BVerfGE 92, 365 - Kurzarbeitergeld


BVerfGE 92, 365 (365):

1. § 116 Abs. 3 Satz 1 des Arbeitsförderungsgesetzes ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Treten in der Folge dieser Regelung strukturelle Ungleichheiten der Tarifvertragsparteien auf, die ein ausgewogenes Aushandeln der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nicht mehr zulassen und durch die Rechtsprechung nicht ausgeglichen werden können, muß der Gesetzgeber Maßnahmen zur Wahrung der Tarifautonomie treffen.
2. Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit bedarf der Ausgestaltung durch die Rechtsordnung, soweit es die Beziehungen zwischen Trägern

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widerstreitender Interessen zum Gegenstand hat. Dem Gesetzgeber kommt dabei ein weiter Handlungsspielraum zu. Bei der Beurteilung, ob die Parität zwischen den Tarifvertragsparteien gestört ist und welche Auswirkungen eine Regelung auf das Kräfteverhältnis hat, steht ihm eine Einschätzungsprärogative zu.
 
Urteil
des Ersten Senats vom 4. Juli 1995 aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 4. April 1995
-- 1 BvF 2/86 und 1, 2, 3, 4/87 und 1 BvR 1421/86 --
in den Verfahren I. über die Anträge festzustellen, daß Art. 1 Nr. 3b des Gesetzes zur Sicherung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen vom 15. Mai 1986 (BGBl. I S. 740) mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist, Antragsteller: 1. Landesregierung Nordrhein-Westfalen, vertreten durch den Ministerpräsidenten, Mannesmannufer 1a, Düsseldorf - Bevollmächtigte: 1. Professor Dr. Dr. Franz Jürgen Säcker, Riemeisterstraße 21, Berlin, 2. Professor Dr. Gunnar Folke Schuppert, Humboldt-Universität zu Berlin, Ziegelstraße 13, Berlin - 1 BvF 2/86 -, 2. Dr. Hans-Jochen Vogel und 201 weitere Mitglieder des Deutschen Bundestages, Bundeshaus, Bonn - Bevollmächtigte: 1. Dr. Hans-Jochen Vogel, Bundeshaus, Bonn, 2. Professor Dr. Brun-Otto Bryde, Justus-Liebig-Universität, Hein-Heckroth-Straße 5, Gießen - 1 BvF 1/87 -, 3. Regierung des Saarlandes, vertreten durch den Ministerpräsidenten, Am Ludwigsplatz 14, Saarbrücken, - 1 BvF 2/87 -, 4. Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, vertreten durch die Justizbehörde, Drehbahn 36, Hamburg, - 1 BvF 3/87 -, 5. Senat der Freien Hansestadt Bremen, vertreten durch den Präsidenten, Rathausplatz, Bremen, - 1 BvF 4/87 -; II. über die Verfassungsbeschwerde der Industriegewerkschaft Metall, vertreten durch den Vorstand, dieser vertreten durch den ersten Vorsitzenden Klaus Zwickel und den zweiten Vorsitzenden Walter Riester, Lyoner Straße 32, Frankfurt am Main - Bevollmächtigte: 1. Rechtsanwalt Dr. Heinz Gester, Hans-Böckler-Straße 39, Düsseldorf, 2. Professor Dr. Gunther Schwerdtfeger, Hülsebrinkstraße 23, Wennigsen - gegen § 116 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 sowie Abs. 6 des Arbeitsförderungsgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Sicherung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen vom 15. Mai 1986 (BGBl. I S. 740) - 1 BvR 1421/86 -.


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Entscheidungsformel:
§ 116 Absatz 3 Satz 1 Nummer 2 und Absatz 6 des Arbeitsförderungsgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Sicherung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen vom 15. Mai 1986 (Bundesgesetzblatt I Seite 740) ist mit dem Grundgesetz vereinbar. § 116 Absatz 3 Satz 2 dieses Gesetzes ist nach Maßgabe der Gründe mit dem Grundgesetz vereinbar.
Die Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen.
 
Gründe:
 
A.
Die Normenkontrollanträge und die Verfassungsbeschwerde richten sich gegen eine Neuregelung im Arbeitsförderungsgesetz über die Gewährung von Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit während eines Arbeitskampfes.
I.
1. Die zur Prüfung stehenden Vorschriften regeln die Voraussetzungen, unter denen Lohnersatzleistungen (regelmäßig Kurzarbeitergeld) bei regional beschränkten Arbeitskämpfen an Arbeitnehmer derselben Branche in anderen Tarifbezirken gezahlt wird, wenn sie infolge von Arbeitskampfmaßnahmen vorübergehend nicht beschäftigt werden. § 116 Abs. 3 AFG ordnet das Ruhen dieser Ansprüche an, wenn für solche Arbeitnehmer eine nach Art und Umfang gleiche Forderung erhoben und das Arbeitskampfergebnis aller Voraussicht nach in ihrem Bezirk übernommen wird ("Partizipationsprinzip"). Die Absätze 5 und 6 enthalten ergänzende Verfahrensregelungen.
a) Aufgrund der Rechtslage vor Erlaß der zur Prüfung stehenden Regelung war bei mehreren Arbeitskämpfen, an denen die Beschwerdeführerin beteiligt war, Kurzarbeitergeld in nicht umkämpften Bezirken gezahlt worden. Der Gesetzgeber sah darin eine Verletzung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen.
Die frühere Fassung des Arbeitsförderungsgesetzes vom 25. Juni

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1969 (BGBl. I S. 582) und die Änderungen durch das Neutralitätsgesetz vom 15. Mai 1986 (BGBl. I S. 740) haben folgenden Wortlaut:
    "§ 116 a.F.
    (1) Durch die Gewährung von Arbeitslosengeld darf nicht in Arbeitskämpfe eingegriffen werden.
    (2) Ist der Arbeitnehmer durch Beteiligung an einem inländischen Arbeitskampf arbeitslos geworden, so ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld bis zur Beendigung des Arbeitskampfes.
    (3) Ist der Arbeitnehmer durch einen inländischen Arbeitskampf, an dem er nicht beteiligt ist, arbeitslos geworden, so ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld bis zur Beendigung des Arbeitskampfes, wenn
    1. der Arbeitskampf auf eine Änderung der Arbeitsbedingungen in dem Betrieb, in dem der Arbeitnehmer zuletzt beschäftigt war, abzielt oder
    2. die Gewährung des Arbeitslosengeldes den Arbeitskampf beeinflussen würde. ..."
    "§ 116 n.F.
    (1) Durch die Gewährung von Arbeitslosengeld darf nicht in Arbeitskämpfe eingegriffen werden. Ein Eingriff in den Arbeitskampf liegt nicht vor, wenn Arbeitslosengeld Arbeitslosen gewährt wird, die zuletzt in einem Betrieb beschäftigt waren, der nicht dem fachlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrages zuzuordnen ist.
    (2) Ist der Arbeitnehmer durch Beteiligung an einem inländischen Arbeitskampf arbeitslos geworden, so ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld bis zur Beendigung des Arbeitskampfes.
    (3) Ist der Arbeitnehmer durch einen inländischen Arbeitskampf, an dem er nicht beteiligt ist, arbeitslos geworden, so ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld bis zur Beendigung des Arbeitskampfes nur, wenn der Betrieb, in dem der Arbeitslose zuletzt beschäftigt war,
    1. dem räumlichen und fachlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrages zuzuordnen ist oder
    2. nicht dem räumlichen, aber dem fachlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrages zuzuordnen ist und im räumlichen Geltungsbereich des Tarifvertrages, dem der Betrieb zuzuordnen ist, ..."


    BVerfGE 92, 365 (369):

    "§ 116 a.F.
    (3) ... Die Bundesanstalt kann Näheres durch Anordnung bestimmen; sie hat dabei innerhalb des Rahmens des Satzes 1 die unterschiedlichen Interessen der von den Auswirkungen der Gewährung oder Nichtgewährung Betroffenen gegeneinander abzuwägen.
    (4) ..."
    "§ 116 n.F.
    (3) ... 2. ... a) eine Forderung erhoben worden ist, die einer Hauptforderung des Arbeitskampfes nach Art und Umfang gleich ist, ohne mit ihr übereinstimmen zu müssen, und
    b) das Arbeitskampfergebnis aller Voraussicht nach in dem räumlichen Geltungsbereich des nicht umkämpften Tarifvertrages im wesentlichen übernommen wird.
    Eine Forderung ist erhoben, wenn sie von der zur Entscheidung berufenen Stelle beschlossen worden ist oder auf Grund des Verhaltens der Tarifvertragspartei im Zusammenhang mit dem angestrebten Abschluß des Tarifvertrages als beschlossen anzusehen ist. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld ruht nach Satz 1 nur, wenn die umkämpften oder geforderten Arbeitsbedingungen nach Abschluß eines entsprechenden Tarifvertrages für den Arbeitnehmer gelten oder auf ihn angewendet würden.
    (4) ...
    (5) Die Feststellung, ob die Voraussetzungen nach Absatz 3 Satz 1 Nr. 2 Buchstaben a und b erfüllt sind, trifft der Neutralitätsausschuß (§ 206a). Er hat vor seiner Entscheidung den Fachspitzenverbänden der am Arbeitskampf beteiligten Tarifvertragsparteien Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.
    (6) Die Fachspitzenverbände der am Arbeitskampf beteiligten Tarifvertragsparteien können durch Klage die Aufhebung der

    BVerfGE 92, 365 (370):

    Entscheidung des Neutralitätsausschusses nach Absatz 5 und eine andere Feststellung begehren. Die Klage ist gegen die Bundesanstalt zu richten. Ein Vorverfahren findet nicht statt. Über die Klage entscheidet das Bundessozialgericht im ersten und letzten Rechtszug. Das Verfahren ist vorrangig zu erledigen. Auf Antrag eines Fachspitzenverbandes kann das Bundessozialgericht eine einstweilige Anordnung erlassen."
In § 206 a AFG n.F. werden Zusammensetzung und Stellung des Neutralitätsausschusses geregelt. Der Ausschuß besteht danach aus den Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern im Vorstand sowie dem Präsidenten der Anstalt.
Durch Artikel 2 des Neutralitätsgesetzes wurde die Neutralitätsanordnung aufgehoben, die der Verwaltungsrat der Bundesanstalt für Arbeit mit Genehmigung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung aufgrund des § 116 Abs. 3 Satz 2 AFG 1969 erlassen hatte (Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit - ANBA - 1973, S. 365).
b) § 116 AFG betrifft nicht nur das Arbeitslosengeld, sondern gilt entsprechend für das Kurzarbeitergeld (§ 70 AFG), das Unterhaltsgeld (§ 44 Abs. 8 AFG), die Arbeitslosenhilfe (§ 134 Abs. 4 AFG) und - eingeschränkt - für das Schlechtwettergeld (§ 87 AFG). Praktisch kommt aber bei Beschäftigungslosigkeit infolge von Arbeitskampfmaßnahmen nur Kurzarbeitergeld in Betracht. Ansprüche auf Arbeitslosengeld entfallen regelmäßig, weil die arbeitsvertragliche Bindung durch Arbeitskampfmaßnahmen nicht aufgehoben wird und der Arbeitnehmer deshalb nicht arbeitslos wird (vgl. § 100 Abs. 1, § 101 Abs. 1 Satz 1 AFG).
Der Anspruch auf Kurzarbeitergeld setzt nach § 63 Abs. 1 Satz 1 AFG unter anderem einen vorübergehenden Arbeitsausfall sowie die Erwartung voraus, daß durch die Gewährung von Kurzarbeitergeld den Arbeitnehmern die Arbeitsplätze und dem Betrieb die

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eingearbeiteten Arbeitnehmer erhalten werden. Der Arbeitsausfall muß dem Arbeitsamt durch den Arbeitgeber oder die Betriebsvertretung angezeigt werden (§ 64 Abs. 1 Nr. 4, § 72 Abs. 1 AFG).
Artikel 1 des Neutralitätsgesetzes traf ergänzende Regelungen zu § 116 AFG. Nach § 72 Abs. 1 a und § 133 Abs. 1 Satz 3 AFG n.F. muß der Arbeitgeber darlegen und glaubhaft machen, daß ein Produktionsausfall die Folge eines Arbeitskampfes ist. Der Betriebsrat muß dazu nach Unterrichtung durch den Arbeitgeber Stellung nehmen. Wird Kurzarbeit wegen eines arbeitskampfbedingten Produktionsausfalls angezeigt (§ 72 Abs. 1 AFG), so kann die Bundesanstalt für Arbeit zur Aufklärung des Sachverhalts Ermittlungen im Betrieb anstellen. Kommt sie zu dem Ergebnis, daß der Arbeitsausfall nicht die Folge eines Arbeitskampfes, sondern vermeidbar war, so hat sie den beschäftigungslos gewordenen Arbeitnehmern in entsprechender Anwendung des § 117 Abs. 4 AFG Kurzarbeitergeld zu zahlen (Gleichwohlgewährung).
2. a) Der Regierungsentwurf des Neutralitätsgesetzes (BTDrucks. 10/4989) wurde unter anderem wie folgt begründet:
Die Neutralität des Staates bei Tarifauseinandersetzungen sei Voraussetzung einer funktionsfähigen Tarifautonomie. Dieser unstreitige Grundsatz habe den Gesetzgeber auch bei der Verabschiedung des Arbeitsförderungsgesetzes 1969 geleitet. Der Anspruch auf Kurzarbeitergeld solle wieder regelmäßig ruhen, wenn der Arbeitskampf stellvertretend auch für die Änderung der Arbeitsbedingungen der mittelbar betroffenen Arbeitnehmer geführt werde.
Dem liege die Erwägung zugrunde, daß ein allgemeiner Einfluß auf den Arbeitskampf durch die Gewährung von Kurzarbeitergeld an Arbeitnehmer im gleichen fachlichen Geltungsbereich für sich allein nicht ausreiche, die Erfüllung eines Versicherungsanspruchs zu versagen. Der Eingriff in einen solchen Anspruch bedürfe vielmehr einer besonderen Rechtfertigung. Diese und die gebotene sachliche Differenzierung seien gegeben, wenn der Arbeitnehmer an dem Ergebnis des Arbeitskampfes partizipiere, wenn der Arbeitskampf also stellvertretend auch für die Änderung seiner Arbeitsbedingungen geführt werde und er deshalb bei natürlicher Betrachtungsweise im wirtschaftlichen Sinne als beteiligt anzuse

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hen sei. Dies sei aber nur dann der Fall, wenn jedenfalls eine der Hauptforderungen in dem umkämpften Bezirk mit einer Hauptforderung in dem anderen Bezirk nach Art und Umfang annähernd gleich sei.
Erhoben im Sinne dieser Vorschrift seien die Forderungen im allgemeinen dann, wenn die jeweils zuständigen Gremien einer Tarifvertragspartei eine Entscheidung getroffen hätten; einer Übermittlung, insbesondere einer förmlichen Zustellung der Forderung an die andere Tarifvertragspartei, bedürfe es nicht. Eine Forderung brauche aber nicht immer von den zur Entscheidung berufenen Gremien ausdrücklich erhoben zu sein. Es genüge, wenn sie nach den Gesamtumständen, das heißt aufgrund konkludenten Verhaltens, als erhoben anzusehen sei.
Als Hauptforderungen seien im Falle eines Streiks die Forderungen anzusehen, mit denen die Gewerkschaft ihre Mitglieder für den Arbeitskampf mobilisiere. Der Arbeitskampf der Metallindustrie 1984 sei dafür ein typisches Beispiel: Diesen Arbeitskampf habe allein die Forderung nach Einführung der 35-Stunden-Woche geprägt.
Hauptforderungen müßten ferner nach Art und Umfang annähernd gleich sein; "Art" umschreibe den Gegenstand, "Umfang" die Höhe der Forderung. So seien Forderungen nach Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit ihrer Art nach gleich. Forderungen auf Erhöhung der Arbeitsentgelte seien ebenfalls ihrer Art nach gleich. Sie könnten jedoch im Umfang voneinander abweichen, wenn ihr wirtschaftliches Gewicht unter Berücksichtigung der tariflichen Ausgangslage, das heißt der jeweiligen tariflichen Lohnhöhe und der Struktur des Lohntarifvertrages, unterschiedlich sei.
Identität der Forderungen brauche nicht vorzuliegen. Um einen "Stellvertreter-Arbeitskampf" handele es sich nicht nur dann, wenn die in beiden Bezirken erhobenen Forderungen identisch seien. Annähernde Gleichheit der Forderungen im Sinne des Gesetzes sei beispielsweise in der Regel gegeben, wenn in dem umkämpften Tarifbezirk eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 40 auf 35 Stunden, außerhalb des umkämpften Bezirks dagegen eine Verkürzung auf 36 Stunden gefordert werde.


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b) Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung des Deutschen Bundestages stimmte dem Regierungsentwurf im wesentlichen zu, fügte aber die Absätze 5 und 6 des § 116 AFG an (Ausschußbericht, BTDrucks. 10/5214). Außerdem wurde die Gesetz gewordene Fassung des § 116 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 a sowie Satz 2 AFG entwickelt. Darin werden das geforderte Maß der Übereinstimmung der Hauptforderungen und die Voraussetzungen für das Erheben einer Forderung geregelt. Auch der Satz 3 des Absatzes 3 ist Ergebnis der Ausschußberatungen.
Zur Begründung der Änderungsvorschläge wird im Ausschußbericht unter anderem ausgeführt, es solle deutlicher als im Regierungsentwurf zum Ausdruck gebracht werden, daß mit dem Wort "gleich" nicht in allen Einzelheiten völlig übereinstimmende Forderungen gemeint seien. Der Begriff "gleich" sei vielmehr - wie jeder Rechtsbegriff - unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung auszulegen. Dabei sei auf die jeweilige tarifliche Ausgangslage, die das wirtschaftliche Gewicht der Forderung beeinflusse, Rücksicht zu nehmen. Für die Entscheidung, ob ein Arbeitskampfergebnis aller Voraussicht nach übernommen werde, seien insbesondere das Verhalten der Tarifvertragsparteien bei früheren Tarifauseinandersetzungen, ihre Erklärungen in der laufenden Tarifauseinandersetzung und alle sonstigen Umstände der laufenden Tarifauseinandersetzung zu berücksichtigen.
3. Hintergrund der Neuregelung waren regional geführte Arbeitskämpfe und deren Auswirkungen auf Betriebe in den anderen Bezirken. Diese Auswirkungen hatten sich schon damals im Vergleich zu früheren Arbeitskämpfen durch eine Reihe betriebswirtschaftlicher und technischer Neuerungen verstärkt. Die Hersteller von Endprodukten beschränkten sich zunehmend auf die Montage von Teilen, die von anderen Unternehmen produziert und angeliefert wurden. Vielfach wurde die Lagerhaltung an Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffen so weit reduziert, daß Einsatzgüter in gewünschter Menge und Qualität am Bedarfsort genau zum Bedarfszeitpunkt bereitgestellt wurden (Just-in-Time-Produktion). Dadurch konnten bei verhältnismäßig geringem Streikeinsatz verhältnismäßig große Produktionsausfälle eintreten.


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a) In der Tarifauseinandersetzung in der Metallindustrie des Tarifgebietes Nordwürttemberg/Nordbaden 1971 wurde unter Führung der Beschwerdeführerin ein Arbeitskampf um den Abschluß eines neuen Lohntarifvertrages geführt. Es kam zu Streiks und Aussperrungen. Als Folge des Arbeitskampfes mußten zahlreiche Betriebe verschiedener Industriezweige innerhalb und außerhalb des Tarifgebietes die Arbeit einstellen oder Kurzarbeit einführen. Die betroffenen Arbeitnehmer verlangten Kurzarbeitergeld.
Der Verwaltungsrat der Bundesanstalt für Arbeit entschied entgegen einem vorangehenden Erlaß des Präsidenten, daß den Arbeitnehmern außerhalb des umkämpften Bezirks Kurzarbeitergeld zu gewähren sei. Auf Klage des Verbandes der Metallindustrie Baden-Württemberg hob das Bundessozialgericht diesen Beschluß auf, weil der Verwaltungsrat für die getroffene Entscheidung nicht zuständig gewesen sei (BSGE 40, 190). In der Sache vertrat es die Auffassung, die Ruhensregelung sei als Ausnahmetatbestand eng auszulegen. Sie erfasse grundsätzlich nur die Arbeitnehmer innerhalb des räumlichen und fachlichen Geltungsbereichs des umkämpften Tarifvertrages. In der Folge dieses Urteils wurde den betroffenen Arbeitnehmern außerhalb des umkämpften Tarifgebietes Kurzarbeitergeld gezahlt.
b) 1984 wurde eine Tarifauseinandersetzung in der Metallindustrie des Tarifgebietes Nordwürttemberg/Nordbaden vor allem um die Einführung der 35-Stunden-Woche geführt. Nach ergebnislosen Verhandlungen wurde in zwei Bezirken gestreikt und ausgesperrt. Im gesamten Bundesgebiet traten infolgedessen Produktionsstörungen auf. In mehreren Betrieben wurde Kurzarbeit eingeführt. Wie bereits 1971 beanspruchten die außerhalb des Tarifgebietes betroffenen Arbeitnehmer Kurzarbeitergeld.
Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit ersuchte die Landesarbeitsämter und Arbeitsämter, bei mittelbar arbeitskampfbedingtem Arbeitsausfall außerhalb des Kampfgebietes Kurzarbeitergeld zu verweigern (Franke- Erlaß). In allen Tarifbezirken würden nach Art und Umfang gleiche Forderungen erhoben. Mit dem Arbeitskampf sollten auch nach Art und Umfang gleiche Arbeitsbedingungen durchgesetzt werden. Der in allen Tarifbezirken erhobe

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nen Forderung nach Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich sei insofern die weitaus überragende Bedeutung beizumessen. Der Verwaltungsrat der Bundesanstalt für Arbeit stimmte zu.
In mehreren sozialgerichtlichen Verfahren wurde der Franke- Erlaß für unwirksam erklärt und die Bundesanstalt für Arbeit zur Zahlung von Kurzarbeitergeld verpflichtet. Die Bundesanstalt für Arbeit veranlaßte schließlich, daß in allen Fällen Kurzarbeitergeld gezahlt wurde. Sie hat dafür rund 204 Mio. DM aufgewendet.
Das Bundessozialgericht bestätigte in seinem Urteil vom 5. Juni 1991 (BSGE 69, 25), daß die Ansprüche der betroffenen Arbeitnehmer auf Kurzarbeitergeld nicht geruht hätten. Die neben der bundesweit erhobenen Forderung nach Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich in den maßgeblichen Tarifgebieten erhobenen weiteren Forderungen hätten nicht unerheblich differiert. Jedenfalls sei nicht gewährleistet gewesen, daß das im Kampfgebiet erreichte Ergebnis in den anderen Bezirken übernommen werden würde.
4. Die Tragweite der zur Prüfung gestellten Bestimmungen erschließt sich erst durch ihr Zusammenwirken mit anderen für die Rechtsstellung von Arbeitnehmern im Arbeitskampf geltenden Regelungen und ihrer Auslegung durch die Gerichte.
a) Arbeitnehmer, die infolge der Fernwirkungen eines Arbeitskampfes nicht beschäftigt werden, büßen nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Arbeitskampfrisiko ihren Vergütungs- und Beschäftigungsanspruch ein, wenn eine Fortführung des Betriebes ganz oder teilweise unmöglich oder wirtschaftlich unzumutbar geworden ist und eine gleichwohl fortbestehende Vergütungs- und Beschäftigungspflicht das Kräfteverhältnis der kampfführenden Parteien beeinflussen kann. Der Arbeitgeber trägt dann zwar den Produktionsausfallschaden, aber er braucht den beschäftigungslos gewordenen Arbeitnehmern keinen Lohn mehr zu zahlen. Die Möglichkeit einer Beeinflussung der Kampfparität wird vom Bundesarbeitsgericht insbesondere dann bejaht, wenn die für den mittelbar betroffenen Betrieb zuständigen Verbände identisch

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oder doch organisatorisch eng verbunden sind (BAG, AP Nr. 70, 71 zu Art. 9 GG Arbeitskampf).
b) Mittelbar durch Arbeitskampf außerhalb des Kampfgebietes betroffene Arbeitnehmer, die gewerkschaftlich organisiert sind, erhalten nach den Gewerkschaftssatzungen keine Arbeitskampfunterstützung (Gagel, in: Gagel [Hrsg.], Arbeitsförderungsgesetz, Kommentar [Stand 1994], Vor § 116 Rdnr. 77; vgl. auch §§ 23, 24 der Satzung der Beschwerdeführerin). Sozialhilfe (§§ 11 ff. BSHG) wird nur gezahlt, wenn der Hilfesuchende über kein anrechenbares Einkommen oder Vermögen verfügt. Die Höhe der Leistung orientiert sich nicht an der Höhe der ausgefallenen Vergütung, sondern an einem Mindestbedarf. Sind laufende Leistungen zum Lebensunterhalt voraussichtlich nur für kurze Dauer zu gewähren, können Geldleistungen als Darlehen gewährt werden (§ 15 b BSHG). In der Praxis wird bei Arbeitskämpfen Sozialhilfe ganz überwiegend darlehensweise gezahlt.
c) Der gesetzliche Versicherungsschutz eines Arbeitnehmers bleibt bei arbeitskampfbedingtem Vergütungsausfall im wesentlichen beitragsfrei aufrechterhalten. Die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung besteht im Falle eines rechtmäßigen Arbeitskampfes bis zu dessen Beendigung fort (§ 192 Abs. 1 Nr. 1 SGB V). In der Arbeitslosenversicherung hängt der Anspruch auf Arbeitslosengeld von der Erfüllung einer Anwartschaftszeit ab (§ 100 Abs. 1, § 104 AFG). Zeiten einer Beschäftigung, für die kein Arbeitsentgelt gezahlt wird, unterbrechen eine Anwartschaftszeit nur, soweit sie vier Wochen überschreiten (§ 104 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 i.V.m. Satz 3 AFG). Auch insofern erleidet ein Arbeitnehmer somit bei einem kurzfristigen Arbeitskampf keine Nachteile. Im Rentenversicherungsrecht werden jedoch die Anwartschaften über die Entgeltpunkte gemindert.
II.
Die zu prüfende Regelung hat seither in mehreren Tarifauseinandersetzungen eine Rolle gespielt.
1. Im Jahre 1991 wurden in den neuen Bundesländern zwischen

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den Tarifvertragsparteien der Metallbranche Vereinbarungen über eine stufenweise Angleichung der Löhne an das Niveau in den alten Bundesländern getroffen. Ende 1992/Anfang 1993 erklärten die Arbeitgeberverbände in allen fünf Tarifgebieten, daß die Unternehmen wegen der ungünstigen wirtschaftlichen Entwicklung nicht in der Lage seien, die zum 1. April 1993 vereinbarten Löhne zu zahlen. In Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen wurde daraufhin gestreikt. In Sachsen einigten sich die Tarifvertragsparteien auf einen neuen Tarifvertrag. Dieser Tarifabschluß wurde in den anderen Ländern hinsichtlich der Stufenregelung übernommen.
Der Neutralitätsausschuß entschied, daß bei mittelbaren Auswirkungen der Arbeitskampfmaßnahmen in Mecklenburg- Vorpommern auf das Tarifgebiet Sachsen die Voraussetzungen des § 116 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a und b AFG erfüllt seien. Das von der Beschwerdeführerin angerufene Bundessozialgericht bestätigte den Beschluß des Neutralitätsausschusses (NZA 1995, S. 320). Hauptforderung sei diejenige Forderung, mit der die Gewerkschaft ihre Mitglieder mobilisiert und die als zentrale Forderung den Arbeitskampf geprägt habe. Geprägt worden sei der Arbeitskampf durch die Forderung nach Aufrechterhaltung der Stufenregelung. Das sei bereits im Schlichtungsverfahren deutlich geworden. Weiterer Beleg sei der in der Urabstimmung verwendete Stimmzettel. Nach Art und Umfang gleich seien solche Forderungen, die "nahezu gleich" seien. Insofern halte das Gericht an seiner früheren Rechtsprechung zur Forderungsgleichheit fest. Hier lägen nahezu gleiche Forderungen vor.
2. In der Tarifauseinandersetzung des Jahres 1995 in Bayern ging es im wesentlichen um Lohnforderungen. Mehrere Betriebe in Bayern wurden bestreikt. Produktionsausfälle in anderen Bezirken traten nicht auf. Abwehraussperrungen gab es nicht. Die Tarifvertragsparteien einigten sich auf ein Ergebnis, das allgemein als für die Arbeitnehmer günstig beurteilt wird. Es wurde, teilweise allerdings erst nach längeren Verhandlungen, in allen anderen Bezirken übernommen. Der Neutralitätsausschuß entschied, daß bei Arbeitsausfällen oder Arbeitslosigkeit in der Metall- und Elektroindustrie außerhalb Bayerns in den alten Bundesländern regelmäßig kein

BVerfGE 92, 365 (378):

Kurzarbeitergeld oder Arbeitslosengeld gezahlt werden könne (Presseinformation der Bundesanstalt für Arbeit Nr. 13/95, ANBA 1995, S. 251 f.).
III.
Die Normenkontrollanträge richten sich gegen die durch Art. 1 Nr. 3 b des Neutralitätsgesetzes bewirkte Änderung des § 116 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 AFG. Die Antragsteller halten die Regelung für unvereinbar mit Art. 9 Abs. 3 GG und Art. 14 Abs. 1 GG. Nach Auffassung der Bundestagsabgeordneten ist die Regelung darüber hinaus mit Art. 3 Abs. 1 GG und mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar.
1. In den Normenkontrollanträgen der Landesregierungen wird dargelegt, daß das Neutralitätsgesetz sich nicht auf eine Klarstellung der Rechtslage beschränke. Nach der früheren Fassung des § 116 AFG seien mittelbar arbeitskampfbetroffenen Arbeitnehmern desselben fachlichen, nicht aber räumlichen Tarifgebietes im Regelfall Lohnersatzansprüche gewährt worden. Dieses Regel-Ausnahme- Verhältnis sei umgekehrt worden.
a) Das Neutralitätsgesetz habe sozialrechtliche Positionen beseitigt und die vom Gesetzgeber 1969 getroffene Grundentscheidung für einen sozialstaatlich abgefederten Arbeitskampf zurückgenommen. Es greife damit in Positionen ein, die durch Art. 14 GG, auch in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, geschützt würden. Der Eigentumsschutz des Art. 14 GG umfasse Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung. Auch das Kurzarbeitergeld werde durch Beiträge finanziert und diene der Existenzsicherung der Arbeitnehmer.
Für den Eingriff gebe es keine hinreichende Rechtfertigung. Durch nichts sei belegt, daß das Gesetz zur Abwehr einer Störung der Kampfparität erforderlich sei. Objektive Kriterien, die es gestatteten, in der Metallindustrie oder in einem anderen Sektor der Privatwirtschaft von einem Übergewicht einer Tarifvertragspartei mit der Gefahr des Lohndiktats zu sprechen, seien nicht ersichtlich.
Der Arbeitskampf 1984 habe die Beschwerdeführerin rund 500

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Mio. DM, das heißt den Einnahmeüberschuß von vier Jahren, gekostet. Die Bundesanstalt für Arbeit habe an mittelbar kampfbetroffene Arbeitnehmer außerhalb des umkämpften Tarifgebietes etwa 204 Mio. DM gezahlt. Bereits diese Zahlen sowie der tatsächliche Verlauf und die Ergebnisse des Tarifkonflikts 1984 machten deutlich, daß die Beschwerdeführerin kein Verhandlungsübergewicht gehabt habe. Ebenso bestünden keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Prognose, daß es in Zukunft zu nachhaltigen Paritätsstörungen kommen werde, denen es vorzubeugen gelte.
Die Fehleinschätzung des Gesetzgebers beruhe auch darauf, daß er den Zusammenhang seiner Regelung mit der arbeitskampfrechtlichen Lohnrisikoverteilung nicht berücksichtigt habe. Die vom Bundesarbeitsgericht im Jahre 1980 präzisierten arbeitskampfrechtlichen Kriterien für das Ruhen der Lohnzahlungspflicht setzten die Gewährung von Lohnersatzleistungen an mittelbar kampfbetroffene Arbeitnehmer durch die Bundesanstalt für Arbeit als Regelfall voraus; denn ein kompensationsloser Wegfall der Lohnzahlungspflicht würde die Kampfparität zu Lasten der Gewerkschaften schwerwiegend stören.
b) Die Neuregelung sei auch mit Art. 9 Abs. 3 GG unvereinbar. Jede staatliche Veränderung der sozioökonomischen Ausgangslage der Koalitionen bedeute eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen den Koalitionen und damit einen Eingriff in den Prozeß der Koalitionseinigung. Der Staat könne durch Veränderung der paritätssichernden Rahmenbedingungen zugunsten einer Seite in den grundrechtlich geschützten Freiheitsbereich eingreifen und die Grundrechtsausübung der anderen Seite zur Farce machen.
Durch Art. 9 Abs. 3 GG werde der Staat zur Neutralität gegenüber den Koalitionen verpflichtet. Er müsse sich darauf beschränken, durch Rahmengesetzgebung funktionsfähige Einigungsordnungen und ein leistungsfähiges Arbeitskampfsystem zur Verfügung zu stellen. Ob Vertragsparität bestehe, lasse sich anhand ex ante festgelegter, abstrakt-genereller Kriterien nicht allgemeingültig bestimmen. Deswegen sei legislative Zurückhaltung bei der Regelung des komplexen Systems des Arbeitskampfrechts geboten. Wenn der Gesetzgeber ohne eine evidente und nachweisbare Ge

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fährdung der Tarifautonomie einer Seite zu Hilfe eile und damit zukunftsorientiert die Weichen für das Übergewicht dieser Partei stelle, sei ein Gesetz nicht nur dann verfassungswidrig, wenn es eine nachweisbare Fehlprognose bezüglich der Auswirkungen auf einen Grundrechtsträger enthalte, sondern bereits dann, wenn sich die Norm bei erheblicher Unsicherheit bezüglich ihrer Auswirkungen nicht auf solche Regelungen beschränke, die im Einzelfall situationsbezogen eine Korrektur evidenter Paritätsstörungen zuließen. Im Mitbestimmungsurteil habe sich das Bundesverfassungsgericht daher zutreffend nicht auf eine Evidenzkontrolle beschränkt. Vielmehr habe es im Rahmen der Vertretbarkeitskontrolle sehr hohe Anforderungen an den Gesetzgeber gestellt.
Der Gesetzgeber sei ohne erkennbare wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Beratung von der Annahme ausgegangen, daß die Gewerkschaften ohne erheblichen eigenen Mitteleinsatz Schwerpunktstreiks durchführen könnten, deren Folgen für mittelbar kampfbetroffene Arbeitnehmer unter geschickter Ausnutzung der Bundesanstalt für Arbeit als Streikkasse aufgefangen würden. Er habe sich dabei nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob tatsächlich eine nachhaltige Störung der Gleichgewichtslage der Koalitionen auf bestimmten Arbeitsmärkten eingetreten sei und ob die von ihm getroffene Regelung eine angemessene Ausbalancierung der Interessen der Koalitionen im Sinne einer Erhaltung annähernd gleicher Verhandlungschancen ermögliche.
Ungeachtet der Tatsache, daß Gewerkschaftssatzungen derzeit keine Unterstützung für mittelbar arbeitskampfbetroffene Mitglieder vorsähen, müßte aus Gründen der Verbandssolidarität allen mittelbar arbeitskampfbetroffenen Arbeitnehmern eine Unterstützung gewährt werden. Damit würde ein Streik nicht nur für die Unternehmer, sondern auch für die Gewerkschaften unter dem Aspekt der mittelbaren Arbeitskampffolgen immer teurer. Unter den veränderten Rahmenbedingungen hätten jedoch allein die Unternehmen betriebswirtschaftliche Rationalisierungsvorteile, für die Gewerkschaften erwüchsen nur Nachteile. Nur bei grundsätzlicher Gewährung von Kurzarbeitergeld an Arbeitnehmer außerhalb des umkämpften regionalen Tarifgebietes würden die durch die

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technische Entwicklung veränderten Rahmenbedingungen für die Führung von Arbeitskämpfen neutralisiert und bleibe die Kampffähigkeit der Gewerkschaften im Sinne des etablierten Arbeitskampfrechtssystems erhalten. Ein längerer Erzwingungsstreik sei bei genereller Versagung von Kurzarbeitergeldzahlungen an Arbeitnehmer außerhalb der Kampfbezirke in Zukunft nicht mehr vorstellbar.
Die Regelung gehe von einer falschen Prämisse aus, soweit sie zu einer Verweigerung von Kurzarbeitergeld auch dann führe, wenn der Arbeitsausfall durch Fernwirkungen einer Aussperrung verursacht werde. Denn der vom Bundesarbeitsgericht bejahte Wegfall der Lohnzahlungsansprüche bei koalitionspolitischer Verbundenheit der Arbeitnehmer gewährleiste die Parität der Koalitionen nur unter der Voraussetzung, daß die Arbeitnehmer außerhalb des umkämpften Tarifgebietes grundsätzlich im Besitz ihrer sozialrechtlichen Ansprüche blieben. Die schematische Einbeziehung des Arbeitsausfalls, der auf Aussperrungsfolgen zurückgehe, in die Neuregelung des § 116 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AFG sei auch deshalb verfehlt, weil die Arbeitgeber ebenfalls die Möglichkeit hätten, durch geschickte Auswahl der für eine Aussperrung vorgesehenen Betriebe die Arbeitskampffolgen über das umkämpfte Tarifgebiet hinauszutragen.
Für unvereinbar mit Art. 9 Abs. 3 GG halten die Antragsteller schließlich die Beschlußfiktion des § 116 Abs. 3 Satz 2 AFG. Die Regelung sei unklar. Sie greife tief in die verbandsinterne Willensbildung ein. Bestehe die Gefahr, daß Meinungsäußerungen im Vorfeld des Beschlusses des zuständigen Organs bereits die Beschlußfiktion auslösten, sei eine den Anforderungen demokratischer Infrastruktur der Vereinigung Rechnung tragende unbefangene Meinungsäußerung nicht mehr möglich.
2. a) Die Bundestagsabgeordneten halten die Neuregelung für unvereinbar mit der Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG). Kurzarbeitergeld unterfalle dem Schutzbereich dieses Grundrechts. Mit der Regelung habe der Gesetzgeber die ihm bei der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums gesetzten Grenzen überschritten. Die frühere Rechtslage werde nicht geklärt, sondern zum

BVerfGE 92, 365 (382):

Nachteil der Versicherten verändert. Rechtfertigende Gründe für den Eingriff seien nicht vorhanden. Die Abwälzung der durch die Fernwirkungen eines Arbeitskampfes entstehenden Kosten auf die Versicherten und die für ihre Interessen kämpfende Gewerkschaft sei unverhältnismäßig. Denn die Fernwirkungen eines Arbeitskampfes ließen sich durch die Arbeitgeber weitgehend vermeiden. Es bestehe sogar die Gefahr, daß die Arbeitgeber Fernwirkungen von Streiks beliebig und unkontrollierbar auslösten oder steuerten. Dagegen böten die vom Gesetzgeber eingebauten Neuregelungen in § 72 Abs. 1 a, § 133 Abs. 1 Satz 3 und 4 AFG n.F. nur unzulänglichen Schutz. Im Ergebnis würden die Arbeitgeber durch das zur Prüfung gestellte Gesetz mit einem neuen Arbeitskampfmittel ausgestattet.
b) Art. 9 Abs. 3 GG werde verletzt, weil die Regelung die Kampffähigkeit der Gewerkschaften entscheidend schwäche. Mit dem Streikrecht sei zugleich die Streikfähigkeit der Gewerkschaften durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet. Die Fähigkeit zum Arbeitskampf sei für die Arbeitnehmerkoalitionen unbedingt erforderlich, um die strukturelle Unterlegenheit der Arbeitnehmer auszugleichen. Das Recht zum regionalisierten Arbeitskampf falle in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG. Die Ausübung dieses Rechts dürfe durch einen gesetzgeberischen Eingriff nicht unmöglich gemacht werden. Die Gewerkschaften brauchten sich nicht auf Auswege verweisen zu lassen, wie etwa bundesweite Tarifabschlüsse und Arbeitskämpfe.
Die Arbeitnehmerseite werde auch nicht unverhältnismäßig durch Lohnersatzleistungen an mittelbar betroffene Arbeitnehmer begünstigt. Lohnersatzleistungen blieben so weit hinter den Arbeitseinkommen zurück, daß ein hoher Binnendruck bestehen bleibe, der einem leichtfertigen oder unverhältnismäßigen Herbeiführen mittelbarer Streikfolgen entgegenwirke. Die Lohnersatzleistungen verhinderten aber, daß aus diesem Binnendruck eine übermächtige Zwangslage werde, die die Streikfähigkeit im Kern treffe. Gleichzeitig verhindere die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts durch die Verteilung des Lohnrisikos einen übergroßen Binnendruck im Arbeitgeberlager.


BVerfGE 92, 365 (383):

Der im Gesetz nunmehr allein entscheidende Partizipationstatbestand sei nicht überzeugend. Durch die Fiktion, ungleiche Forderungen als gleich zu behandeln, werde erreicht, daß der Ruhenstatbestand bei regionalen Arbeitskämpfen regelmäßig eintrete.
c) Die Absicherung gegen Risiken der Arbeitslosigkeit gehöre zum Kern des Sozialstaatsprinzips. Mit der im Jahre 1969 vorgenommenen Einbeziehung des Arbeitskampfrisikos in die Arbeitslosenversicherung seien Lücken geschlossen worden. Diese in Verwirklichung des Sozialstaates getroffene Entscheidung dürfe nicht mehr rückgängig gemacht werden. Angesichts der gewachsenen wirtschaftlichen Interdependenzen werde es immer wichtiger, den Arbeitnehmer auch gegen das Arbeitskampfrisiko zu sichern. Der Einkommensverlust sei schicksalhaft; weder habe der Arbeitnehmer die vom Unternehmer betriebenen Rationalisierungsstrategien unter Kontrolle, die eine solche Verflechtung überhaupt erst ausgelöst hätten, noch könne er außerhalb seines eigenen Tarifbereichs mitbestimmen.
Der Gesetzgeber habe 1969 einen grundlegenden Systemwandel vorgenommen und das Arbeitskampfrisiko der mittelbar betroffenen Arbeitnehmer damals sozialrechtlich abgesichert. Dieser Systemwechsel sei völker- und verfassungsrechtlich geboten gewesen. Es sei vor allem Anliegen des Bundesrats gewesen, mit der Novelle von 1969 das Recht der Bundesrepublik in Einklang mit den internationalen Pflichten aus Art. 69 Buchst. i des ILO- Abkommens Nr. 102 zu bringen. Danach seien grundsätzlich an mittelbar betroffene Arbeitnehmer Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung zu gewähren. Die Bundesrepublik sei daher auch völkerrechtlich gehalten, deren Arbeitskampfrisiko grundsätzlich in der Arbeitslosenversicherung abzusichern.
d) Durch § 116 Abs. 3 Satz 2 AFG werde Art. 9 Abs. 3 GG noch nachhaltiger verletzt. Die Forderungsfiktion verfestige die streikunterbindende Wirkung der Ruhensregelung. Besonders schwerwiegend sei die fiktive Einbeziehung von Arbeitnehmern in einen Arbeitskampf, ohne daß ihnen auch nur potentielle Mitsprachemöglichkeiten darüber eingeräumt würden, ob sie in einen Arbeitskampf treten wollten. Wie die Ausweitung auf nicht gleiche Forde

BVerfGE 92, 365 (384):

rungen gebe auch die Ausweitung auf nicht erhobene Forderungen dem entscheidenden Neutralitätsausschuß einen unangemessen weiten Entscheidungsspielraum zum Eingriff in einen Arbeitskampf zugunsten der Arbeitgeber.
IV.
Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin, die Neufassung des § 116 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 AFG verstoße gegen Art. 9 Abs. 3 GG, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 GG, Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 14 Abs. 1 und Abs. 3 GG, Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG und das ILO- Abkommen Nr. 87; § 116 Abs. 6 AFG verletze Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.
1. Sie sei durch die angegriffene Regelung selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen. Das Neutralitätsgesetz verschlechtere für sie die Voraussetzungen und Bedingungen für künftige Tarifverhandlungen und beeinträchtige die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie im Bereich ihrer Tarifzuständigkeit.
2. Die angegriffene Regelung verletze sie in ihrem Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG, weil sie ihre Verhandlungs- und Arbeitskampffähigkeit gegenüber der früheren Rechtslage verschlechtere. Ein Gleichgewicht der Kräfte habe schon früher nicht bestanden. Nunmehr würden die Gewichte noch zusätzlich zu ihren Lasten verschoben. Die Verweigerung von Kurzarbeitergeld an mittelbar arbeitskampfbetroffene Arbeitnehmer würde sich für sie im Ergebnis wie eine bundesweite Aussperrung auswirken. Dem könne sie nicht ausweichen. Zumindest auf den aktuell im Vordergrund stehenden Gebieten der Tarifpolitik könne nämlich nicht darauf verzichtet werden, in allen Tarifgebieten Forderungen zu erheben, die derart dicht beieinanderlägen, daß sie im Sinne des § 116 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AFG als gleich anzusehen seien. Nicht einmal ein Verzicht auf das Erheben derart gleicher Forderungen könne ihre Diskussion in anderen Tarifgebieten verhindern. In einem solchen Falle drohe der Eintritt des Ruhens von Leistungen aufgrund der Beschlußfiktion in § 116 Abs. 3 Satz 2 AFG. Selbst bei Nichtvorliegen der die Beschlußfiktion auslösenden Tatsachen könne die Ar

BVerfGE 92, 365 (385):

beitgeberseite ihrerseits durch das Aufstellen gleicher Forderungen im Sinne des Gesetzes das Ruhen der Ansprüche mittelbar kampfbetroffener Arbeitnehmer herbeiführen.
Die Neuregelung verfehle ihr Ziel, Rechtsklarheit herzustellen, eine funktionsfähige Tarifautonomie und die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit zu erhalten. Bei Erlaß des Neutralitätsgesetzes sei die Rechtslage nicht unklar gewesen. Die Tarifautonomie sei beim Arbeitskampf in der Metallindustrie des Jahres 1984 nicht gefährdet gewesen; der Tarifabschluß sei vielmehr allgemein als wirtschaftlich vernünftig bewertet worden.
Lohnverluste großen Ausmaßes seien unvermeidbares Arbeitskampfrisiko in der Metallindustrie, da nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts der Lohnanspruch mittelbar arbeitskampfbetroffener Arbeitnehmer regelmäßig entfalle. Die Beschwerdeführerin habe häufig nicht die freie Wahl, ob sie Betriebe bestreike, die mit Betrieben im fachlichen Geltungsbereich verflochten seien oder nicht. Denn nach den Gegebenheiten im Tarifgebiet könne sie einen wirksamen Arbeitskampf typischerweise nur führen, indem sie Betriebe von bestimmter Größenordnung mit entsprechendem Gewicht im regionalen Arbeitgeberverband bestreike. Diese Betriebe seien in ihrer Produktion typischerweise mit Betrieben derselben Branche außerhalb des Tarif- und Kampfgebietes verbunden. Art. 9 Abs. 3 GG garantiere ihr auch, im Tarifgebiet Betriebe zu bestreiken, die wegen ihrer Bedeutung im Tarifgebiet für den gegnerischen Arbeitgeberverband besonders relevant seien. Die Koalitionsfreiheit vermittle ihr das Recht zum Schwerpunktstreik im Tarifgebiet. Soweit sie im Einzelfall in der Lage sei, wirksam Betriebe ohne Produktionsverflechtung zu bestreiken, müsse sie damit rechnen, daß die Arbeitgeberseite den Arbeitskampf im Wege einer Abwehraussperrung in Betriebe mit grenzüberschreitenden Produktionsverflechtungen hineintrage.
Schließlich lasse die neuere Entwicklung erwarten, daß die Arbeitgeberseite auch vom Instrument der Angriffsaussperrung Gebrauch mache. Die Zahl der außerhalb des Kampfgebietes potentiell Betroffenen könne wesentlich größer sein als die Zahl der im Kampfgebiet potentiell betroffenen Arbeitnehmer. Die Auswahl

BVerfGE 92, 365 (386):

eines Tarifgebietes mit geringerer Produktionsverflechtung sei keine Lösung, vor allem wenn das Tarifgebiet klein sei und die Arbeitgeberseite mit großflächigen Aussperrungen in anderen Tarifgebieten drohe. Abgesehen davon garantiere Art. 9 Abs. 3 GG der Beschwerdeführerin die Möglichkeit, Arbeitskämpfe in beliebigen Tarifgebieten gegen die von Tarifgebiet zu Tarifgebiet unterschiedlichen Tarifvertragspartner zu führen. In jedem Tarifgebiet müsse der Beschwerdeführerin ein Arbeitskampf möglich sein.
Sie stelle ihre Forderungen in der Form von "Paketen" auf, deren zentrale Bestandteile zum Beispiel hinsichtlich der Erhöhung der Entgelte oder der Verkürzung der Arbeitszeit sich für alle Tarifgebiete glichen, während andere Bestandteile von Tarifbezirk zu Tarifbezirk variierten. Mit diesen zentralen Forderungen mobilisiere die Gewerkschaft ihre Mitglieder, so daß sie regelmäßig als Hauptforderung des Arbeitskampfes angesehen werden müßten. Die Gleichheit nach Art und Umfang bestehe regelmäßig, auch die Übernahmeprognose sei regelmäßig positiv. Die Beschwerdeführerin könne ihre Taktik nicht so verändern, daß die Konsequenzen des § 116 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AFG vermieden würden. Die zeitgleiche Laufzeit der Tarifverträge könne sie nicht einseitig aufheben, eine Zustimmung der Arbeitgeberseite werde im Hinblick auf die Neuregelung nicht erfolgen. Die Mitglieder der Beschwerdeführerin würden es nicht hinnehmen, wenn sie die aufgrund der jeweiligen wirtschaftlichen und sozialen Situation in der Metallindustrie als richtig erkannten Tarifziele aus taktischen Gründen nur in bestimmten Tarifgebieten verfolge. Insbesondere könne sie nicht über den Kopf der Mitglieder und deren Tarifkommissionen hinweg von Tarifbezirk zu Tarifbezirk Forderungen manipulieren, um dem Ruhenstatbestand zu entgehen.
3. § 116 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 AFG verstoße auch gegen das Rechtsstaatsprinzip. Mit der Neuregelung werde der Bundesanstalt für Arbeit eine Vielzahl wertender Entscheidungen aufgebürdet, deren gerichtliche Nachprüfbarkeit nicht hinreichend gesichert sei. Der Gesetzgeber habe zu Unrecht angenommen, Arbeitskämpfe würden unter den in § 116 Abs. 3 Nr. 2 AFG umschriebenen Voraussetzungen stellvertretend auch für die außerhalb des Kampf

BVerfGE 92, 365 (387):

gebietes mittelbar betroffenen Arbeitnehmer geführt. In Wirklichkeit werde regional verhandelt und erforderlichenfalls gekämpft. Übernahmeverpflichtungen für andere Tarifgebiete bestünden nicht. Modellarbeitskämpfe seien ein Sonderfall. Letztlich beruhe das Neutralitätsgesetz auf einer Fehlprognose des Gesetzgebers.
4. Die angegriffene Regelung verstoße ferner gegen Art. 3 Abs. 1 GG in der Ausprägung des Willkürverbots. Nach Auffassung des Gesetzgebers selbst seien aufgrund der wirtschaftlichen Verflechtungen die kampftaktischen Möglichkeiten beider Arbeitskampfparteien gestiegen. Die Neuregelung beschneide diese Möglichkeiten einseitig zu Lasten der Gewerkschaften und potenziere sie gleichzeitig zugunsten der Arbeitgeberseite. Die Arbeitnehmer würden für eine Entwicklung haftbar gemacht, die sie nicht zu verantworten hätten. Eine auch im allgemeinen Interesse liegende Regionalisierung von Arbeitskämpfen werde praktisch nicht mehr zugelassen. Willkürlich sei es, den betroffenen Arbeitnehmern außerhalb des Kampfgebietes Leistungen vorzuenthalten, obwohl diesen das Kampfergebnis nicht mit Sicherheit zugute komme.
5. § 116 Abs. 6 AFG verletze den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und - sinngemäß - Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Durch die Beschränkung der Beteiligten auf die Fachspitzenverbände und die Bundesanstalt für Arbeit werde nichts erreicht, weil keine Rechtskrafterstreckung auf Tarifvertragsparteien, leistungsberechtigte Arbeitnehmer oder die antragsberechtigten Betriebsräte mittelbar betroffener Betriebe vorgesehen sei. Ungerechtfertigt sei auch die Verkürzung des Rechtswegs. Ohne sachlichen Grund werde schließlich zwischen bundesweit und regional organisierten Verbänden unterschieden: Während die Beschwerdeführerin auf das Verfahren nach § 116 Abs. 6 AFG verwiesen werde, bleibe es den regional organisierten Arbeitgebern unbenommen, weiterhin ihr Recht vor den Sozialgerichten zu suchen.
6. Die angegriffene Regelung sei schließlich deshalb verfassungswidrig, weil das Neutralitätsgesetz die Einschränkung des Art. 9 Abs. 3 GG nicht benenne (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG). Die Neuregelung sei auch mit dem ILO-Abkommen Nr. 87 unvereinbar.


BVerfGE 92, 365 (388):

V.
1. Namens der Bundesregierung hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Stellung genommen.
a) Der Gesetzgeber habe mit dem Neutralitätsgesetz keine vom bisherigen Recht abweichende politische Entscheidung getroffen. Die Grundaussage des § 116 AFG sei vielmehr unverändert geblieben. Die neue Fassung dieser Vorschrift diene lediglich der Klarstellung der Voraussetzungen, unter denen Arbeitnehmer bei einem arbeitskampfbedingten Arbeitsausfall keine Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit erhielten.
b) Das Neutralitätsgesetz sei mit dem Grundgesetz vereinbar. Soweit die Koalitionsparität durch Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich gewährleistet sei, verpflichte sie den Staat zur Nichteinmischung und Unparteilichkeit. Problematisch sei unter dem Gesichtspunkt der Koalitionsfreiheit die Gewährung von Leistungen, nicht deren Nichtgewährung. Das unterliege keinem Zweifel, soweit es sich um den fachlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrages handele. Die durch Art. 9 Abs. 3 GG grundrechtlich gewährleistete Staatsneutralität gebiete es, daß die Bundesanstalt für Arbeit keine Leistungen erbringe, durch die das Ergebnis einer Tarifauseinandersetzung beeinflußt werden könne.
c) § 116 AFG sei auch mit der Eigentumsgarantie vereinbar. Anders als der Anspruch und die Anwartschaft auf Arbeitslosengeld könne der Anspruch auf Kurzarbeitergeld nicht als erdiente und verfügbare Rechtsstellung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts qualifiziert und damit dem Eigentumsschutz des Art. 14 GG unterstellt werden. Denn im Gegensatz zum Anspruch auf Arbeitslosengeld unterliege der Anspruch auf Kurzarbeitergeld nicht der ausschließlichen Verfügbarkeit des Arbeitnehmers. Vielmehr entstehe der Anspruch erst mit der Anzeige des Arbeitsausfalls durch den Arbeitgeber oder die Betriebsvertretung. Überdies werde Kurzarbeitergeld nur auf Antrag des Arbeitgebers oder der Betriebsvertretung gewährt. Soweit Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung dem grundgesetzlichen Eigentumsschutz gemäß Art. 14 GG unterstünden, werde durch § 116 AFG in diese

BVerfGE 92, 365 (389):

Positionen nicht eingegriffen. Ein solcher Eingriff scheide schon deswegen aus, weil § 116 AFG in der neuen Fassung keine substantielle Veränderung der Rechtslage herbeiführe, sondern lediglich die bislang unklare Rechtslage verdeutliche und damit die Rechtssicherheit wiederherstelle.
d) § 116 AFG verstoße auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Tragender Grund für die Regelung des § 116 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AFG sei der Partizipationsgedanke. Es werde von keiner Seite bestritten, daß dieser Gedanke eine tragfähige Basis für Differenzierungen darstelle.
2. Das Bundesarbeitsgericht teilt mit, nach seiner Rechtsprechung setze die grundgesetzlich gewährleistete Tarifautonomie gleichwertige Verhandlungschancen der Tarifvertragsparteien voraus. Das Arbeitskampfrecht habe die Aufgabe, dieses Gleichgewicht der Kräfte herzustellen. Das erforderliche Verhandlungsgleichgewicht müsse wenigstens in groben Zügen tatsächlich feststellbar sein. Der Grundsatz der Parität müsse in generellen und abstrakt formulierten Regeln ausgedrückt werden und könne nur Kriterien erfassen, die einer typisierenden Betrachtung zugänglich seien. Es komme darauf an, wie die Verhandlungsstärke der sozialen Gegenspieler beim Aushandeln von Tarifverträgen sich auswirke und durch Arbeitskampfmittel beeinflußt werden könne. Die Kriterien, nach denen das Bundesarbeitsgericht Elemente der Kampfparität bestimmt habe, seien keine feststehenden Größen. Soweit von der Neuregelung Auswirkungen auf die Verhandlungsstärke der Tarifvertragsparteien ausgingen und Verschiebungen des Kräftegleichgewichts herbeiführen könnten, müßten auch neue Überlegungen zum arbeitskampfrechtlichen Paritätsgefüge angestellt werden.
3. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und der Bundesverband der Deutschen Industrie halten die Verfassungsbeschwerde für unzulässig und die Normenkontrollanträge für unbegründet.
a) Der Beschwerdeführerin fehle die Beschwerdebefugnis, weil sie durch die angegriffenen Gesetzesvorschriften nicht selbst, gegenwärtig und unmittelbar in ihren Grundrechten verletzt werde.

BVerfGE 92, 365 (390):

Die Beschwerdeführerin habe den Rechtsweg nicht ausgeschöpft. Sie sei auf den sachnächsten Weg des Rechtsschutzes, nämlich den zur Sozialgerichtsbarkeit, zu verweisen.
b) Die Neufassung des Neutralitätstatbestandes in § 116 Abs. 3 AFG bringe keine materielle Änderung, sondern nur eine Klarstellung der bestehenden Rechtslage. Die Neufassung des Partizipationstatbestandes greife nicht in das Grundrecht der Koalitionsfreiheit ein. Sie treffe vielmehr Vorkehrungen dagegen, daß die Bundesanstalt für Arbeit durch paritätswidrige Leistungserbringung die freie Koalitionsbetätigung beeinträchtigen könne. Die passive Neutralität des Sozialversicherungssystems sichere die Rahmenbedingungen für die staatsfreie Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen.
c) Die tatbestandliche Präzisierung der passiven Neutralität kollidiere nicht mit dem Eigentumsgrundrecht. Das Gesetz nehme den Versicherten keine grundrechtlich geschützte Position. Das Kurzarbeitergeld falle nicht in den Schutzbereich des Art. 14 GG.
4. Der Gesamtverband der metallindustriellen Arbeitgeberverbände (Gesamtmetall) hält die Verfassungsbeschwerde ebenfalls für unzulässig und im übrigen für unbegründet.
Durch Lohnersatzleistungen an mittelbar betroffene Arbeitnehmer greife der Staat in den Arbeitskampf ein. Das Kräfteverhältnis zwischen den Arbeitskampfparteien werde dadurch verschoben. Der Arbeitskampfdruck werde durch die Fernwirkung von Arbeitskämpfen verstärkt, und zwar auch außerhalb des Kampfgebietes. In dieser Situation stellten Lohnersatzleistungen eine einseitige Entlastung der Gewerkschaft dar. Die Beschwerdeführerin setze regional begrenzte Streiks zur Durchsetzung bundesweiter Tarifziele ein. Diesen Streiks komme in der Metallindustrie eine Stellvertreterfunktion zu. Der Arbeitskampf in der Metallindustrie 1984 sei das beste Beispiel dafür.
Auch nach der Novellierung sei die Beschwerdeführerin durchsetzungsfähig. Ihre tarifpolitische Betätigungs- und Streikfreiheit werde nicht eingeschränkt, die innerorganisatorische Willensbildung nicht behindert. Bestimmte Streiktaktiken würden nicht verboten. Die Gesetzesänderung habe für die Beschwerdeführerin nur

BVerfGE 92, 365 (391):

zur Folge, daß sie künftig für ihre Kampffähigkeit mehr als bisher selbst sorgen müsse. Ihre Streikfähigkeit sei nicht beeinträchtigt; finanziell verfüge sie über eine ausreichende Kampfstärke.
5. a) Nach Auffassung der Deutschen Angestellten- Gewerkschaft verstößt die Neuregelung gegen Art. 9 Abs. 3 GG, weil das Gleichgewicht zwischen den Tarifvertragsparteien einseitig zugunsten der Arbeitgeber aufgehoben werde. Für die Gewerkschaften entstehe durch die Neuregelung ein erheblicher Druck. Die mittelbar betroffenen Arbeitnehmer verlangten jetzt nach Aussperrungsunterstützung. Die Zahl der von den Fernwirkungen eines Arbeitskampfes indirekt betroffenen Arbeitnehmer sei stets weitaus höher als die Zahl der am Arbeitskampf direkt beteiligten Arbeitnehmer. Die Neuregelung stelle vor allem die gewerkschaftliche Mächtigkeit in Tarifauseinandersetzungen in Frage und setze damit die Tarifautonomie leichtfertig aufs Spiel.
Die zu prüfende Regelung verletze im Hinblick auf die Lohnrisikoverteilung bei mittelbarer Arbeitskampfbetroffenheit das Übermaßverbot. Es gehöre zum Grundsatz der Tarifautonomie, daß die Tarifparteien autonom entschieden, ob sie Tarifverträge regional begrenzt oder überregional unbegrenzt abschließen wollten. Das erste Modell sei vor allem im Industriebereich verbreitet. Die eher im produzierenden Bereich bemerkbaren Fernwirkungen von Arbeitskämpfen hätten ihren Grund nicht in der Arbeitskampftaktik der Gewerkschaften (Minimaxstrategie), sondern in der logistischen Verknüpfung von Materialströmen sowie der Produktionsverflechtung, die diese Produktion extrem störanfällig mache. Das gehöre jedoch zum typischen Arbeitskampfrisiko der Arbeitgeber, für das sie Vorsorge zu treffen hätten und das ihnen staatlicherseits nicht abgenommen werden könne.
b) Die Neuregelung verletze Art. 14 Abs. 1 GG, weil der Anspruch auf Kurzarbeitergeld durch die Eigentumsgewährleistung geschützt sei. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liege darin, daß der Verlust des Lohnanspruchs und des Anspruchs auf Lohnersatzleistungen bei mittelbar durch Arbeitskampf betroffenen Arbeitnehmern allein dem Zufall überlassen bleibe. Das Rechtsstaatsprinzip werde durch die Unklarheit der Formulierung verletzt, worin

BVerfGE 92, 365 (392):

von einer Forderung die Rede sei, die einer Hauptforderung des Arbeitskampfes nach Art und Umfang gleich ist, ohne mit ihr übereinstimmen zu müssen.
 
B. -- I.
Die Normenkontrollanträge sind im wesentlichen zulässig. Die Anträge der Regierung des Saarlandes, des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg und des Senats der Freien Hansestadt Bremen sind zwar nicht eigenständig begründet, sondern nehmen auf den Antrag der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen Bezug. In einem objektiven Verfahren wie dem der abstrakten Normenkontrolle reicht dies jedoch aus (vgl. BVerfGE 14, 221 [232 f.]).
Der Antrag der Abgeordneten des Deutschen Bundestages ist unzulässig, soweit darin gerügt wird, die Bundesrepublik Deutschland habe durch Erlaß der Neuregelung ihre vertraglichen Verpflichtungen aus Art. 69 Buchst. i ILO- Abkommen Nr. 102 verletzt. Das Bundesverfassungsgericht prüft im Verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG nur die Vereinbarkeit einer Norm mit dem Grundgesetz. Völkerrechtliche Verträge kommen als selbständiger Prüfungsmaßstab nicht in Betracht.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist ebenfalls zulässig. Die Beschwerdeführerin wird durch die angegriffene Regelung selbst, unmittelbar und gegenwärtig in ihrer Koalitionsfreiheit betroffen (Art. 93 Abs. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG). Das Neutralitätsgesetz macht das Ruhen des Arbeitslosen- und des Kurzarbeitergeldes vom Verhalten der Gewerkschaften beim Aufstellen ihrer Tarifforderungen abhängig. Diese müssen sich in ihrer Arbeitskampfstrategie darauf einstellen. Insofern treten die Wirkungen der Neuregelung gegenüber der Beschwerdeführerin unmittelbar und bereits vor konkreten Tarifauseinandersetzungen ein.
Die Beschwerdeführerin brauchte auch vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde nicht um fachgerichtlichen Rechtsschutz nachzusuchen (§ 90 Abs. 2 BVerfGG), da die angegriffene Regelung bereits

BVerfGE 92, 365 (393):

im Vorfeld einer Tarifauseinandersetzung auf das Verhalten der Beschwerdeführerin Einfluß nimmt. Rechtsschutzmöglichkeiten, die eine rechtzeitige Klärung herbeiführen könnten, bestehen nicht.
Die von der Beschwerdeführerin erhobene Rüge, die angegriffene Regelung verstoße gegen Vorschriften des ILO- Abkommens Nr. 87, ist aus den bereits zum Normenkontrollantrag der Bundestagsabgeordneten dargelegten Gründen unzulässig.
 
C.
Die Normenkontrollanträge und die Verfassungsbeschwerde sind unbegründet. Die zur Prüfung gestellte Regelung verletzt die Beschwerdeführerin jedenfalls derzeit nicht in ihrer Koalitionsfreiheit und ist auch im übrigen mit dem Grundgesetz vereinbar; das gilt jedoch teilweise nur bei verfassungskonformer Auslegung.
I.
Art. 9 Abs. 3 GG wird durch § 116 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AFG in der Fassung des Neutralitätsgesetzes nicht verletzt. Die Regelung beeinträchtigt zwar die Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften. Sie wahrt aber die Grenzen, die der Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers dabei von Verfassungs wegen gezogen sind.
1. a) Das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG ist in erster Linie ein Freiheitsrecht. Es gewährleistet den Einzelnen die Freiheit, Vereinigungen zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu bilden und diesen Zweck gemeinsam zu verfolgen. Darüber sollen die Beteiligten grundsätzlich frei von staatlicher Einflußnahme, selbst und eigenverantwortlich bestimmen können. Geschützt ist damit aber auch das Recht der Vereinigungen selbst, durch spezifisch koalitionsmäßige Betätigung die in Art. 9 Abs. 3 GG genannten Zwecke zu verfolgen (vgl. BVerfGE 50, 290 [367] m.w.N.). Die Wahl der Mittel, die die Koalitionen zur Erreichung dieses Zwecks für geeignet halten, überläßt Art. 9 Abs. 3 GG grundsätzlich ihnen selbst. Das Grundrecht schützt als koalitionsmäßige Betätigung auch Arbeitskampfmaßnahmen, die auf den Abschluß von Tarifverträgen gerichtet sind. Sie werden jedenfalls insoweit von der

BVerfGE 92, 365 (394):

Koalitionsfreiheit erfaßt, als sie erforderlich sind, um eine funktionierende Tarifautonomie sicherzustellen (vgl. BVerfGE 84, 212 [224 f.]). Dazu gehört auch der Streik (vgl. BVerfGE 88, 103 [114]).
b) Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit bedarf der Ausgestaltung durch die Rechtsordnung, soweit es die Beziehungen zwischen Trägern widerstreitender Interessen zum Gegenstand hat. Beide Tarifvertragsparteien genießen den Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG in gleicher Weise, stehen bei seiner Ausübung aber in Gegnerschaft zueinander. Sie sind auch insoweit vor staatlicher Einflußnahme geschützt, als sie zum Austragen ihrer Interessengegensätze Kampfmittel mit beträchtlichen Auswirkungen auf den Gegner und die Allgemeinheit einsetzen. Dieser Schutz erfordert koordinierende Regelungen, die gewährleisten, daß die aufeinander bezogenen Grundrechtspositionen trotz ihres Gegensatzes nebeneinander bestehen können. Die Möglichkeit des Einsatzes von Kampfmitteln setzt rechtliche Rahmenbedingungen voraus, die sichern, daß Sinn und Zweck dieses Freiheitsrechts sowie seine Einbettung in die verfassungsrechtliche Ordnung gewahrt bleiben (vgl. BVerfGE 88, 103 [115]).
Bei dieser Ausgestaltung hat der Gesetzgeber einen weiten Handlungsspielraum. Das Grundgesetz schreibt ihm nicht vor, wie die gegensätzlichen Grundrechtspositionen im einzelnen abzugrenzen sind. Es verlangt auch keine Optimierung der Kampfbedingungen. Grundsätzlich ist es den Tarifvertragsparteien selbst überlassen, ihre Kampfmittel den sich wandelnden Umständen anzupassen, um dem Gegner gewachsen zu bleiben und ausgewogene Tarifabschlüsse zu erzielen. Andererseits ist der Gesetzgeber aber auch nicht gehindert, die Rahmenbedingungen von Arbeitskämpfen zu ändern, sei es aus Gründen des Gemeinwohls, sei es, um gestörte Paritäten wieder herzustellen (vgl. BVerfGE 84, 212 [228 f.]).
c) Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers findet seine Grenzen am objektiven Gehalt des Art. 9 Abs. 3 GG. Die Tarifautonomie muß als ein Bereich gewahrt bleiben, in dem die Tarifvertragsparteien ihre Angelegenheiten grundsätzlich selbstverantwortlich und ohne staatliche Einflußnahme regeln können (vgl. BVerfGE 50, 290 [367]). Ihre Funktionsfähigkeit darf nicht gefähr

BVerfGE 92, 365 (395):

det werden. Die Koalitionen müssen ihren verfassungsrechtlich anerkannten Zweck, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder zu wahren und zu fördern, insbesondere durch den Abschluß von Tarifverträgen erfüllen können. Das Tarifvertragssystem ist darauf angelegt, die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluß von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Funktionsfähig ist die Tarifautonomie folglich nur, solange zwischen den Tarifvertragsparteien ein ungefähres Kräftegleichgewicht - Parität - besteht (vgl. BVerfGE 84, 212 [229]). Unvereinbar mit Art. 9 Abs. 3 GG ist eine Regelung daher jedenfalls dann, wenn sie dazu führt, daß die Verhandlungsfähigkeit einer Tarifvertragspartei bei Tarifauseinandersetzungen einschließlich der Fähigkeit, einen wirksamen Arbeitskampf zu führen, nicht mehr gewahrt bleibt und ihre koalitionsmäßige Betätigung weitergehend beschränkt wird, als es zum Ausgleich der beiderseitigen Grundrechtspositionen erforderlich ist (vgl. BVerfGE 84, 212 [228 f.]).
Konkrete Maßstäbe, nach denen das Kräftegleichgewicht der Tarifvertragsparteien beurteilt werden könnte, lassen sich Art. 9 Abs. 3 GG nicht entnehmen. Die Einzelheiten sind in der arbeitsrechtlichen Literatur stark umstritten. Das Bundesarbeitsgericht stellt in seiner Rechtsprechung zum Arbeitskampfrecht darauf ab, wie sich die Verhandlungsstärke der Gegenspieler beim Aushandeln von Tarifverträgen auswirkt und wie sie durch Arbeitskampfmittel beeinflußt werden kann (BAG, AP Nr. 64 zu Art. 9 GG Arbeitskampf). Für diese Betrachtungsweise sprechen gute Gründe. Sie bietet einen angemessenen Maßstab für die fachgerichtliche Überprüfung umstrittener Arbeitskampfmaßnahmen unter dem Gesichtspunkt der Proportionalität. Verfassungsrechtlich ist

BVerfGE 92, 365 (396):

sie in diesem Zusammenhang unbedenklich (BVerfGE 84, 212 [229 ff.]). Der Gesetzgeber ist allerdings bei der Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit nicht daran gebunden. Er kann auch andere Regeln aufstellen, die verhindern sollen, daß eine der Tarifvertragsparteien ein Übergewicht bei Tarifverhandlungen erhält. Verfassungswidrig ist sein Ansatz erst dann, wenn er von vornherein ungeeignet ist, dieses Ziel zu erreichen.
Der Gesetzgeber ist allerdings nicht verpflichtet, Disparitäten auszugleichen, die nicht strukturell bedingt sind, sondern auf inneren Schwächen einer Koalition beruhen. Der Organisationsgrad einer Koalition, ihre Fähigkeit zur Anwerbung und Mobilisierung von Mitgliedern und ähnliche Faktoren liegen außerhalb der Verantwortung des Gesetzgebers. Er ist nicht gehalten, schwachen Verbänden Durchsetzungsfähigkeit bei Tarifverhandlungen zu verschaffen.
d) Bei der Beurteilung der Frage, ob die Regelung den Gewerkschaften die Fähigkeit nimmt, einen wirksamen Arbeitskampf zu führen, ist von der Einschätzung durch den Gesetzgeber auszugehen. Die Kampfstärke einer Arbeitnehmerkoalition hängt von einer im einzelnen kaum überschaubaren Fülle von Faktoren ab, die in ihren Wirkungen schwer abschätzbar sind. Nicht ohne weiteres erkennbar sind zudem die Möglichkeiten, die einer Gewerkschaft zu Gebote stehen, sich durch besondere Arten der Kampfführung an veränderte Umstände anzupassen. In einer solchen Lage trifft den Gesetzgeber die politische Verantwortung für eine zutreffende Erfassung und Bewertung der maßgebenden Faktoren. Das Bundesverfassungsgericht kann sich nicht durch eine eigene Einschätzung an seine Stelle setzen. Die Grenze der Verfassungswidrigkeit ist daher erst dann überschritten, wenn sich deutlich erkennbar abzeichnet, daß eine Fehleinschätzung vorgelegen hat oder die angegriffene Maßnahme von vornherein darauf hinauslief, ein vorhandenes Gleichgewicht der Kräfte zu stören oder ein Ungleichgewicht zu verstärken.
e) Eine Einschätzung, von der der Gesetzgeber bei einer arbeitskampfrelevanten Regelung in zunächst unbedenklicher Weise ausgeht, kann sich im nachhinein als unzutreffend erweisen. Ursprünglich plausible Annahmen können durch die nachfolgende Entwicklung widerlegt, wohlbegründete Erwartungen hinsichtlich der komplexen Wirkungszusammenhänge enttäuscht werden. So kann sich trotz einer zunächst verfassungsrechtlich zulässigen Regelung eine nachhaltige Störung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie

BVerfGE 92, 365 (397):

einstellen. Eine solche Entwicklung ist in dem Maße korrekturbedürftig, in dem sich zeigt, daß strukturelle Ungleichgewichte auftreten, die ein ausgewogenes Aushandeln der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nicht mehr zulassen und die in dem der Rechtsprechung gezogenen Rahmen nicht ausgeglichen werden können. Der Gesetzgeber ist dann verpflichtet, Maßnahmen zum Schutz der Koalitionsfreiheit zu treffen (vgl. BVerfGE 25, 1 [13]; 49, 89 [130]; 50, 290 [335]).
2. An diesen Maßstäben gemessen hält die angegriffene Regelung der verfassungsrechtlichen Überprüfung stand.
a) Das vom Gesetzgeber gewählte Regelungsprinzip ist mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar.
Er hat die Regelung getroffen, weil er meinte, durch die Zahlung von Kurzarbeitergeld werde zugunsten der Gewerkschaften in Arbeitskämpfe eingegriffen und damit deren Kampfkraft in unvertretbarer Weise erhöht; die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit werde durch die Zahlung von Kurzarbeitergeld an Arbeitnehmer außerhalb des umkämpften Bezirks verletzt, wenn diese aller Voraussicht nach an dem erstrebten Arbeitskampfergebnis teil hätten. Der Neuregelung liegt das Prinzip zugrunde, daß das Lohnausfallrisiko bei Arbeitskämpfen von denjenigen nicht am Arbeitskampf selbst beteiligten Arbeitnehmern mitgetragen werden soll, die in (annähernd) gleicher Weise am Erfolg der streikenden Arbeitnehmer interessiert sind wie diese selbst, weil er auch ihnen voraussichtlich zugute kommt.
Das ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Die Partizipation ist ein einleuchtendes Kriterium für die Verlagerung des Lohnausfallrisikos von der Arbeitslosenversicherung auf Arbeitnehmer, deren Interessen mit denen ihrer unmittelbar im Arbeitskampf stehenden Kollegen weitgehend übereinstimmen. Es liegt nahe, diese Übereinstimmung als Anknüpfungspunkt für das Ruhen des Kurzarbeitergeldes zu nehmen.
b) In tatsächlicher Hinsicht ging der Gesetzgeber von der Annahme aus, daß es der Beschwerdeführerin infolge der hohen Produktionsverflechtung in der Metallindustrie leicht möglich sei, durch Streiks in einem einzelnen Tarifbezirk weitgehende Produk

BVerfGE 92, 365 (398):

tionsstörungen in anderen Bezirken auszulösen. Diese Annahme wird von der Beschwerdeführerin nicht in Frage gestellt und ist zudem durch den Arbeitskampf des Jahres 1984 belegt. Durch eine solche Kampfführung wird ein starker Druck auf die Arbeitgeberseite ausgeübt. Die von den Fernwirkungen betroffenen Arbeitgeber und ihre regionalen Verbände werden in dem Maße die unmittelbar kampfbetroffenen Arbeitgeber und deren Organisationen zum Einlenken zu bewegen versuchen, in dem sie den wirtschaftlichen Belastungen durch Produktionsausfälle ausgesetzt sind. Hinreichend plausibel ist ebenso die Annahme, daß der auch von den "kalt ausgesperrten" Arbeitnehmern ausgehende Binnendruck auf die Gewerkschaft durch die Zahlung von Kurzarbeitergeld abgeschwächt würde.
c) Die bewertende Einschätzung des Gesetzgebers, daß durch die frühere Fassung des § 116 AFG in der Auslegung, die diese Bestimmung durch die Rechtsprechung der Sozialgerichte auf der Grundlage der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung zum Lohnrisiko gefunden hatte, eine Verschiebung der Parität eingetreten sei, ist nicht zu beanstanden. Derartige Bewertungen komplexer Sachverhalte trifft der Gesetzgeber in seiner politischen Verantwortung für die Wahrung des Gemeinwohls.
Es liegen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, daß die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie durch die zur Prüfung stehende Regelung in einer Weise beeinträchtigt wird, die die verfassungsrechtlichen Bedenken der Beschwerdeführerin und der Antragsteller rechtfertigt.
aa) Eine solche Beeinträchtigung müßte sich am ehesten an der Kampffähigkeit der Beschwerdeführerin erweisen, die, wie allgemein anerkannt wird, von der Regelung am stärksten betroffen ist. Sie führt Tarifauseinandersetzungen seit jeher in einzelnen Bezirken und ist nach ihren insoweit unwidersprochen gebliebenen Darlegungen auf eine solche Kampfführung auch angewiesen. Der hohe Grad an Verflechtungen in der Metallbranche führt dazu, daß Arbeitskampfmaßnahmen besonders häufig Produktionsstörungen außerhalb des umkämpften Bezirks auslösen.
Deutlich geworden ist allerdings, daß die Beschwerdeführerin es

BVerfGE 92, 365 (399):

nicht in der Hand hat, ein Ruhen des Kurzarbeitergeldes in anderen Bezirken dadurch zu vermeiden, daß sie dort eine Hauptforderung aufstellt, die von der des umkämpften Bezirks wesentlich abweicht. Die Behauptung der Beschwerdeführerin, daß es in einem wirtschaftlich insgesamt recht homogenen Gebiet wie der Bundesrepublik Deutschland kaum möglich ist, in einzelnen Tarifgebieten wesentlich voneinander abweichende Forderungen hinsichtlich des Arbeitsentgelts und der Arbeitszeit zu stellen, wird durch die von ihr vorgelegten Forderungskataloge anschaulich belegt.
Erkennbar ist schließlich auch, daß die Beschwerdeführerin durch die Neuregelung beim Einsatz ihrer Arbeitskampfmittel eingeschränkt worden ist. Das hat sich vor allem bei der Tarifauseinandersetzung des Jahres 1994/95 in Bayern gezeigt. Die Beschwerdeführerin hat dabei gezielt solche Betriebe bestreikt, die Endprodukte herstellen und infolgedessen in relativ geringem Umfang mit anderen Betrieben technisch verflochten sind. Es spricht viel dafür und wird von den Arbeitgebern auch nicht in Frage gestellt, daß sich die Beschwerdeführerin zu dieser Taktik genötigt sah, um den Konsequenzen der Regelung zu entgehen und den sonst zu erwartenden Binnendruck aus anderen Bezirken zu vermeiden. Es liegt auf der Hand, daß Arbeitnehmer einen längeren Arbeitskampf ohne jede Unterstützung nicht durchstehen können, weil sie auf regelmäßiges Einkommen existentiell angewiesen sind. Offensichtlich ist auch, daß es die Beschwerdeführerin erheblich belasten würde, wenn sie allen mittelbar betroffenen Mitgliedern bundesweit Streikunterstützung gewähren müßte.
Insgesamt ist daher nicht zu übersehen, daß die Beschwerdeführerin durch die angegriffene Regelung in ihrer Kampffähigkeit beeinträchtigt wird. Sie ist nicht nur an einer Kampfstrategie gehindert, die darauf angelegt ist, Produktionsausfälle in anderen Bezirken gezielt herbeizuführen, um auch dort Druck auf die Arbeitgeberseite auszuüben. Vielmehr muß sie es umgekehrt darauf anlegen, die Arbeitskampffolgen auf den umkämpften Bezirk zu beschränken, weil sonst die Arbeitnehmer in anderen Bezirken den vollen Druck der Fernwirkungen zu spüren bekämen, den sie ohne Kurzarbeitergeld nicht lange durchstehen könnten. Insofern geht

BVerfGE 92, 365 (400):

die Wirkung der Regelung über das erklärte Ziel, einen sogenannten Stellvertreterstreik zu verhindern, hinaus: Die Gewerkschaft unterliegt bei Arbeitskampfmaßnahmen auch dann weitgehenden Einschränkungen, wenn sie sich darum bemüht, den Arbeitskampf auf das umkämpfte Gebiet zu beschränken. Betriebe, deren Produktion mit Betrieben derselben Branche in anderen Tarifbezirken stark verflochten ist, kann sie praktisch nicht mehr bestreiken.
bb) Ungeachtet dieser Beeinträchtigungen der Kampffähigkeit der Beschwerdeführerin läßt sich eine verfassungswidrige Störung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie (noch) nicht feststellen.
Die seit dem Inkrafttreten des Neutralitätsgesetzes in der Metallindustrie geführten Tarifauseinandersetzungen lassen eine so weitgehende Einschränkung der Kampfkraft der Beschwerdeführerin nicht erkennen. Ihre Durchsetzungsfähigkeit erscheint nicht durchgreifend geschwächt. Die Tarifauseinandersetzungen haben ganz überwiegend zu Abschlüssen geführt, ohne daß es zu Arbeitskampfmaßnahmen gekommen ist. Die Beschwerdeführerin selbst macht nicht geltend, daß sie sich dabei mangels ausreichender Kampffähigkeit den Forderungen der Arbeitgeberseite hätte unterwerfen müssen. Dafür ist auch nichts ersichtlich.
Auch soweit Arbeitskämpfe stattgefunden haben, hat sich die Beschwerdeführerin nicht als ungleiche Partnerin erwiesen. Insbesondere die Tarifauseinandersetzung des Jahres 1994/95 in Bayern hat gezeigt, daß sie in der Lage ist, auch unter der Geltung der angegriffenen Regelung ihre Positionen gleichgewichtig zu vertreten. Sie verfügt unwidersprochen über hinreichende Informationen, um solche Betriebe für Streikmaßnahmen auszuwählen, die mit Betrieben derselben Branche in anderen Tarifbezirken nicht so stark vernetzt sind, daß diese als Folge des Arbeitskampfes stillgelegt werden müssen. Daß die Zahl der Betriebe, die diese Voraussetzungen erfüllen, im Zuge fortschreitender Vernetzung oder durch Verbandsaustritte weiter abnimmt, bis schließlich für wirksame Arbeitskampfmaßnahmen kein hinreichender Handlungsspielraum mehr verbleibt, ist eine zur Zeit nicht belegbare Prognose. Bislang hat der von den bestreikten Betrieben ausgehende Druck noch ausgereicht, um die Arbeitgeber insgesamt zum Einlenken zu

BVerfGE 92, 365 (401):

veranlassen. Das Ergebnis gerade dieses Arbeitskampfes wird allgemein als Erfolg der Gewerkschaft angesehen.
cc) Andererseits hat dieser Arbeitskampf auch weitere Risiken für die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie erkennen lassen. Wäre es zu Aussperrungen der Arbeitgeberseite gekommen, so hätten dadurch Beschäftigungsausfälle in anderen Bezirken in einem Umfang auftreten können, der die Kampfkraft der Beschwerdeführerin erheblich geschwächt hätte. Die Beschwerdeführerin trägt dazu vor, daß dies nahezu unvermeidlich gewesen wäre, weil die von ihr nicht bestreikten Betriebe, die allein für eine Aussperrung noch in Betracht gekommen wären, in hohem Maße mit Betrieben der Metallindustrie in anderen Bezirken verflochten seien. Jedenfalls hätten die Arbeitgeber die Möglichkeit gehabt, ihrerseits durch Aussperrungen in ausgewählten Betrieben gezielt Fernwirkungen in anderen Bezirken auszulösen. Die Regelung hätte bei einer solchen Kampfführung der Arbeitgeber in der Tat zu einer Paritätsstörung führen können, wenn man davon ausgeht, daß sie auch in diesem Fall zu einem Ruhen des Kurzarbeitergeldes für die betroffenen Arbeitnehmer geführt hätte.
Diese Risiken stellen die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelung allerdings ebenfalls (noch) nicht in Frage. Einmal läßt sich derzeit nicht erkennen, ob die Arbeitgeber von einer gezielt auf Fernwirkungen hin angelegten Aussperrungstaktik in einem Arbeitskampf tatsächlich in einer Weise Gebrauch machen können, die zu einem strukturellen Ungleichgewicht der Tarifvertragsparteien führt. Auch sie setzen sich einem Binnendruck aus, wenn sie Produktionsausfälle in anderen Bezirken in größerem Maße auslösen. Die ohnehin schwächere Solidarität ihrer Mitglieder, die untereinander im Wettbewerb stehen, kann damit überfordert werden. Außerdem sind die rechtlichen Fragen, die eine solche Kampfführung aufwirft, ungeklärt. Der Vertreter von Gesamtmetall und der Bundesarbeitsminister haben dazu auf die Arbeitskampfrechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Verhältnismäßigkeit von Abwehraussperrungen hingewiesen. Zwar hat das Bundesarbeitsgericht bisher in diesem Zusammenhang allein auf den Aussperrungsbeschluß abgestellt und damit die mittelbar betroffenen Arbeitneh

BVerfGE 92, 365 (402):

mer außer Betracht gelassen (vgl. BAG, AP Nr. 64 und 84 zu Art. 9 GG Arbeitskampf). Diese Rechtsprechung bezieht sich aber auf Arbeitskämpfe, die noch unter der früheren Fassung des § 116 AFG geführt wurden. Das Bundesarbeitsgericht ging damals erkennbar davon aus, daß in nicht umkämpften Bezirken regelmäßig Kurzarbeitergeld gezahlt wird. Seine Ausgangsüberlegungen, daß Abwehraussperrungen die Kampfkraft der Arbeitnehmer nicht in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigen dürfen, können aber auch unter der Geltung der Neuregelung zu einer wirksamen Begrenzung der mittelbaren Folgen solcher Kampfmaßnahmen führen. Es kommt hinzu, daß auch das Bundessozialgericht noch keine Gelegenheit hatte, sich mit der Anwendbarkeit des § 116 Abs. 3 AFG auf Arbeitnehmer zu befassen, die infolge der Fernwirkungen von Aussperrungen nicht beschäftigt werden. Zwar unterscheidet die angegriffene Regelung ihrem Wortlaut nach nicht zwischen den mittelbaren Folgen von Streiks einerseits und Aussperrungen andererseits, doch ist eine Auslegung im Sinne einer solchen Differenzierung nicht ausgeschlossen. Sie könnte zur Wahrung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie geboten sein, wenn sonst ein strukturelles Übergewicht der Arbeitgeber bei Arbeitskämpfen eintreten würde.
Danach ist insgesamt sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht unsicher, ob die angegriffene Regelung bei künftigen Arbeitskämpfen zu einer solchen Ungleichheit der Kampfstärke der Tarifvertragsparteien führt, daß Verhandlungen auf einer annähernd ausgeglichenen Basis nicht mehr möglich sind. Sollte dies eintreten, wäre der Gesetzgeber aufgefordert, entsprechende Maßnahmen zur Wahrung der Tarifautonomie zu treffen. Solange dies nicht geschieht, bleibt es die Aufgabe der Gerichte, die geltenden Regeln im Lichte des Art. 9 Abs. 3 GG auszulegen und anzuwenden.
II.
Mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar ist nach Maßgabe der folgenden Ausführungen auch § 116 Abs. 3 Satz 2 zweite Alternative AFG, wonach eine Forderung auch dann als erhoben gilt, wenn sie aufgrund des Verhaltens der Tarifvertragspartei im Zusammenhang mit dem angestrebten Tarifabschluß als beschlossen anzusehen ist.


BVerfGE 92, 365 (403):

1. Die Koalitionsfreiheit schützt auch die Selbstbestimmung der Koalitionen über ihre eigene Organisation, das Verfahren ihrer Willensbildung und die Führung der Geschäfte (BVerfGE 50, 290 [373 f.]). Der Staat muß, um diesen Schutz zu gewährleisten, den Koalitionen geeignete Rechtsformen zur Verfügung stellen, die eine hinreichende rechtliche Handlungsmöglichkeit gewährleisten. Das gilt für ihre Binnenstruktur ebenso wie für ihre Wirksamkeit nach außen. Darüber hinaus darf er dem Selbstbestimmungsrecht der Koalitionen nur solche Schranken setzen, die zum Schutz anderer Grundrechte oder verfassungsrechtlich geschützter Rechtsgüter geboten sind.
2. Die Regelung greift nicht in das Selbstbestimmungsrecht ein, soweit sie mißbräuchliches Zurückhalten einer Forderung im Sinne von § 116 Abs. 3 Satz 1 AFG zu unterbinden sucht. Mißbräuchliches Verhalten ist nicht schutzwürdig.
Eine darüber hinausgehende Auslegung des § 116 Abs. 3 Satz 2 AFG würde dagegen in verfassungswidriger Weise in das Selbstbestimmungsrecht der Koalitionen eingreifen.
a) Wäre die Vorschrift dahin zu verstehen, daß aus dem Verhalten der Tarifvertragspartei bereits dann eine Forderung abgeleitet werden darf, wenn die satzungsgemäße Willensbildung durch die zuständigen Organe noch nicht abgeschlossen ist, so würde dadurch deren Willensbildungsprozeß selbst beeinträchtigt. Die Tarifvertragspartei wäre nicht mehr Herrin des Verfahrens, das nach ihrer Satzung dazu bestimmt ist, die Beteiligung der Mitglieder an wesentlichen Entscheidungen zu gewährleisten und die Verantwortlichkeit ihrer Organe festzulegen.
Weder grundrechtlich geschützte Gemeinwohlbelange noch der Schutz von Grundrechten Dritter vermöchten einen solchen Eingriff zu rechtfertigen. Die Regelung dient erklärtermaßen dazu, die Arbeitgeber vor einer paritätsgefährdenden Streikführung durch die Gewerkschaften ("Stellvertreterstreik") zu schützen, indem sie eine Umgehungsmöglichkeit unterbindet. Dieses Ziel, das von der Sache her allein als rechtfertigender Grund für den Eingriff in Betracht kommt, ist legitim. Vorkehrungen gegen mögliche Umgehungen einer Norm darf der Gesetzgeber treffen.


BVerfGE 92, 365 (404):

Der Eingriff wäre aber unverhältnismäßig. Die Gewerkschaft könnte sich bei der Meinungsbildung über Tarifforderungen nicht mehr unbefangen verhalten. Schon bei Diskussionen unter Mitgliedern und in Unterorganisationen müßte bedacht werden, daß sich aus ihnen Anhaltspunkte für eine Interpretation des Verhaltens im Sinne von § 116 Abs. 3 Satz 2 AFG ergeben können. Entscheidungen, die der abschließenden Willensbildung vorgelagert sind, wären mit der Verantwortung belastet, als Grundlage für die gesetzliche Forderungsfiktion genommen zu werden. Die Zuständigkeit des Organs, das die abschließende Entscheidung zu treffen und vor den Mitgliedern zu verantworten hat, würde überspielt. Insgesamt würde die Rücksichtnahme auf unbeabsichtigte Folgen freimütiger Beiträge zur endgültigen Meinungsbildung diese selbst auch sachlich beeinflussen.
Schon die bisherige Entwicklung gibt keinen Anlaß, zum Schutz einer ausgewogenen Kampfstärke der Arbeitgeberseite in so schwerwiegender Weise in die Tarifautonomie der Gewerkschaften einzugreifen. Daß die Beschwerdeführerin in der Vergangenheit aus taktischen Gründen Forderungen zurückgehalten hätte, um das Gesetz zu umgehen, ist nicht vorgetragen und auch nicht erkennbar. Auch das frühere Recht hätte dazu Anlaß bieten können; denn nach der Neutralitätsanordnung kam es ebenfalls auf die Unterschiede zwischen den Tarifforderungen in den verschiedenen Tarifbezirken an. Daß die Beschwerdeführerin gleichwohl ihre Forderungen stets offengelegt hat, beruht erkennbar auf den Sachgesetzlichkeiten, denen sie bei den von ihr geführten Tarifauseinandersetzungen unterliegt. Nach § 1 der Schlichtungs- und Schiedsvereinbarung für die Metallindustrie vom 14. Dezember 1979 ist die Gewerkschaft verpflichtet, ihre Forderungen für den Neuabschluß des Tarifvertrages dem Arbeitgeberverband spätestens vier Wochen vor Ablauf des Tarifvertrages zu übermitteln. Geschieht das nicht, verlängert sich nach § 3 Abs. 2 der Vereinbarung die Friedenspflicht. Die Sorge, daß sie in Zukunft ihre internen Willensbildungsprozesse hinsichtlich von Tarifforderungen in nicht umkämpften Bezirken mit dem Ziel einer Umgehung des § 116 Abs. 3 Satz 1 AFG manipulieren könnte, erscheint deshalb wenig begründet. Die Vertreter der Arbeitgeberseite haben dazu auch nichts Näheres

BVerfGE 92, 365 (405):

vorgetragen. Soweit danach überhaupt ein Schutzbedürfnis der Arbeitgeber besteht, ist es jedenfalls nicht so schwerwiegend, daß dadurch der Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Gewerkschaften gerechtfertigt wäre.
b) Aus denselben Gründen ist auch die von den Arbeitgeberverbänden vorgetragene Auslegung des § 116 Abs. 3 Satz 2 AFG mit Art. 9 Abs. 3 GG nicht vereinbar. Danach soll die Gleichheit der Hauptforderungen nur der Feststellung dienen, daß das Arbeitskampfergebnis aller Voraussicht nach in den nicht umkämpften Bezirken übernommen wird; dem Verhalten der Gewerkschaft komme in diesem Zusammenhang Indizwirkung zu (vgl. Löwisch, in: Festschrift für Stahlhacke, 1995, S. 332 ff.). Wie weit diese Auslegung noch mit Wortlaut und Sinn des Gesetzes im Einklang steht, braucht nicht erörtert zu werden. Jedenfalls wäre aber der Eingriff in die Tarifautonomie der Gewerkschaften, der sich bei dieser Auslegung ergibt, nicht geringer als bei der zuvor erörterten. Auch nach dieser Auffassung würde das Ergebnis eines nicht abgeschlossenen Willensbildungsprozesses vorweggenommen.
III.
Die Neuregelung des § 116 Abs. 3 Satz 1 AFG verletzt Art. 14 Abs. 1 GG nicht. Soweit sie in eigentumsrechtlich geschützte Positionen eingreifen sollte, wäre der Eingriff gerechtfertigt.
1. Die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG umfaßt auch sozialversicherungsrechtliche Positionen, die nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger als privatnützig zugeordnet sind; diese genießen Eigentumsschutz, wenn sie auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Versicherten beruhen und der Sicherung seiner Existenz dienen (vgl. BVerfGE 53, 257 [289 ff.]; 72, 9 [18 f.]; 74, 9 [25]; 74, 203 [213]). Darunter fallen Ansprüche auf Arbeitslosengeld jedenfalls dann, wenn der Arbeitnehmer durch Zahlung von Beiträgen während der gesetzlichen Wartefrist die volle Anwartschaft darauf erworben hat (BVerfGE 72, 9 [18 f.]).
Ob darüber hinausgehende Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung in den Schutzbereich der Eigentumsgewährleistung fallen,

BVerfGE 92, 365 (406):

ist fraglich und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch nicht geklärt. Zweifelhaft ist vor allem, ob das Kurzarbeitergeld, um das es im Anwendungsbereich des § 116 Abs. 3 Satz 1 AFG hauptsächlich geht, dem Versicherten privatnützig zugeordnet ist. Es beruht zwar ebenfalls auf Eigenleistungen der Versicherten und dient ihrer Existenzsicherung bei Lohnausfall wegen Kurzarbeit. Anders als beim Arbeitslosengeld ist aber die Erfüllung einer Wartezeit nicht erforderlich. Außerdem soll die Zahlung von Kurzarbeitergeld vor allem auch den von Kurzarbeit betroffenen Betrieben die eingearbeiteten Arbeitnehmer erhalten. Der Anspruch auf Kurzarbeitergeld entsteht daher nicht automatisch bei absehbar kurzfristiger Beschäftigungslosigkeit. Vielmehr ist er an eine Anzeige des Arbeitsausfalles geknüpft, die nicht durch den Arbeitnehmer, sondern nur durch den Arbeitgeber oder die Betriebsvertretung erstattet werden kann (§ 72 Abs. 1 AFG). Obwohl beitragsfinanziert, ist das Kurzarbeitergeld eine Arbeitgeber und Arbeitnehmer begünstigende Leistung des Solidarausgleichs.
2. Die Frage, inwieweit Ansprüche auf Kurzarbeitergeld dennoch eigentumsrechtlich geschützte Rechtspositionen sein können, braucht hier nicht abschließend entschieden zu werden. Selbst wenn man dies annimmt, greift die angegriffene Regelung nicht in verfassungswidriger Weise in diese Position ein.
Ob das Gesetz die frühere Rechtslage zu Lasten der Versicherten verschlechtert und damit möglicherweise in den geschützten Bestand versicherungsrechtlicher Positionen eingreift oder nur klarstellt, was bereits die Fassung des Gesetzes von 1969 bewirken sollte, braucht ebenfalls nicht entschieden zu werden. Denn die von den Antragstellern geltend gemachte Minderung der Versichertenrechte ist durch das vom Gesetzgeber angestrebte Ziel gerechtfertigt.
§ 116 Abs. 3 Satz 1 AFG soll der Sicherung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen dienen. Dieses Ziel ist legitim. Die tatsächlichen Annahmen, auf denen die Besorgnis des Gesetzgebers beruht, die Neutralität sei bei Zahlung von Kurzarbeitergeld nicht mehr gewahrt, sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Auch insoweit kann auf die Ausführungen zu Art. 9 Abs. 3 GG verwiesen werden.


BVerfGE 92, 365 (407):

Die Regelung ist auch geeignet, die Neutralität der Bundesanstalt bei Arbeitskämpfen mit Fernwirkungen zu gewährleisten. Der Partizipationsgedanke ermöglicht eine Abgrenzung der Leistungsempfänger nach Kriterien, die an diesem Ziel ausgerichtet sind. Ein gleich wirksames Mittel, das weniger weitgehend in die versicherungsrechtlichen Positionen der Arbeitnehmer eingreift, ist nicht ersichtlich.
Der Eingriff wäre auch nicht unverhältnismäßig im engeren Sinne. Zum einen ist die Position, in die eingegriffen würde, den Versicherten allenfalls in geringfügigem Umfang als privatnützig zugeordnet. Außerdem bewirkt die Regelung in der Praxis, daß die Gewerkschaften - und möglicherweise auch die Arbeitgeber - bestrebt sind, bei Arbeitskämpfen so vorzugehen, daß Kurzarbeit in anderen Bezirken vermieden wird. Überdies würde nur in Rechtspositionen solcher Arbeitnehmer eingegriffen, bei denen erwartet werden kann, daß sie am Erfolg des Arbeitskampfes teilhaben werden.
Auf der anderen Seite ist die Wahrung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit ein wichtiges Anliegen, dem der Gesetzgeber gegenüber diesen Rechtspositionen den Vorrang einräumen durfte.
IV.
Die Regelung verletzt nicht den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Sie führt zwar bei streikbedingten Arbeitsausfällen zu einer Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer aus nicht umkämpften Bezirken derselben Branche gegenüber den Arbeitnehmern in anderen Branchen. Doch ist diese Ungleichbehandlung sachlich gerechtfertigt.
1. Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Der unterschiedlichen Weite des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums entspricht eine abgestufte Kontrolldichte bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung (vgl. BVerfGE 88,

BVerfGE 92, 365 (408):

87 [96 ff.]). Danach gilt hier ein relativ strenger Maßstab. Die angegriffene Regelung führt zu einer erheblichen Ungleichbehandlung von Personengruppen, deren Mitglieder die ungleichen Rechtsfolgen faktisch nicht vermeiden können.
2. Die Begrenzung der Ruhensregelung auf Arbeitnehmer derselben Branche ist hiernach sachgerecht. Sie beruht auf der auch im Regierungsentwurf zum Ausdruck gekommenen unbestrittenen Annahme, daß außerhalb der Fachbereichsgrenze andere Tarifvertragsparteien eigenständige Tarifziele verfolgen. Der Gesetzgeber konnte mit guten Gründen davon ausgehen, daß Arbeitskämpfe weder mit dem Ziel noch mit dem absehbaren Ergebnis geführt werden, daß der Abschluß auf die Arbeitnehmer anderer Fachbereiche übertragen wird. Zutreffend wird dazu im Regierungsentwurf ausgeführt, daß nur im Rahmen desselben Fachbereichs durch Gewährung von Leistungen überhaupt in den Arbeitskampf eingegriffen werden kann (BTDrucks. 10/4989).
Die Abgrenzung nach Fachbereichen oder Branchen entspricht einem überkommenen Ordnungsprinzip der Koalitionen. Deren Tarifzuständigkeit richtet sich nach Satzungen, die regelmäßig auf Branchen abstellen (Industrieverbandsprinzip). Praktisch alle Tarifverträge unterscheiden nach persönlichem und fachlichem Geltungsbereich. Die Arbeitsrechtsordnung knüpft vielfach an den Geltungsbereich von Tarifverträgen an, so zum Beispiel in § 622 Abs. 4 Satz 2 BGB oder in § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG.
Die zur Prüfung gestellte Regelung dient dazu, den Einfluß von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung auf Arbeitskämpfe im Interesse einer Erhaltung der Parität der Tarifvertragspartner zu neutralisieren. Sie orientiert sich dabei am Partizipationsgedanken. Daß dieses Prinzip ein sachgerechtes Zuordnungskriterium im vorliegenden Zusammenhang darstellt, ist bereits dargelegt worden. An den Ergebnissen des Arbeitskampfes in einem anderen Bezirk partizipieren vor allem die Angehörigen derselben Branche. Einmal verhandeln bei Tarifauseinandersetzungen in den unterschiedlichen Bezirken derselben Branche praktisch dieselben Partner. Außerdem sind die Rahmenbedingungen für das Aushandeln von Löhnen in aller Regel und von anderen Arbeitsbedingungen weit

BVerfGE 92, 365 (409):

gehend gleich. Durch einheitliche Abschlüsse werden auch regionale Wettbewerbsverzerrungen vermieden, was im Interesse beider Tarifvertragsparteien liegt.
Zwischen den verschiedenen Branchen gibt es hingegen sehr viel weniger Übereinstimmungen. Nur von der allgemeinen Konjunkturlage werden meist alle Branchen in annähernd gleicher Weise betroffen. Daher kommt bestimmten Tarifabschlüssen am Beginn einer Periode von Tarifauseinandersetzungen häufig eine gewisse Pilotfunktion zu. Ein solches branchenübergreifendes Signal, das von einem Tarifabschluß ausgeht, ist aber schwächer als ein Pilotabschluß in derselben Branche und in seinen Auswirkungen rechtlich kaum faßbar.
3. § 116 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 AFG verstößt auch in anderer Hinsicht nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
Es ist nicht zu beanstanden, daß die mittelbar von einem Arbeitskampf betroffenen Arbeitnehmer außerhalb des umkämpften Bezirks belastet werden, obwohl sie am Ergebnis des Arbeitskampfes nicht mit Sicherheit teilhaben. Voraussetzung für das Ruhen der Versicherungsansprüche ist, daß das Arbeitskampfergebnis den betroffenen Arbeitnehmern aller Voraussicht nach zugute kommt. Diese Prognose wird von dem Neutralitätsausschuß getroffen, der aus Vertretern der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber sowie dem Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit zusammengesetzt ist (§ 206 a Abs. 1 AFG). Sie ist zudem gerichtlich überprüfbar. Damit hat der Gesetzgeber hinreichend dafür vorgesorgt, daß am Arbeitskampf nicht beteiligte Arbeitnehmer nur dann nachteilig betroffen werden, wenn ihnen die Vorteile der Tarifauseinandersetzung zugute kommen.
V.
Die Regelung steht auch mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) im Einklang. Sie ist weder unklar noch bürdet sie der Bundesanstalt für Arbeit wertende Entscheidungen in einem mit diesem Prinzip nicht mehr zu vereinbarenden Umfang auf. Zwar ist sie auslegungsbedürftig; sie läßt aber in Verbindung mit den Geset

BVerfGE 92, 365 (410):

zesmaterialien hinreichend deutlich erkennen, was gemeint ist und woran die anwendende Stelle sich zu orientieren hat. Das wird durch die inzwischen ergangene Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 4. Oktober 1994 (NZA 1995, S. 320) bestätigt.
VI.
Die Regelung der Klagebefugnis in § 116 Abs. 6 AFG verstößt nicht gegen die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG.
1. Bindungswirkung gegenüber Dritten beigemessen wird, läßt eine Verletzung dieser Garantie von vornherein nicht erkennen. Rechtsschutzmöglichkeiten Dritter könnten allenfalls dann eingeschränkt sein, wenn eine Bindungswirkung ihnen gegenüber bestünde. Soweit sie nicht an die Entscheidung des Bundessozialgerichts gebunden sind, bleibt es ihnen unbenommen, die Entscheidung des Neutralitätsausschusses inzident mit den gesetzlich gegebenen Klagemöglichkeiten überprüfen zu lassen.
2. Ebensowenig wird Art. 19 Abs. 4 GG dadurch verletzt, daß gegen die Entscheidung des Neutralitätsausschusses nur das Bundessozialgericht in erster und letzter Instanz angerufen werden kann.
a) Weder Art. 19 Abs. 4 GG noch das allgemeine Rechtsstaatsprinzip gewährleisten einen Instanzenzug (BVerfGE 87, 48 [61] m.w.N.; st. Rspr.). Den obersten Gerichtshöfen des Bundes können in begrenztem Umfang erstinstanzliche Zuständigkeiten übertragen werden. Aus Art. 95 Abs. 1 GG folgt zwar, daß sie grundsätzlich als höchste Rechtsmittelgerichte innerhalb eines Gerichtszweiges gedacht sind. Der Gesetzgeber darf ihnen aber die alleinige Kompetenz zur Überprüfung von Verwaltungsakten oberster Bundesbehörden übertragen, die von überregionaler oder allgemeiner grundsätzlicher Bedeutung sind oder einer raschen endgültigen Klärung bedürfen (vgl. BVerfGE 8, 174 [177, 181]).
b) Daran gemessen ist die Rüge unbegründet. Für den Neutralitätsausschuß kann nichts anderes gelten als für oberste Bundesbehörden. Er ist die allein zuständige Verwaltungsinstanz für die

BVerfGE 92, 365 (411):

Entscheidungen nach § 116 Abs. 3 AFG. Seine Beschlüsse unterliegen keiner Überprüfung im Verwaltungsverfahren. Sie sind von überregionaler und allgemeiner Bedeutung und betreffen Fragen, die wegen des laufenden Arbeitskampfes einer besonders raschen Klärung bedürfen.
3. Es ist auch nicht erkennbar, daß die Regelung die Arbeitgeber bevorzugt, soweit diese nur regional organisiert sind. Der Begriff Fachspitzenverbände braucht nicht technisch in dem Sinne ausgelegt zu werden, den ihm die Beschwerdeführerin beimißt. Von der Sache her liegt es zudem nahe, auch Dachverbände einzubeziehen, soweit es bundesweit organisierte Fachverbände im engeren Sinne nicht gibt. In diesem Sinne hat das Bundessozialgericht die Vorschrift im übrigen inzwischen ausgelegt (NZA 1995, S. 320 [323]).
Henschel, Seidl, Grimm, Söllner, Kühling, Seibert, Jaeger, Haas