BVerfGE 96, 223 - Plutoniumhandel |
Beschluß |
des Zweiten Senats vom 8. Juli 1997 |
– 2 BvE 1/97 – |
in dem Verfahren über die Anträge I. festzustellen, daß der Beschluß des 1. Untersuchungsausschusses des 13. Deutschen Bundestages vom 15. Januar 1997 zu Nummer 2 der Ausschußdrucksache 259 gegen Artikel 44 des Grundgesetzes verstößt, II. im Wege der einstweiligen Anordnung festzustellen, daß der Untersuchungsausschuß verpflichtet ist, bis zur Entscheidung in der Hauptsache die Beweisaufnahme unverzüglich zunächst durch Terminierung der Vernehmungen der Zeugen Liesmann, Bohl und Dr. Kohl fortzusetzen, Antragsteller: 1. Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag, Bundeshaus, Bonn, 2. MdB Hermann Bachmaier, MdB Hans-Peter Kemper, MdB Erika Simm, MdB Ute Vogt, Bundeshaus, Bonn – Bevollmächtigter: Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio, Theodor-Körner-Straße 8a, Pullach – Antragsgegner: 1. 1. Untersuchungsausschuß des 13. Deutschen Bundestages, vertreten durch den Vorsitzenden Dr. Gerhard Friedrich, Bundeshaus, Bonn, 2. Deutscher Bundestag, vertreten durch seine Präsidentin, Bundeshaus, Bonn – Bevollmächtigter: Prof. Dr. Wolfgang Löwer, Adenauerallee 44, Bonn – hier: Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung. |
Entscheidungsformel: |
Die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung werden abgelehnt. |
Gründe: |
Den Anträgen auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung liegt als Hauptsache ein Organstreit zugrunde. Er betrifft den Beschluß des 1. Untersuchungsausschusses des 13. Deutschen Bundestags vom 15. Januar 1997, vor der Vernehmung weiterer Zeugen zunächst den Entwurf eines Berichts (§23 IPA-Regeln) zu erstellen.
|
A. – I. |
Der 13. Deutsche Bundestag setzte im Mai 1995 einen Untersuchungsausschuß ein, der Fragen des illegalen Handels mit Nuklearmaterial untersuchen und insbesondere die Vorgänge aufklären soll, die im August 1994 zur Einfuhr von atomwaffenfähigem Plutonium in das Bundesgebiet geführt haben. In diesem sog. "Münchener Plutonium Fall" war der Verdacht aufgekommen, der Bundesnachrichtendienst (BND) habe von dem Plutonium-Schmuggel nicht nur gewußt, sondern ihn durch Scheinaufkäufer eingefädelt und trotz der mit dem Transport in einer Linienmaschine verbundenen Gefahren nicht abgebrochen. Der Ausschuß soll unter anderem klären, ob und in welcher Weise Bundesbehörden an der Vorbereitung und Durchführung von Scheinverhandlungen über den Ankauf des Nuklearmaterials sowie seines Transports nach München beteiligt waren und wann Mitglieder der Bundesregierung über diese Umstände informiert wurden.
|
Der Untersuchungsausschuß wurde auf der Grundlage einer Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung eingesetzt. Die Beschlußempfehlung gibt den Untersuchungsauftrag wieder, auf den sich die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. geeinigt haben. Ursprünglich hatten diese Fraktionen drei getrennte Einsetzungsanträge gestellt: Der Einsetzungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 24. April 1995 hatte den illegalen Handel mit Nuklearmaterial und eine etwaige Verwicklung von Bundesbehörden in den Transport vom Sommer 1994 zum Gegenstand. Am 25. April 1995 war der Antrag der Antragstellerin zu 1. gefolgt, der stärker auf den "Komplex München" zentriert war. Die Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. hatten gemeinsam unter dem Datum des 26. April 1995 die Einsetzung eines Ausschusses beantragt, der sich auch mit dem "Komplex München" beschäftigen sollte, den Schwerpunkt aber auf eine Sachstands- und Gesetzgebungs-Enquête mit dem Schwerpunkt "Bekämpfung des illegalen Plutoniumhandels" legte. Alle drei Anträge waren mit dem Zusatz "und Fraktion" von den jeweiligen Fraktionsvorsitzenden unterzeichnet. |
Dem Verfahren des Untersuchungsausschusses sind die Regeln zugrundegelegt worden, die von den Mitgliedern der Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft im Entwurf eines Gesetzes über Einsetzung und Verfahren von Untersuchungsausschüssen formuliert worden sind (sog. IPA-Regeln, BTDrucks V/4209). Der Ausschuß hat bisher etwa 60 Personen angehört; die Anhörung weiterer etwa 70 Zeugen und Sachverständigen ist bereits beschlossen. Hierzu gehören Bundeskanzler Dr. Kohl, Kanzleramtsminister Bohl und der BND-Mitarbeiter Liesmann, deren Vernehmung vom Ausschuß im Juni 1995 einstimmig beschlossen wurde.
|
In der 63. Sitzung des Untersuchungsausschusses am 15. Januar 1997 wurden zum Tagesordnungspunkt "Planung der weiteren Zeugen- und Sachverständigenvernehmungen" folgende Anträge gestellt:
|
Die Abgeordneten der SPD-Fraktion, die Antragsteller zu 2., beantragten, am 20. Februar 1997 die Zeugen Bohl und Liesmann sowie am 27. Februar 1997 den Zeugen Dr. Kohl zu vernehmen.
|
Die Abgeordneten der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. stellten den Antrag: "Es wird der Entwurf eines Berichts (§23 IPA-Regeln) erstellt, der zusätzlich eine Aussage darüber enthält, ob und gegebenenfalls welche Fragen des Untersuchungsauftrags die Fortsetzung der Beweisaufnahme erforderlich machen. Nach Beratung dieses Entwurfs entscheidet der Ausschuß, wie weiter zu verfahren ist (z.B. Vorlage ans Plenum als Zwischenbericht, Vorlage ans Plenum als Schlußbericht, Fortsetzung der Beweisaufnahme)." Der Antrag war wie folgt begründet: "... In den vergangenen knapp 20 Monaten hat eine Vielzahl von Ausschußsitzungen stattgefunden. Über 60 Personen sind bisher angehört worden. Umfangreiche Akten sind als Beweismittel durchgesehen worden. Der Untersuchungsausschuß muß sich deshalb darauf vorbereiten, dem Bundestag und damit der Öffentlichkeit einen Bericht über die Erkenntnisse des Ausschusses zu geben. Selbstverständlich sollen notwendige Beweiserhebungen nicht unterbleiben." Für die Dauer der Erstellung des Berichtsentwurfs sollte die Vernehmung von Zeugen ausgesetzt sein. |
Der Ausschußvorsitzende wies darauf hin, daß der Terminierungsantrag der Vertreter der SPD-Fraktion als abgelehnt gelte, wenn der Antrag, einen Berichtsentwurf zu erstellen, angenommen werde. In der anschließenden Abstimmung wurde der Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. mit den Stimmen der ihnen angehörenden Abgeordneten angenommen. Von der zuvor terminierten Anhörung des Staatsministers Schmidbauer im Januar 1997 abgesehen, haben seither keine Zeugenvernehmungen stattgefunden.
|
II. |
1. Die Antragsteller wenden sich mit ihren Organklagen gegen den Beschluß des Untersuchungsausschusses vom 15. Januar 1997. Sie meinen, daß er die laufende Beweisaufnahme in verfassungswidriger Weise aussetze. Verletzt seien die Minderheitsrechte beider Antragsteller aus Art.44 Abs.1 GG, das Recht der Antragstellerin zu 1. auf wirksame Ausübung der Opposition sowie die Rechte des Bundestags aus Art.44 Abs.1 GG.
|
Der angegriffene Beschluß gefährde die effektive Erfüllung des Untersuchungsauftrags. Es bestehe die Gefahr, daß es zu einer "zeitlichen Enge" komme, die den ordnungsgemäßen Abschluß des Untersuchungsverfahrens unmöglich mache, weil der Ausschuß am Ende der Legislaturperiode der Diskontinuität verfalle, also nur einen begrenzten Zeitraum zur Erledigung seines Auftrags habe. Damit wäre die erfolgreiche Erledigung des Untersuchungsauftrags vereitelt.
|
2. Die Antragsteller beantragen, im Wege einer einstweiligen An ordnung festzustellen, daß der Untersuchungsausschuß verpflichtet sei, bis zur Entscheidung in der Hauptsache die Beweisaufnahme unverzüglich zunächst durch Terminierung der Vernehmungen der Zeugen Dr. Kohl, Bohl und Liesmann fortzusetzen. |
Sie halten den Erlaß einer einstweiligen Anordnung für erforderlich, weil die Hauptsacheentscheidung voraussichtlich zu spät ergehen werde, um das Untersuchungsverfahren anschließend geordnet fortsetzen zu können. Die Folgen wären auch für das System der parlamentarischen Demokratie gravierend. Wenn das Verhalten der Ausschußmehrheit durch Zeitablauf sanktionslos bliebe, würde ein enormer Anreiz geschaffen, mit gleichen oder ähnlichen Mehrheitsbeschlüssen politisch unbequeme Kontrollenquêten zu blockieren.
|
Die bei Erlaß der begehrten Anordnung für die Antragsgegner eintretenden Folgen hätten dagegen kaum nennenswertes Gewicht. Da der Untersuchungsausschuß bereits beschlossen habe, die Zeugen Dr. Kohl, Bohl und Liesmann zu vernehmen und keine sachlichen Gründe gegen eine Terminierung sprächen, griffe das Bundesverfassungsgericht nicht in das Verfahrensermessen des Ausschusses ein, wenn es eine Pflicht zur Terminierung der Vernehmungen feststellte.
|
III. |
1. a) Die Antragsgegner halten die Hauptsacheanträge mangels Antragsbefugnis für unzulässig. Die Antragsteller könnten keine Minderheitsrechte aus Art.44 GG geltend machen, weil es sich bei ihnen nicht um eine Einsetzungsminderheit im Sinne des Art.44 Abs.1 Satz 1, 2. Alt. GG und deren Vertreter im Untersuchungsausschuß handele. Der vom Fraktionsvorsitzenden mit dem Hinweis "und Fraktion" gezeichnete Einsetzungsantrag der Antragstellerin zu 1. stelle sich der äußeren Form nach als Antrag nach §76 GOBT dar, über den das Plenum durch gewöhnlichen Mehrheitsbeschluß entscheide. Mit der Annahme eines solchen Antrags komme keine Minderheitssondern eine Mehrheitsenquête zustande.
|
Soweit der Bundestag Anträge der großen Fraktionen in der Vergangenheit als Einsetzungsverlangen eines Viertels der Mitglieder gemäß Art.44 Abs.1 Satz 1 GG angesehen habe, handele es sich um einen Parlamentsbrauch contra constitutionem, über den es inzwischen keinen Konsens mehr gebe. |
Der Plutonium-Untersuchungsausschuß stelle sich auch deswegen als Mehrheitsenquête dar, weil der Bundestag über die Einsetzung nicht im Hinblick auf ein Einsetzungsverlangen der Antragstellerin zu 1., sondern auf der Grundlage eines interfraktionell vereinbarten Antrags entschieden habe.
|
b) Jedenfalls seien die Anträge unbegründet, denn der angegriffene Beschluß des Untersuchungsausschusses verletze etwaige Minderheitsrechte der Antragsteller nicht. Die Beweisaufnahme sei nicht abgebrochen, sondern nur für die Dauer der Anfertigung des Berichtsentwurfs unterbrochen worden, und auch nur, was die Anhörung von Zeugen betreffe. Die Unterbrechung gefährde die Durchführung des Ausschußauftrags nicht. Die Erstellung des Berichtsentwurfs verhalte sich in zeitlicher Hinsicht "neutral". Da die Arbeit für den Schlußbericht ohnehin angefallen wäre, verschiebe sich das Ende der Untersuchung nicht. Der Berichtsentwurf werde voraussichtlich im Frühherbst vorliegen und in der ersten für solche Zwecke greifbaren Sitzungswoche nach der Sommerpause des Bundestags behandelt werden können.
|
2. a) Die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung seien unzulässig, weil mit dieser die Hauptsache vorweggenommen werden würde. Der Untersuchungsausschuß solle verpflichtet werden, entsprechend dem Terminierungsantrag der Antragsteller zu 2. vom 15. Januar 1997 zu verfahren. Die Antragsteller wollten mithin im Anordnungsverfahren erreichen, was für sie im Ausschuß nicht erreichbar gewesen sei.
|
Die Beweisaufnahme könne auch nicht parallel neben der Erstellung des Berichtsentwurfs fortgesetzt werden. Die Vorbereitung von Zeugenvernehmungen sei für das Ausschußsekretariat jeweils mit erheblicher Arbeit verbunden, so daß die Fertigstellung des Berichtsentwurfs sich für die Zeitdauer der Vorbereitungen von Beweisaufnahmen erheblich verzögern würde.
|
b) Im übrigen seien die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung unbegründet, weil die Folgenabwägung nicht dazu führe, daß eine vorläufige Regelung dringend geboten sei. Im Hinblick auf die für den Frühherbst angekündigte Fertigstellung des Berichtsentwurfs könnten die Antragsteller abwarten, wie der Ausschuß dann über ihre (erneut zu stellenden) Terminierungsanträge entscheiden werde. |
B. |
Die begehrte einstweilige Anordnung kann derzeit nicht ergehen.
|
I. |
Nach §32 Abs.1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln. Dabei müssen die Gründe, welche für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme sprechen, außer Betracht bleiben; es sei denn, die Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder doch offensichtlich unbegründet. Voraussetzung des Ergehens einer einstweiligen Anordnung ist nach §32 Abs.1 BVerfGG aber stets, daß dies "zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist".
|
Der Erlaß einer einstweiligen Anordnung im Organstreitverfahren bedeutet einen Eingriff des Gerichts in die Autonomie eines Staatsorgans. Er kann allein der vorläufigen Sicherung des strittigen organschaftlichen Rechts der Antragsteller dienen, damit es nicht im Zeitraum bis zur Entscheidung in der Hauptsache durch Schaffung vollendeter Tatsachen überspielt werde (vgl. BVerfGE 89, 38 [44]).
|
II. |
Ob und inwieweit die Anträge in der Hauptsache zulässig und begründet sind, bedarf keiner ins einzelne gehenden Prüfung; sie sind jedenfalls nicht von vornherein unzulässig und nicht offensichtlich unbegründet. Im Hauptsacheverfahren wird unter anderem zu prüfen sein, ob der Antrag einer Fraktion auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses als Verlangen eines Viertels der Mitglieder des Bundestags im Sinne von Art.44 Abs.1 Satz 1 GG angesehen wer den kann, und inwieweit Minderheitsrechte auch dann erhalten bleiben, wenn der Antrag zusammen mit anderen Anträgen in veränderter Fassung von der Mehrheit des Bundestags beschlossen wird. Im Hauptsacheverfahren wird ferner zu prüfen sein, ob und unter welchen Voraussetzungen eine längerfristige Aussetzung einer beschlossenen Zeugeneinvernahme und eine etwa dadurch bedingte Verzögerung des Untersuchungsverfahrens geeignet sind, die Wirksamkeit der parlamentarischen Kontrolle in verfassungsrechtlich unvereinbarer Weise zu gefährden (vgl. BVerfGE 49, 70 [86 f.]). |
III. |
Derzeit besteht für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung schon kein dringender Regelungsbedarf. Es ist nicht ersichtlich, daß die ordnungsgemäße Durchführung des Untersuchungsauftrags ohne Erlaß der begehrten einstweiligen Anordnung bereits unmittelbar gefährdet wäre. Zwar wächst die Gefahr, die einer Untersuchung durch Verzögerungen droht, generell in dem Maße, in dem sich das Ende der Wahlperiode nähert. Aufgrund der Mitteilung der Antragsgegner, nach dem Stand der Vorarbeiten werde der Berichtsentwurf am Ende der Sommerpause erstellt sein, geht der Senat aber davon aus, daß der Ausschuß bis spätestens Ende September über die Fortsetzung der Beweisaufnahme entscheiden wird. Der Zeitverlust, der entsteht, wenn der Ausschuß sich für eine Einvernahme weiterer Zeugen im September entschließt und dementsprechend Termine festsetzt, ist im Verhältnis zur verbleibenden Zeit der Wahlperiode zu gering, als daß damit das im Organstreit geltend gemachte Recht überspielt werden könnte.
|
Unberücksichtigt bleiben muß die Besorgnis der Antragsteller, ohne Erlaß einer einstweiligen Anordnung werde ein Anreiz geschaffen, politisch unbequeme Kontrollenquêten auszuschalten. Der Gefahr von Präzedenzwirkungen kann durch die Entscheidung in der Hauptsache begegnet werden (vgl. BVerfGE 80, 74 [81]). Die Befürchtung der Antragsteller, der Ausschuß werde nach Beratung des Berichtsentwurfs beschließen, auf die Anhörung weiterer Zeu gen zu verzichten, zielt auf lediglich mögliche, keineswegs aber feststehende künftige Maßnahmen ab, die derzeit nicht beurteilt werden können. |
(gez.) Limbach Graßhof Kruis Kirchhof Winter Sommer Jentsch Hassemer |