurde; demgemäß waren diese Taten in der Bundesrepublik auch verfolgbar. Vertrauen konnten die Täter allenfalls darauf, daß die DDR sie vor einer Strafverfolgung durch Organe der Bundesrepublik schützen werde, solange sie sich im Geltungsbereich ihrer Rechtsordnung befanden, oder daß dritte Staaten, in denen sie ihrer Tätigkeit nachgingen, sie weder ihrerseits verfolgen noch an die Bundesrepublik ausliefern würden. Dabei handelte es sich aus der Sicht der Bundesrepublik lediglich um ein Vertrauen auf den Fortbestand der Grenzen, die aufgrund der staatsrechtlichen Verhältnisse der Gerichtsbarkeit der Bundesrepublik durch die Staatsgewalt der DDR gezogen waren. Nach der Verfassungsordnung der Bundesrepublik war dieses Vertrauen nicht schutzwürdig. Ob Spionage für die DDR im Falle der Wiedervereinigung von Strafverfolgung freigestellt werden, ob auch die DDR bei einer derartigen politischen Entwicklung willens und in der Lage sein würde, "ihre" Spione weiterhin vor Strafverfolgung zu schützen, war vor Abschluß des Einigungsvertrages offen. Das Vertrauen der Betroffenen bestand also im Kern in der Erwartung, daß es zur Herstellung der deutschen Einheit auf absehbare Zeit nicht kommen werde. Diese Erwartung bezeichnet indessen keinen verfassungsrechtlich schutzwürdigen Vertrauenstatbestand. |
III. |
Die den Beschluß tragende Auffassung, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in seiner Ausprägung als Übermaßverbot könne für eine ganze nach generellen Merkmalen abgegrenzte Gruppe von Fällen und Tätern unabhängig von einer Bewertung des Einzelfalls "zu Bedingungen führen, die - in ihrem Zusammenwirken - für die Betroffenen so schwer wiegen, daß demgegenüber das Interesse der Bundesrepublik an der Verfolgung der gegen sie gerichteten Spionagetaten zurücktreten muß" (C. V. 1. a.E.*), steht nach unserer Auffassung mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht im Einklang, soweit danach auch Umstände entscheidungserheblich sein können, die weder den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat berühren noch das Erreichen der gesetzlich anerkannten Strafzwecke ausschließen noch die Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens in Frage stellen. Hierzu ist vor allem auf den Beschluß des Senats vom 9. März 1994 (BVerfGE 90, 145) zu verweisen.
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1. Nach dem dort entwickelten Maßstab kommt es darauf an, ob bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die im Gesetz vorgesehene Rechtsfolge auch im Blick auf die gesetzlich anerkannten Strafzwecke angemessen und nicht übermäßig ist. Ein Sachverhalt ist personenbezogen daraufhin zu bewerten, ob die fragliche Maßnahme aus objektiver Sicht - und nicht etwa nach der Vorstellung des Betroffenen - für diesen tragbar ist.
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a) Ein solcher Sachverhalt kann - wie in dem damals zu entschei denden Fall - dann vorliegen, wenn der Unrechts- oder Schuldgehalt der Tat so gering ist, daß die Verhängung von Kriminalstrafe eine unangemessene und unverhältnismäßige Reaktion wäre. Soweit es also um die Zulässigkeit der Verfolgung einer - auch nach der Auffassung des Senats - rechtswidrig und schuldhaft begangenen Straftat geht, deckt sich das Übermaßverbot in seinen Strafe begrenzenden Auswirkungen mit dem Schuldprinzip (vgl. BVerfGE 50, 205 [215]; s.a. BVerfGE 90, 145 [184 ff.]). Der Gesetzgeber ist dann von Verfassungs wegen gehalten, daraus auf der normativen Ebene Folgerungen zu ziehen, sei es, daß er den Anwendungsbereich der allgemeinen Strafvorschrift einschränkt oder spezielle Sanktionen für Fälle der Bagatellkriminalität ermöglicht (materiell-rechtliche Lösung), sei es, daß er den Verfolgungszwang begrenzt und auflockert (prozessuale Lösung). Das verfassungsrechtliche Übermaßverbot gestattet prinzipiell beide Lösungen (vgl. BVerfGE 50, 205 [213 ff.]; 90, 145 [191]). |
Eine Strafverfolgung verstieße freilich des weiteren auch dann gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn feststünde, daß durch die Anwendung der einschlägigen Strafvorschriften keiner der gesetzlich anerkannten Strafzwecke mehr zu erreichen ist; Strafverfolgung wäre in einem solchen Falle sinnentleert und als ein Instrument zur Bekämpfung von Unrecht schon nicht (mehr) geeignet. Schließlich wird Strafverfolgung für den Täter unter Umständen in besonders gelagerten Ausnahmefällen unzumutbar, so etwa dann, wenn die Strafe aus den in § 60 StGB oder § 455 Abs. 4 Nr. 1 StPO genannten Gründen von vornherein ihr Ziel verfehlen müßte, gerechter Schuldausgleich zu sein.
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b) Keine dieser Voraussetzungen ist hier gegeben.
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aa) Auch nach Auffassung des Senats sind die Vorschriften der §§ 94 und 99 StGB nicht als solche - etwa wegen ihrer tatbestandlichen Reichweite - verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt, also in vollem Umfang auch mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar. Das vom Senat postulierte Verfolgungshindernis wird nicht mit einem geringen Unrechts- oder Schuldgehalt der Straftaten begründet, die der ins Auge gefaßte Täterkreis begangen hat. Ausschlaggebend ist vielmehr - im Zusammenwirken mit der rechtlichen Eigentümlichkeit der Spionage und dem Vertrauen der Täter auf Sicherheit vor strafrechtlicher Verfolgung durch die Bundesrepublik Deutschland - eine unabhängig von ihrem Zutun eingetretene Veränderung der Verhältnisse nach Begehung der Straftat, die aus der Sicht des Senats eine weitere Strafverfolgung dieser Täter unangemessen, also im verfassungsrechtlichen Sinne unverhältnismäßig, erscheinen lassen soll. Daß diese Änderung der Verhältnisse den Unrechtsgehalt der begangenen Straftaten oder die individuelle Schuld der Täter rückwirkend gemindert habe oder auch nur im nachhinein in milderem Licht erscheinen lasse, wird vom Senat nicht behauptet und ist auch nicht ersichtlich. Der Unrechts- und Schuldgehalt dieser Straftaten ist also - darüber besteht im Senat Einigkeit - von der Veränderung der Verhältnisse unberührt geblieben. |
bb) Die gesetzlich anerkannten Strafzwecke lassen sich auch nach der Wiedervereinigung noch erreichen. Auch der Senat stellt das nicht in Frage, mißt diesem Umstand jedoch im Rahmen seiner Abwägung zwischen den Interessen der Täter und dem Interesse an einer Verwirklichung des bestehenden Strafanspruchs keine ausschlaggebende Bedeutung bei, weil er, ohne dieses zu belegen, die These vertritt, die Sicherheit des Staates und seiner Institutionen als Gegenstand des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes bleibe von seinem Abwägungsergebnis unberührt. Dem Strafverfolgungsinteresse der Bundesrepublik Deutschland wird dadurch jedoch unseres Erachtens ein zu geringes Gewicht beigemessen.
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Auch nach der Herstellung der deutschen Einheit verstößt die strafrechtliche Ahndung dieser Spionagetaten nicht gegen das Gebot sinnvollen Strafens. Die Bundesrepublik Deutschland, gegen die sich die Straftaten richteten, besteht nach Herstellung der deutschen Einheit als Staat fort. Der Beitritt der auf dem Boden der früheren DDR gebildeten neuen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes (vgl. Art. 23 GG a.F.) hat die staatliche Identität der Bundesrepublik Deutschland unberührt gelassen. Die DDR, für die der hier betroffene Täterkreis seine Spionagetätigkeit entfaltete, ist zwar untergegangen; es läßt sich jedoch, wie auch der Senat einräumt, nicht feststellen, daß damit auch der der Bundesrepublik durch die Spionage zugefügte - wie sich immer deutlicher zeigt: erhebliche - Schaden entfallen sei. Die anläßlich der Auflösung der Hauptverwaltung Aufklärung ausgesprochenen Warnungen vor Enthüllungen, die auf die politische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland und ihre Beziehungen zu befreundeten Staaten destabilisierend wirken könnten (vgl. das vom Generalbundesanwalt im Vorlageverfahren 2 BvL 19/91 vorgelegte Schreiben der Leitung der Hauptverwaltung Aufklärung - in Auflösung - vom 11. Juli 1990 an den Innenminister der DDR sowie die diesem beigefügten Standpunkte zur Bewertung der Tätigkeit des aufgelösten Ministeriums für Staatssicherheit und Vorschläge für die Verhandlungen zum Vereinigungsvertrag sowie zur rechtspolitischen Bewertung der Tätigkeit des ehemaligen AfNS/MfS), sprechen dafür, daß die durch die Spionagetätigkeit gewonnenen Erkenntnisse früherer Geheimdienstmitarbeiter der DDR auch heute noch eine Gefährdung für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellen. Im übrigen würde der nachträgliche Wegfall eines durch eine Straftat verursachten Schadens im allgemeinen keinen Strafaufhebungsgrund darstellen. |
Auch die im Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anerkannten Strafzwecke sind durch die Herstellung der deutschen Einheit nicht allgemein unerreichbar geworden. Haben die Täter - was der Senat nicht in Abrede stellt - strafrechtlich erhebliche Unrechtshandlungen begangen und Schuld auf sich geladen, wird der Hauptzweck staatlichen Strafens, der Ausgleich strafrechtlicher Schuld, bei angemessener Bestrafung allemal erreicht. Die mit den Strafvorschriften gegen Spionage bezweckte Generalprävention ist zwar in bezug auf die untergegangene DDR hinfällig geworden; nach wie vor aber vermag die Bestrafung früherer Spione der DDR der Spionagetätigkeit anderer Staaten gegen die Bundesrepublik Deutschland generalpräventiv entgegenzuwirken. Schließlich können auch spezialpräventive Strafzwecke weiterhin in Betracht kommen. Zwar ist es ausgeschlossen, daß die dem betroffenen Täterkreis zuzurechnenden Personen erneut für die DDR spionieren. Nicht allgemein ausgeschlossen werden kann aber, daß ein Teil von ihnen versucht sein könnte, eine geheimdienstliche Tätigkeit gegen die Bundesrepublik Deutschland zugunsten einer anderen fremden Macht aufzunehmen; dem wirkt das Strafrecht in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise entgegen. Das Interesse des Staates an weiterer Strafverfolgung ist nach alledem von erheblichem Gewicht. |
c) Weitere Fallgestaltungen, bei deren Vorliegen das Übermaßverbot dazu zwänge, Straftäter von Strafe freizustellen, sind nicht ersichtlich. Der Senat unternimmt es auch nicht, einen solchen Sachverhalt nach allgemeinen Merkmalen zu umschreiben; die Frage nach der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme wird nicht auf einen verallgemeinerungsfähigen Maßstab hin konkretisiert. Von dieser Notwendigkeit sieht sich der Senat - zu Unrecht, wie wir meinen - offenbar durch die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit des Vorgangs der Wiedervereinigung in ihrem Zusammentreffen mit weiteren Besonderheiten des Sachverhalts entbunden. Die Herstellung der deutschen Einheit läßt sich indes nur aus der Sicht der Bundesrepublik Deutschland als "einzigartig und unwiederholbar" bezeichnen. Wie das Gutachten des Max-Planck-Instituts anhand von 12 Beispielen der Staatenpraxis bei Vereinigungen und Beitritten zeigt, kennt die Geschichte durchaus Fälle, die zum Vergleich herangezogen werden können. Die Staaten haben indessen keine allgemeine Regel über die strafrechtliche Behandlung nachrichtendienstlicher Tätigkeit in derartigen Fällen entwickelt, sondern jeweils auf den Einzelfall abgestimmte Vereinbarungen getroffen. So sind auch die Vertragspartner des Einigungsvertrages verfahren.
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Vor allem hält der Senat es aber für zulässig, bei der Prüfung des Übermaßes Umstände zu berücksichtigen, die weder für den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat von Bedeutung sind noch das Erreichen der gesetzlich anerkannten Strafzwecke ausschließen noch die Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens in Frage stellen.
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aa) Damit besteht die Gefahr, daß das Übermaßverbot zu einer - für beliebige "Bedingungen" im Sinne von äußeren Umständen offenen - verfassungsrechtlichen Generalklausel ausgeweitet wird. Gerade weil der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu seiner Anwendung der Ergänzung durch materiale Wertungsprinzipien bedarf, die die notwendigen Abwägungen erst ermöglichen, stellt es eine unabweisbare Begrenzung der rechtsprechenden und nicht rechtsetzenden Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts dar, daß es die im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung abzuwägenden Gesichtspunkte nicht nach eigenem Gutdünken auswählt, sondern sich dabei von den in der Rechtsordnung bereits enthaltenen übergeordneten Wertungsentscheidungen für den jeweils betroffenen Rechtsbereich - hier das Straf- und Strafverfahrensrecht - leiten läßt. Andernfalls wächst letztlich dem Bundesverfassungsgericht - und nicht mehr dem Gesetzgeber - die Kompetenz zu, über die Verfolgbarkeit und damit auch über die strafrechtliche Ahndung bestimmter Taten oder Tätergruppen zu entscheiden. Dies zeigt der vorliegende Fall besonders deutlich: Der Senat stellt bei seiner Prüfung auf eine durch äußere Umstände - die Wiedervereinigung und den durch sie ausgelösten Wegfall der Verfolgungssicherheit - geprägte Sonderlage ab. Nun können allerdings veränderte Umstände den Gesetzgeber durchaus veranlassen, eine Amnestie zu gewähren. Besonders bedeutsame Ereignisse im Leben eines Volkes, wie es die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands nach jahrzehntelanger Teilung oder in der Verfassungsgeschichte das Inkrafttreten einer neuen Verfassung gewesen sind, aber auch die Absicht einer Rechtsgemeinschaft, unter eine Zeit gestörten Rechtsbewußtseins einen Schlußstrich zu ziehen (vgl. BVerfGE 10, 234 [241]), oder in Zukunft möglicherweise die Vereinbarung einer gemeinsamen Sicherheitspolitik in der Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft, mögen politische Erwägungen über eine Amnestie und ihre Ausgestaltung nahelegen. Derartige Entscheidungen sind jedoch dem Gesetzgeber vorbehalten, wenn anders nicht - worauf die Entscheidung des Senats hinausläuft - das Bundesverfassungsgericht darüber zu befinden haben soll, ob einer Gruppe von Tätern für bestimmte Straftaten aus diesem oder jenem äußeren Anlaß Straffreiheit zu gewähren ist. Der Gesetzgeber hat, wie im Beschluß dargelegt, diesen Gedanken im zeitlichen Zusammenhang mit der Herstellung der deutschen Einheit erwogen und ihn auch seither nicht aus dem Blick verloren. Wir können nicht erkennen, daß die Entscheidung, (bisher) von einer allgemeinen Amnestie Abstand zu nehmen, sei es auch nur im Blick auf die hier in Rede stehende Tätergruppe, unter verfassungsrechtlichen Mängeln litte. Das Bundesverfassungsgericht hat sie vielmehr, so meinen wir, als im Rahmen des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers gelegen zu respektieren. |
bb) Auch die vom Senat so deutlich hervorgehobene Eigenart von Spionagetaten, die vom ausspähenden Staat erlaubt, vom ausgespähten Staat hingegen verboten werden, begründet keine Besonderheit, die es der Rechtsprechung gestatten würde, diesen bisher ungelösten Wertungskonflikt zu entscheiden. Landesverrat und geheimdienstliche Agententätigkeit begründen eine konkrete Gefahr für die Sicherheit des angegriffenen Staates und die Vertraulichkeit seiner Daten. Daß der angegriffene Staat selbst Spionage betreibt, läßt die Verwerflichkeit, Strafwürdigkeit und Verfolgbarkeit gegen ihn gerichteter Spionagetaten prinzipiell unberührt. Es gibt hier kein Prinzip der Gegenseitigkeit, das die Staaten im Sinne eines friedlichen Ausgleichs zum gleichen Schutz gleicher Rechtsgüter im jeweils anderen Staat verpflichtete. Eine derartige Harmonisierung des Rechtsgüterschutzes unter den Staaten herzustellen, wäre Sache der Völkerrechtsgemeinschaft und innerstaatlich des Gesetzgebers. Die Aufgabe, den bloßen Eigenschutz des jeweiligen Staates durch ein umfassendes, auch den fremden Staat einbeziehendes Schutzprinzip zu ersetzen, fällt jedoch weder in den Auftrag zur Herstellung der inneren Einheit in Deutschland noch in die Kompetenz der Gerichtsbarkeit. Der völkerrechtlich noch ungelöste Wertungskonflikt betrifft die Strafbarkeit aller Spione und kann deshalb nur generell gelöst werden.
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d) Eine andere Frage ist es, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit es im Einzelfall geboten erscheinen lassen kann, daß die Strafverfolgungsorgane in Anwendung der dafür vorgesehenen Bestimmungen des Strafrechts und des Strafprozeßrechts in Würdigung der konkreten Umstände von Tat und Täter von Strafe oder Strafverfolgung derjenigen Mitarbeiter der Geheimdienste der DDR absehen, die sich strafbarer Handlungen im Sinne der §§ 94 und 99 i.V.m. §§ 9, 5 Nr. 4 StGB schuldig gemacht haben (dazu unter IV.).
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2. Nach unserem Dafürhalten verbietet mithin das verfassungs rechtliche Übermaßverbot eine Strafverfolgung in den vorliegenden Fällen nicht generell. Unabhängig davon halten wir aber auch die vom Senat angeführten Erwägungen nicht für geeignet, die allgemeine Unangemessenheit einer Strafverfolgung des betroffenen Täterkreises zu begründen. |
a) Von seinem im wesentlichen normativen Ansatz aus hat der Senat zwar viele Eigentümlichkeiten der Spionage zutreffend dargestellt, jedoch nach unserer Ansicht nicht richtig bewertet. Der Senat bezieht im Ergebnis die Sicherheit des Staates und die Vertraulichkeit seiner Daten nicht oder doch nicht mit dem gebotenen Gewicht in den strafrechtlichen Rechtsgüterschutz ein. Dieser Schutz wird in aller Regel nur dem eigenen Staat zuteil. Grundsätzlich hat kein Staat Veranlassung, einen fremden Staat zu schützen. Von daher ist es keine Besonderheit, daß jeder Staat in der Regel nur die gegen ihn gerichtete Spionage mit Strafe bedroht. So hat auch hinsichtlich der Strafbarkeit der Spionage das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zur DDR keine Unterschiede zu dem Verhältnis der Bundesrepublik zu anderen Staaten aufgewiesen. Da der besondere Charakter der Spionagetatbestände aber deren Verfassungsmäßigkeit und folglich auch den Unrechts- und Schuldgehalt der Spionagetaten nach Auffassung des Senats nicht in Frage stellt, ist nicht zu sehen, wie die beschriebenen Eigentümlichkeiten, sei es auch im Zusammenwirken mit der Wiedervereinigung und dem Vertrauen der Täter auf ihre Sicherheit vor strafrechtlicher Verfolgung, ein allgemeines verfassungsrechtliches Verfolgungshindernis begründen können.
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Zu Unrecht mißt der Senat auch der - von ihm als "Stasi-Unwert" bezeichneten - Tatsache kein Gewicht bei, daß die vordergründig der Informationsbeschaffung dienende Tätigkeit der Hauptverwaltung Aufklärung in einer im einzelnen nicht immer durchschaubaren Weise in den Unterdrückungsapparat des Ministeriums für Staatssicherheit einbezogen gewesen ist (vgl. OLG Stuttgart, NJW 1993, S. 1406 mit Anm. Lampe). Soweit die Ausspähung Personen und Organisationen in der Bundesrepublik zum Gegenstand hatte, läßt sie sich - sofern nicht spezifischere Straftatbestände eingreifen - allenfalls mittels des Straftatbestandes der geheimdienstlichen Agententätigkeit (§ 99 StGB) erfassen (vgl. dazu etwa BGHSt 29, 325 - Exilorganisationen; KG, NJW 1989, S. 1372 [1374] - Fluchthilfeorganisationen); die den Erwägungen des Senats zugrundeliegende Annahme, die etwa gegen Kirchen, karitative Organisationen, Gewerkschaften, Flüchtlingsverbände, flüchtige Sportler oder Wissenschaftler gerichtete Ausspähungstätigkeit werde stets einen anderen Straftatbestand erfüllen, trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu. |
b) Daß sich aus den Eigentümlichkeiten des "Landesverratsstrafrechts" im Zusammenwirken mit der Herstellung der deutschen Einheit eine allgemeine, eine "besondere Schärfe" bewirkende Unangemessenheit der Strafverfolgung des betroffenen Täterkreises ergäbe, können wir nicht erkennen:
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aa) Der Umstand, daß nach dem Grundlagenvertrag vom 21. Dezember 1972 die Strafverfolgungsorgane der Bundesrepublik Deutschland (nicht nur tatsächlich, sondern auch rechtlich) gehindert waren, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR tätig zu werden, begründet keine wie immer geartete Besonderheit für den hier in Rede stehenden Täterkreis. Von Ausnahmefällen abgesehen, die es nach Völkerrecht, zumal nach Vertragsvölkerrecht, geben mag, kann kein Staat seine Hoheitsgewalt auf dem Gebiet eines anderen rechtens ausüben.
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bb) Gleiches gilt für den Hinweis auf Art. 33 Abs. 2 der Verfassung der DDR, der bestimmte, daß kein Bürger der DDR einer auswärtigen Macht (worunter auch die Bundesrepublik Deutschland zu verstehen war) ausgeliefert werden darf. Der Senat sieht in dieser Bestimmung einen Beleg für die Sicherheit des fraglichen Täterkreises vor strafrechtlicher Verfolgung durch die von ihm ausgespähte Bundesrepublik und damit ein vertrauensschützendes Element. Warum dieses Vertrauen keinen Schutz verdient, ist oben (II. 3.*) ausgeführt. Es kommt hinzu, daß nur schwer zu erkennen ist, warum ein so begründetes Vertrauen nicht auch anderen DDR-Bürgern zugute gehalten werden müßte, die in der DDR in staatlichem Auftrag Straftaten begingen, die der Staat, statt sie zu verfol gen, rechtfertigte, förderte und belohnte, so daß die Täter sich vor strafrechtlicher Verfolgung sicher wähnen durften. Dabei fiel kaum ins Gewicht, ob ein bestimmtes Verhalten, sei es auch unter Strafdrohung, durch Gesetz verboten war. Das Recht war in der DDR, entsprechend den Lehren des Marxismus-Leninismus, ausnahmslos Mittel und Moment der Politik. Die Rechtspflege war nach dem Prinzip der sozialistischen Gesetzlichkeit (Art. 19 Abs. 1 Satz 2, 90 Abs. 1 DDR-Verfassung) an eine ideologiegerechte Rechtsanwendung gebunden, wobei über die Frage der Ideologiegerechtigkeit nicht der Richter selbst, sondern die Partei entschied, als Sachwalterin und autoritative Interpretin der Ideologie. In allen Fällen also, in denen auf Geheiß der obersten Staats- und Parteiführung an sich strafbare Handlungen begangen wurden - und also nicht nur für die hier in Rede stehenden Spionagetaten -, gilt, daß die Straftatbestände ihre verhaltenssteuernde Kraft weitgehend verloren. Für viele dieser Täter gilt auch, daß sie, die ihr Verhalten und die Einschätzung des ihnen daraus erwachsenden Risikos ganz an der Rechtfertigung durch den eigenen Staat ausgerichtet hatten, sich infolge der Vereinigung ohne ihr Zutun als Bürger des Staates wiederfinden, gegen den oder gegen dessen Bürger ihre nach der in der DDR geübten Praxis rechtmäßige und schutzwürdige Tätigkeit gerichtet war. |
Schließlich kann die Berufung auf das Auslieferungsverbot des Art. 33 Abs. 2 der Verfassung der DDR zur - sei es auch nur teilweisen - Begründung eines schutzwürdigen Vertrauenstatbestandes auch deshalb nicht überzeugen, weil die Staatsorgane der DDR im Zuge der Vorbereitung des Beitritts nach Art. 23 GG a.F. durchaus sehenden Auges davon Abstand genommen haben, einem Zugriff der deutschen Strafverfolgungsbehörden auf die Spione der DDR nach dem Beitritt vorzubeugen. Daraus kann sich für die nunmehr zuständigen deutschen Behörden keine aus dem Grundgesetz abzuleitende Verpflichtung ergeben, gerade in bezug auf diesen Täterkreis von einer Strafverfolgung abzusehen.
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cc) Der Senat verweist weiter darauf, daß der offenkundige, in der Eigenart von Spionagetaten begründete Wertungskonflikt zwischen den beiden Rechtsordnungen des ausspähenden und des aus gespähten Staates sich für diesen Täterkreis als ein Wertungswiderspruch verwirkliche. Einen Wertungskonflikt erfahren auch andere, die nach dem 3. Oktober 1990 für Straftaten zur Verantwortung gezogen werden, die sie im Dienst und im Auftrag der ehemaligen DDR begangen haben und für deren Begehung sie von der politischen Führung dieses Staates belobigt und ausgezeichnet wurden. Auch hier bleibt zur Erklärung und Rechtfertigung der auch vom Senat gewollten Ungleichbehandlung eines bestimmten Täterkreises einerseits und sonstiger Straftäter andererseits nur der immer wieder hervorgekehrte - aber keineswegs nur für die im Beschluß angesprochene (Teil-)Gruppe der Spione einschlägige - Umstand, daß die Rechtsordnungen der Staaten Straftatbestände stets nur für die gegen sie gerichtete, nicht aber für die in ihren Diensten geübte Spionage kennen. Unseres Erachtens macht es jedoch für die Frage der Angemessenheit der Strafverfolgung keinen ins Gewicht fallenden Unterschied, ob eine Rechtsordnung für ein bestimmtes Verhalten schon keinen Straftatbestand vorsieht oder aber es zwar tatbestandsmäßig mit Strafe bedroht, jedoch als gerechtfertigt ansieht, oder ob - wie es in totalitären Staaten möglich ist - das Gesetz ein solches Verhalten zwar verbietet, der Staat aber das Verbot dieses Verhaltens, weil es seinen Zwecken dient, punktuell außer Kraft setzt. Jedenfalls für die gewissermaßen typischen Begleittaten der Spionage gilt, daß ein solcher Unterschied dem einer solchen Rechtsordnung Unterworfenen schwerlich begreiflich zu machen sein dürfte. |
Im übrigen sind es nicht die Spione der ehemaligen DDR allein, auf die der Staat der Bundesrepublik Deutschland, der nunmehr auch ihr eigener ist, seine materiellen Straftatbestände hinsichtlich der vor der Vereinigung verwirklichten Handlungen anwendet (C. V. 3. b*). Dies gilt vielmehr, wie Art. 315 Abs. 4 EGStGB zeigt, etwa auch in allen Fällen, in denen nach § 5 StGB - unter den dort genannten Voraussetzungen - das (bundes-)deutsche Strafrecht, unabhängig vom Recht des Tatorts, auf Taten anzuwenden ist, die im Ausland begangen werden, oder in denen gemäß § 9 StGB der Ort der Tat im Gebiet der Bundesrepublik belegen war, mag auch die Tathandlung in der DDR begangen worden sein. Daß diese Rechtslage gerade die Spione mit besonderer Schärfe trifft, ist also nicht zu sehen. |
dd) Der Senat berücksichtigt außerdem die subjektive Erwartung der ehemals für die DDR tätigen Spione, der Staat werde sie vor einer Strafe durch den ausspionierten Staat schützen, gebe ihnen also ein Gefühl der Sicherheit vor strafrechtlicher Verfolgung. Dem ist entgegenzuhalten, daß jeder Spion, der solches Vertrauen in den ihn beauftragenden Staat setzt, zugleich das Risiko der Strafverfolgung kennt, wenn der ausgespähte Staat seiner habhaft wird. Der Schutzanspruch der DDR-Spione gegenüber ihrem Staat kollidierte mit dem Schutzprinzip des Staatsschutzrechts der Bundesrepublik, wonach gerade auch die Spionagetätigkeit der DDR gegen die Bundesrepublik Deutschland mit Strafe bedroht war. Wie dieser Konflikt im Falle einer Wiedervereinigung gelöst werden würde, war gerade ungewiß.
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Im Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zur ehemaligen DDR kommt noch hinzu, daß die Bundesrepublik an dem verfassungsrechtlichen Wiedervereinigungsgebot stets festgehalten (vgl. BVerfGE 36, 1) und dies auch und besonders in dem der Regierung der DDR unmittelbar vor der Unterzeichnung des Grundlagenvertrags zugegangenen Brief zur deutschen Einheit vom 21. Dezember 1972 (BGBl. 1973 II S. 425) hervorgehoben hat; daraus folgt, daß die Spione der DDR sich jenes Risikos in besonderer Weise bewußt sein mußten. Daß die Bundesrepublik, die auf diese Weise den Ernst ihres politischen Anliegens mit unübersehbarem Nachdruck unterstrichen hat, nun von ihrer Verfassung gehalten sein könnte, das - von ihr in keiner Weise genährte - Vertrauen der DDR-Spione in die fortdauernde Schutzfähigkeit und einen fortbestehenden Schutzwillen ihres Staates durch die Gewährung von Straffreiheit zu honorieren, ist nicht ersichtlich und wird vom Senat so auch nicht behauptet. Dann sind solche Überlegungen aber auch ungeeignet, die generelle Unzumutbarkeit strafrechtlicher Verfolgung gerade dieses Täterkreises im Sinne des verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes zu begründen.
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ee) Wir vermögen auch der Erwägung keine verfassungsrechtlich durchgreifende Bedeutung beizumessen, es widerstreite dem im Grundgesetz vorgezeichneten Auftrag der Wiederherstellung der deutschen Einheit, wenn bei deren Gestaltung die Staatsgewalt des vereinten Deutschland gegenüber jenen Personen, die zuvor für die DDR tätig waren, den Anspruch auf Bestrafung wegen der gegen die Bundesrepublik noch als "fremden" Staat gerichteten Spionage wie vor der Vereinigung durchsetzen wolle. Wie nach der staatlichen die sogenannte innere Einheit Deutschlands herzustellen sei, ist jedenfalls in der konkreten Frage, um die es in diesem Verfahren geht, vom Grundgesetz nicht beantwortet. Gerade hier läßt sich mit Fug auch der bisher von den politisch Verantwortlichen sowohl in der ehemaligen DDR als auch vor und nach der Wiedervereinigung in der Bundesrepublik Deutschland überwiegend eingenommene Standpunkt vertreten, daß eine Verfolgung begangener Straftaten weiterhin geboten sei. Für diese Entscheidung sind legitimerweise vielschichtige politische Einschätzungen und Bewertungen vorzunehmen, etwa die, wie der Rechtsstaat mit dem im kommunistischen Staat der DDR begangenen Unrecht im Vergleich mit den unter dem nationalsozialistischen Regime begangenen Unrechtshandlungen umgehen soll, welche Rücksichtnahmen die Opfer dieses Unrechtes erwarten dürfen und welche Auswirkungen ein Verzicht auf Strafverfolgung auf die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaates haben wird. Die Meinung, das Grundgesetz zeichne hier einen einzigen, allein gangbaren, vom Bundesverfassungsgericht im Wege der Verfassungsauslegung vorzugebenden Weg zur "inneren Einigung" vor, können wir nicht teilen. |
ff) Schließlich konstatiert der Senat zwar ein Übergewicht der Gründe, die gegen eine weitere strafrechtliche Verfolgung des fraglichen Täterkreises sprechen. Die Auseinandersetzung mit den für sie sprechenden Gründen fällt indessen bemerkenswert knapp aus. Das Verdikt der Unangemessenheit weiterer Strafverfolgung kann nach dem zugrundeliegenden Maßstab des Übermaßverbots jedoch nur das Ergebnis eines Abwägungsvorganges sein, bei dem auch der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers gebührend in Rechnung zu stellen ist (vgl. BVerfGE 90, 145 [173 f.]); es ist nur zulässig, wenn sich feststellen läßt, daß der Gesetzgeber seine Einschätzungsprärogative - hier mit dem Verzicht auf eine allgemeine Freistellung der in Rede stehenden Tätergruppe von Strafe - nicht mehr "in vertretbarer Weise" gehandhabt hat (vgl. BVerfGE 88, 203 [262]). |
Die Erwägungen, die der Senat hierzu anstellt (C.V.3.c), erscheinen uns nicht tragfähig. Er mißt dem Umstand keine wesentliche Bedeutung bei, daß die vom Boden der DDR oder von einem anderen "sicheren" Territorium aus operierenden Angehörigen der DDR-Geheimdienste die außerhalb der DDR tätigen Agenten in Unrecht und Schuld verstrickt haben und letztlich die Verantwortung dafür tragen, daß diese Agenten unabhängig von der Wiedervereinigung weiterhin der Strafverfolgung ausgesetzt sind und unter Umständen langjährige Freiheitsstrafen verbüßen müssen. Er verweist darauf, jede Organisation geheimdienstlicher Tätigkeit sei darauf angelegt, Agenten zu gewinnen, die - anders als die Verantwortlichen der Geheimdienstbehörden - das Risiko der Enttarnung und Bestrafung bewußt eingehen und tragen; der Gesichtspunkt der Verstrickung anderer in Schuld sei mithin im Bereich staatlich organisierter geheimdienstlicher Tätigkeit rechtlich ebenso ambivalent wie der Spionagestraftatbestand selbst. Dies mag zutreffen. Es wird dadurch jedoch nicht begründet, warum die Einschätzung des Gesetzgebers, angesichts der fortbestehenden Straf- und Verfolgbarkeit jener Agenten seien auch diejenigen weiterhin zu verfolgen, die sie zu ihrem Tun anleiteten, verfassungsrechtlich nicht vertretbar sei. Der Maßstab von Gleichmaß und Übermaßverbot, dem in einer Abwägung wie der hier vorzunehmenden eine wesentliche erkenntnisleitende Bedeutung zukommt, scheint hier dem Senat aus dem Blick geraten zu sein; jedenfalls gibt er keine durchgreifenden Gründe dafür an, daß die der seinen entgegenstehende Wertung des Gesetzgebers unvertretbar ist.
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3. Auch andere Fragen bleiben offen. Zwar ist es nach den Vorgaben des Senats gedanklich nachvollziehbar, wenn jene Täter weiterhin verfolgbar bleiben, die zwar am 3. Oktober 1990 in der DDR ihren Lebensmittelpunkt hatten, ihre Taten aber teilweise in der Bundesrepublik Deutschland oder in einem dritten Staat begangen haben, in dem sie vor Verfolgung nicht sicher waren. Nach - dem Gleichheitsgedanken verpflichteten - strafrechtlichen Wertungsprinzipien einleuchtend ist es jedoch kaum, die mehr oder weniger zufällige Auswahl der Orte für Agententreffs darüber entscheiden zu lassen, ob das Verfolgungshindernis die durch einen Geheimdienstmitarbeiter verwirklichten Spionagetatbestände vollen Umfangs ergreift oder nicht. Zwei der Beschuldigten, die von ihnen geführte Agenten in der Bundesrepublik Deutschland aufgesucht oder sich mit ihnen in einem dritten Staat, der möglicherweise nicht "sicher" war, getroffen haben, unterfallen auch nach Ansicht des Senats nicht dem von ihm angenommenen verfassungsrechtlichen Strafverfolgungshindernis. |
IV. |
1. Ist nach alledem davon auszugehen, daß das Grundgesetz der vom Gesetzgeber gewollten Verfolgung jeder vom Boden der DDR aus gegen die Bundesrepublik Deutschland betriebenen Spionage kein generelles Verfolgungshindernis entgegenstellt, so ist doch anzuerkennen, daß unbeschadet des vom Gesetzgeber grundsätzlich aufrechterhaltenen Strafverfolgungsanspruchs bei Spionage im Zuge der Wiedervereinigung im Einzelfall eine Strafminderung oder Straffreistellung einzelner Täter angezeigt sein kann. Die durch die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands entstandene Lage gibt Anlaß, bei Würdigung des Unrechtsgehalts einer Tat und der individuellen Schuld auch jenen "Wertungskonflikten" Rechnung zu tragen, die sich aus der prinzipiellen Gegensätzlichkeit der Rechtsordnungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vor der revolutionären Entwicklung ergeben haben, welche sich in der ehemaligen DDR in den Jahren 1989 und 1990 zugetragen hat. Es ist in der Tat möglich, daß Bürger der ehemaligen DDR, die in deren Dienst und Auftrag strafbare Handlungen begangen haben, diese Wertungskonflikte als nachträgliche Umwertung ihres Verhaltens erfahren, nun da das wiedervereinigte Deutschland es unternimmt, im Auftrag des "SED-Unrechts-Regimes" (Art. 17 Satz 2 EV) begangene - teils nach dem Recht der DDR schon nicht tatbestandsmäßige, teils jedenfalls nach dem auch rechtlich maßgebenden Willen der Staatsmacht nicht rechtswidrige oder nicht verfolgbare - Straftaten nach rechtsstaatlichen Prinzipien zu verfolgen. Von Verfassungs wegen obliegt den Organen der Bundesrepublik Deutschland dabei die Pflicht, bei der Anwendung ihrer Rechtsordnung und der Ausübung ihrer Gerichtsbarkeit in bezug auf Handlungen, die unter dem totalitären Regime der DDR begangen wurden, auf die besonderen Verhältnisse der damaligen Staatsordnung und deren konkrete Auswirkungen auf das Verhalten des Einzelnen Bedacht zu nehmen. Die Anwendung des auf dem Boden einer ganz anderen Gesellschaftsordnung gewachsenen Rechtssystems der Bundesrepublik Deutschland auf solche Sachverhalte fordert in besonderem Maße Fairneß gegenüber den Menschen, die ihr Verhalten in erster Linie nach den rechtlichen Verhältnissen der DDR ausrichten mußten und die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland als für sie mehr oder weniger belanglos ansahen. Das kann dazu führen, daß das Maß der individuellen Schuld erheblich hinter der Schwere des objektiven Unrechts zurückbleibt. |
Diese allgemeinen Erwägungen gelten grundsätzlich auch für die Anwendung der Strafvorschriften der §§ 94, 99 StGB auf die hier betroffene Gruppe von Tätern, die Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland betrieben haben. Freilich ist gerade für sie die aus der Existenz zweier unterschiedlicher Staats- und Rechtsordnungen erwachsene Folge, daß die für die Bundesrepublik Deutschland gegen die DDR tätig gewesenen Spione keiner Strafdrohung mehr ausgesetzt sind, während die für die DDR gegen die Bundesrepublik Deutschland ausgeübte Spionage eine Straftat bleibt, nicht überraschend; sie war vielmehr die gerade ihnen ständig vor Augen stehende Rahmenbedingung ihrer Tätigkeit. Gerade weil die Staaten nur die gegen sie (und ihre Verbündeten), nicht die für sie betriebene Spionage mit Strafe bedrohen, war es für jene Täter eine Selbstverständlichkeit, daß ihr aus der Sicht der ehemaligen DDR rechtmäßiges Handeln von der Bundesrepublik Deutschland, der sie nach Kräften zu schaden suchten, als rechtswidrig und strafbar bewertet wurde.
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Die Statuierung eines generellen Verfolgungshindernisses für diese Tätergruppe führt den Senat zu dem Ergebnis, daß eine Bestrafung für die Inhaber der Organisationsgewalt - diejenigen, die eine konkrete Tat planen, veranlassen und ihren Vollzug verantworten - ohne Rücksicht auf den konkreten Unrechtsgehalt ihrer Tat und das Maß ihrer individuellen Schuld entfällt, während die diesen Plan im auszuspähenden Staat vollziehenden Spione weiterhin der Strafverfolgung ausgesetzt sind. Nach unserer Auffassung kann die Tatsache, daß Mitarbeiter der Geheimdienste der DDR als deren frühere Staatsbürger von ihrem Boden oder anderweitig "sicherem" Territorium aus Spionage gegen die Bundesrepublik betrieben haben und sich jetzt ohne ihr Zutun der für sie bis zum 3. Oktober 1990 "fremden" Strafgewalt der Bundesrepublik ausgesetzt sehen, nur im Einzelfall, wenn es die konkreten Umstände im Blick auf den Unrechtsgehalt der Tat und das Maß der Schuld gebieten, strafmildernd oder als ein zur Einstellung des Verfahrens Anlaß gebender Umstand berücksichtigt werden. Diese Spione können, gerade wenn man die Gruppe von Tätern vor Augen hat, die in der Bundesrepublik als deren Bürger gegen sie Spionage betrieben haben, nicht denen gleichgestellt werden, die für die Bundesrepublik andere Staaten einschließlich der DDR ausgespäht haben. In den Kategorien des Gleichheitssatzes gesprochen: die richtige Vergleichsgruppe sind nicht die Agenten der Bundesrepublik, sondern diejenigen, die im Auftrag der DDR nicht von deren Boden oder sonst "sicherem" Gebiet aus Spionage gegen die Bundesrepublik betrieben haben. |
2. Den Anforderungen, die sich danach aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für die strafrechtliche Verfolgung und Ahndung derartiger Spionagetaten ergeben, genügen die strafrechtlichen und strafprozessualen Vorschriften des geltenden Rechts, in die die zur Prüfung gestellten Strafvorschriften eingebettet sind.
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a) In den §§ 153 ff. enthält die Strafprozeßordnung verschiedene Vorschriften, die es den Strafverfolgungsorganen ermöglichen, von einer Strafverfolgung abzusehen. Generell besteht diese Möglichkeit für Vergehen, wenn die Schuld des Täters gering ist (§§ 153, 153 a StPO), sowie dort, wo das Strafgesetz ausdrücklich eine sol che Entscheidung zuläßt, z.B. in den Fällen der §§ 98 Abs. 2, 99 Abs. 3 StGB (§ 153 b StPO). Für Auslandstaten gilt § 153 c Abs. 1 StPO, für Distanztaten (vgl. § 9 StGB) setzt § 153 c Abs. 2 StPO voraus, daß besondere staatliche Interessen der Durchführung des Strafverfahrens entgegenstehen. § 153 d StPO dehnt diese Regelung für Staatsschutzstrafsachen auf Inlandstaten im engeren Sinne aus. In solchen Verfahren gilt zudem § 153 e StPO, der bei tätiger Reue (Gefahrenabwendung, Offenbarung) das Absehen von der Verfolgung ermöglicht. Insbesondere § 153 c StPO kommt im vorliegenden Zusammenhang erhebliche Bedeutung zu, da er ein Absehen von Strafverfolgung bei entsprechender Interessenlage auch in den Fällen erlaubt, in denen der Täter einerseits einer anderen Rechtsordnung untersteht - oder wie hier: zur Zeit der Tat unterstand -, andererseits nach dem Strafgesetzbuch strafbar ist und dadurch Konfliktsituationen auftreten (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, Strafprozeßordnung, 42. Aufl., 1995, § 153 c Rn. 3, 13). Sinn der Gesamtregelung ist ersichtlich, eine flexible, rechtstaatlichen Grundsätzen entsprechende Eingrenzung des die Strafverfolgung beherrschenden, Gleichbehandlung gewährleistenden Legalitätsprinzips zu erreichen, gleichzeitig aber den strafrechtlichen Rechtsgutschutz mit seinen Besonderheiten nicht zu vernachlässigen. Die These des Senats, der Strafanspruch sei bei Spionagedelikten "generell" nachgiebig gegenüber überwiegenden, der Verfolgung entgegenstehenden öffentlichen Interessen, läßt sich daraus nicht ableiten. Gerade die auf spezielle Fallgestaltungen zugeschnittenen Vorschriften der §§ 153 c, 153 d, 153 e StPO zeigen vielmehr deutlich, daß es hier immer darum geht, das Ziel des Schutzes für die Sicherheit des Staates zu erreichen und dieses Ziel auch bei der Anwendung des Staatsschutzstrafrechts selbst stets im Auge zu behalten. Aus dieser Sicht erklärt sich, daß das Gesetz bei derartigen Straftaten die Befugnis der Staatsanwaltschaft, von der Strafverfolgung abzusehen, dem Generalbundesanwalt zuweist und vorbehält, um eine gleiche, rechtsstaatlichen Anforderungen gerecht werdende Rechtsanwendung und eine sachgerechte, regelmäßig des Zusammenwirkens mit der zuständigen politischen Instanz bedürftige Berücksichtigung der staatlichen Interessen zu gewährleisten. Diese Garantie geht bei der vom Senat vertretenen Auffassung für die Verfolgung der von dem betroffenen Täterkreis neben der Spionagetätigkeit, aber im Zusammenhang mit ihr begangenen Straftaten verloren. |
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordert es, die oben dargelegten besonderen Umstände bei der Entscheidung zu berücksichtigen, ob von der Strafverfolgung nach einer dieser Vorschriften abzusehen ist. Ein bestimmtes Ergebnis ist damit von Verfassungs wegen nicht vorgegeben. Die Entscheidung darüber, welches Gewicht den genannten Umständen im Einzelfall zukommt und wie diese Umstände in der Abwägung mit anderen für und gegen eine Strafverfolgung sprechenden Gesichtspunkten letztlich zu bewerten sind, ist eine Frage der Anwendung des Strafprozeßrechts, deren Entscheidung in erster Linie den dafür zu-ständigen Strafverfolgungsorganen obliegt.
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Wie der durch das Bundesministerium der Justiz mit Schreiben vom 14. September 1994 übermittelte Zwischenbericht des Generalbundesanwalts über die strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Spionage ausweist, entspricht die Einstellungspraxis des Generalbundesanwalts - mag sie auch teilweise auf anderen rechtlichen Überlegungen beruhen - im allgemeinen diesen Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.
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b) Soweit ein Absehen von Strafverfolgung nicht in Betracht kommt, geben die Vorschriften des Strafgesetzbuchs über die Strafzumessung (vgl. insbesondere § 46 StGB) und die Strafaussetzung zur Bewährung (§§ 56 ff. StGB) eine genügende Grundlage, den genannten Besonderheiten der zu beurteilenden Straftaten bei der Bestimmung der Rechtsfolgen Rechnung zu tragen. Auch insoweit handelt es sich bei der den Gerichten gestellten Abwägungsaufgabe um die Anwendung "einfachen" Strafrechts, die das Bundesverfassungsgericht nur begrenzt nachprüfen kann. Die im Verfahren vorgelegten Urteile gegen Mitarbeiter der Hauptverwaltung Aufklärung und des militärischen Nachrichtendienstes der DDR sprechen dafür, daß die Strafgerichte sich dieser Aufgabe stellen.
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V. |
Die Entscheidung des Senats kommt, wie dargelegt, der Amnestierung einer ausgewählten Tätergruppe gleich, die das Grundgesetz nach unserer Auffassung dem Gesetzgeber vorbehält. Da nur der Gesetzgeber, nicht aber das Bundesverfassungsgericht mit seinem im wesentlichen auf die anhängigen Verfahren bezogenen Kenntnisstand die Vielfalt der für eine Amnestierung in Betracht kommenden mit Strafe bedrohten Handlungen zu überblicken vermag, obliegt ihm auch die Einschätzung und Entscheidung darüber, welche dieser Handlungen im einzelnen in eine etwaige Amnestie einzubeziehen wäre. Dafür spricht auch, daß sich dem Gesetzgeber im Zusammenhang damit die Gelegenheit böte, dem gerade bei dem hier betroffenen Täterkreis naheliegenden Gedanken Geltung zu verschaffen, daß von demjenigen, dem der Staat mit Nachsicht begegnet, indem er ihn von strafrechtlicher Verfolgung freistellt, füglich - weil Loyalität auf Gegenseitigkeit beruht - die Offenbarung des aus seiner früheren Tätigkeit stammenden Wissens erwartet werden kann. Auch diese Möglichkeit wird von der Lösung des Senats verschüttet.
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Klein, Kirchhof, Winter |